Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Bielau gg Österreich, Urteil vom 27.8.2024, Bsw. 20007/22.
Art 10 EMRK - Besondere Sorgfaltspflicht von Ärzt*innen bei der Verbreitung von medizinischen Inhalten im Internet.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art 10 EMRK (6:1 Stimmen).
Begründung:
Sachverhalt:
Beim Bf handelt es sich um einen Arzt für Allgemeinmedizin in der Steiermark, der auch eine Website für »Ganzheitsmedizin« unterhält. Der Bf führt dort an, eine Praxis für Selbstheilung und Homöopathie zu betreiben sowie Autor und Sachverständiger für Impfungen und Impfschäden zu sein. Auf seiner Website veröffentlichte er nach dem Tod eines ungeimpften Mädchens an den Folgen eines Zeckenbisses unter anderem einen Artikel über das Impfen, in dem er kritisierte, dass die Darstellung in den Medien dazu führte, dass Menschen, die sich zuvor nicht impfen ließen, aufgrund von Ängsten wegen dieses Vorfalls sich nun doch Impfungen verabreichen lassen würden. Seiner Ansicht nach würden chemische Impfungen jedoch niemals vor Krankheiten schützen und es sei keine einzige Krankheit durch Impfungen verschwunden.
Der Disziplinarrat der Österreichischen Ärztekammer (im Folgenden: ÖÄK) erkannte den Bf nach einer mündlichen Verhandlung des Disziplinarvergehens nach § 136 Abs 1 Z 1 und 2 ÄrzteG (Anm: Bundesgesetz über die Ausübung des ärztlichen Berufes und die Standesvertretung der Ärzte, BGBl I 169/1998 idgF.) für schuldig, weil er in dem von ihm veröffentlichten Artikel über Impfungen die Existenz pathogener Viren leugnete und behauptete, dass Impfungen keinen Schutz vor Krankheiten bieten würden und die Natur keine Krankheiten kenne. Gestützt auf ein Gutachten eines Universitätsprofessors und bekannten Immunologen kam der Disziplinarrat zur Ansicht, dass diese Äußerungen dem Stand der Wissenschaft widersprechen würden. Vom Disziplinarrat der ÖÄK wurden dem Bf eine Geldbuße iHv € 2.000,– auf Bewährung (ein Jahr) und die Kosten des Disziplinarverfahrens iHv € 1.500,– auferlegt. (Anm: § 139 Abs 1 und 3 ÄrzteG (Disziplinarstrafen).)
Die vom Bf unter Berufung auf sein Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit erhobene Beschwerde an das LVwG Steiermark wurde mit der Begründung abgewiesen, die Äußerungen des Bf seien mit den von der WHO festgestellten medizinischen Tatsachen, den beiden übereinstimmenden Gutachten, den anwendbaren nationalen Bestimmungen und der Rsp des VwGH nicht in Einklang zu bringen. Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit von Ärzt*innen könnten dem Schutz der Gesundheit dienen, denn Patient*innen müssten darauf vertrauen können, dass Ärzt*innen ihre Berufspflichten einhalten. Derartige, wissenschaftlich nicht haltbare Veröffentlichungen bzw Äußerungen würden die Vertrauenswürdigkeit von Ärzt*innen gefährden. In weiterer Folge lehnte der VfGH die Behandlung der Beschwerde des Bf ab. (Anm: VfGH 18.6.2019, E 389/2019.) Der mit der Beschwerde befasste VwGH stellte fest, dass die aus der Disziplinarstrafe resultierende Beschränkung des Rechts des Bf auf Meinungsäußerungsfreiheit nicht als unverhältnismäßig zu qualifizieren sei. (Anm: VwGH 28.10.2021, Ra 2019/09/0140, NLMR 2021, 573.)
Rechtsausführungen:
Der Bf behauptete wegen der gegen ihn verhängten Disziplinarstrafe eine Verletzung von Art 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).
Zulässigkeit
(23) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig ist. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 10 EMRK
(30) Der GH stellte fest, dass für die Beurteilung einer Verletzung der Rechte nach Art 10 EMRK zu prüfen ist, ob die beanstandete Maßnahme einen Eingriff in die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in Form einer »Formalität, Bedingung, Einschränkung oder Strafe« darstellte [...]. Ein derartiger Eingriff verstößt gegen die EMRK, wenn er die in Art 10 Abs 2 EMRK genannten Kriterien nicht erfüllt. [...]
(32) [Zu Debatten betreffend Fragen der öffentlichen Gesundheit] hatte der GH bereits ein Disziplinarverfahren zu prüfen, das gegen einen Arzt wegen angeblich unethischen Verhaltens eingeleitet worden war, weil dieser ein Gutachten verfasst hatte, in dem er sich kritisch über die Behandlung durch andere Ärzt*innen geäußert hatte. Der GH vertrat die Auffassung, dass Ärzt*innen eine besondere Beziehung zu ihren Patient*innen haben, die auf Vertrauen [...] beruht. Ärzt*innen setzen alle verfügbaren Kenntnisse und Mittel ein, um das Wohl der Patient*innen zu gewährleisten. Daraus könne sich die Notwendigkeit ergeben, die Solidarität unter den Mitgliedern des Berufsstandes zu wahren. Der GH vertrat ferner die Auffassung, dass eine strenge Auslegung des innerstaatlichen Rechts durch die Disziplinargerichte, wie sie in dieser Rechtssache vorgenommen wurde, iSd Verbots jeglicher kritischer Äußerung in der Ärzteschaft nicht mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung vereinbar ist.
Ein solcher Ansatz könnte Mediziner*innen davon abhalten, ihren Patient*innen objektive Informationen über ihren Gesundheitszustand und die erhaltene Behandlung zu vermitteln – dies könnte wiederum das eigentliche Ziel des Berufs gefährden, das darin besteht, die Gesundheit und das Leben der Patient*innen zu schützen [...].
(33) Unabhängig von etwaigen Disziplinarverfahren gegen Mediziner*innen hat der GH [in zahlreichen Entscheidungen] den Schutz der Gesundheit als legitimes Ziel für Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit angeführt. [...]
(37) [...] Die Disziplinarstrafe, die gegen den Bf wegen bestimmter Äußerungen auf seiner Website verhängt wurde, stellt einen Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung dar [...]. Zu prüfen ist, ob der beanstandete Eingriff gesetzlich vorgesehen war, ein legitimes Ziel verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft iSv Art 10 Abs 2 EMRK notwendig war.
Rechtmäßigkeit des Eingriffs
(38) Der GH stellt fest [...], dass sich die nationalen Gerichte bei der Aufrechterhaltung der gegen den Bf verhängten Disziplinarstrafe auf § 53 ÄrzteG iVm der Verordnung Arzt und Öffentlichkeit sowie auf die § 136 und § 139 ÄrzteG berufen haben [...]. Diese Bestimmungen waren in Anbetracht der in der Verordnung Arzt und Öffentlichkeit enthaltenen Definitionen hinreichend genau [...]. Die Rsp des VwGH, die vor und nach dem Fall des Bf ergangen ist, bestätigt die einheitliche Auslegung dieser Bestimmungen in ähnlichen Fällen [...]. Der GH stellt fest, dass diese Auslegung der einschlägigen Bestimmungen weder willkürlich noch offensichtlich unangemessen ist, und weist erneut darauf hin, dass die Auslegung des innerstaatlichen Rechts vorrangig die Sache der nationalen Behörden und insb der nationalen Gerichte ist [...]. Daraus folgt, dass der Eingriff »gesetzlich vorgesehen« iSd EMRK war.
Legitimität des mit dem Eingriff verfolgten Ziels
(39) Das mit der angefochtenen Maßnahme verfolgte Ziel bestand im Schutz der Gesundheit [...]. Es lag im Interesse der Allgemeinheit sowie der Ärzteschaft, sich bei der Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen von objektiven Erwägungen leiten zu lassen [...]. [...] Es ist unzweifelhaft, dass das Ziel der Maßnahme der »Schutz der Gesundheit« sowie der »Schutz der Rechte anderer« war, wie von Art 10 Abs 2 EMRK vorgesehen. [...] Der gegenständliche Eingriff [...] verfolgte sohin ein legitimes Ziel iSv Art 10 Abs 2 EMRK.
Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft
(41) Die nationalen Gerichte stellten fest [...], dass die auf der Website des Bf abrufbaren Informationen über Impfungen einseitig und negativ behaftet waren [...]. In einem Artikel erklärte der Bf bspw, dass »[w]as wir als Virus, buchstäblich als Gift, bezeichnen, ein Erreger verschiedener Krankheiten, eine Spekulation, eine Annahme, eine Vermutung ist, die völlig unbewiesen ist; bestenfalls eine Arbeitshypothese« und, dass »Krankheiten als böse Unfälle der Natur erscheinen.« Zudem behauptete der Bf, dass »chemische Impfungen niemals vor Krankheiten schützen« und dass »wir nicht durch Bakterien und Viren krank werden« [...]. Der GH stellt fest, dass es die innerstaatliche Praxis nicht generell verbietet, sich kritisch über Impfungen zu äußern, sondern vielmehr eine differenzierte Kritik verlangt, insb wenn die Äußerungen von Ärzt*innen stammen [...]. Im vorliegenden Fall waren die negativen Äußerungen des Bf jedoch als kategorisch zu qualifizieren [...].
(42) Der Bf war Arzt [...] und die auf seiner Website veröffentlichten Informationen entsprachen gemäß zwei verschiedenen Gutachten, die vom Disziplinarrat der ÖÄK und vom LVwG eingeholt wurden, nicht dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft, teilweise gar nicht der Vernunft [...].
(43) Die Äußerungen des Bf [...] waren aufgrund der Veröffentlichung auf seiner mit seiner ärztlichen Praxis in Verbindung stehenden Website für jedermann – insb auch für medizinische Laien – sehr leicht zugänglich, weshalb diese eine potenziell sehr große Wirkung entfalten konnten [...]. Der GH weist hier erneut darauf hin, dass das Internet angesichts seiner Zugänglichkeit und seiner Fähigkeit, große Mengen an Informationen zu speichern und zu übermitteln, eine wichtige Rolle dabei spielt, den Zugang der Öffentlichkeit zu Nachrichten zu verbessern und die Verbreitung von Informationen im Allgemeinen zu erleichtern. Jedoch ist auch auf die Gefahr einer Beeinträchtigung der Ausübung und des Genusses der Menschenrechte und Freiheiten durch Inhalte und Mitteilungen im Internet hinzuweisen [...]. Den Ärzt*innen [...] kommen besondere Pflichten zu – hier ist auf die besondere Beziehung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen, die auf Vertrauen, Diskretion und Zuversicht beruht, hinzuweisen.
Ärzt*innen sind angehalten, alle verfügbaren Kenntnisse und Mittel einzusetzen, um das Wohlergehen ihrer Patient*innen zu gewährleisten – dies impliziert auch die Notwendigkeit, die Solidarität unter den Mitgliedern des Berufsstandes zu wahren, sowie die Verpflichtung der Ärzt*innen, ihren Patient*innen objektive Informationen zum Gesundheitszustand und zur Behandlung zu vermitteln [...].
(44) Der GH hebt im Kontext rein negativer Informationen über Impfungen seine Feststellungen in der Rechtssache Vavřička ua/CZ hervor, in der sowohl die Bedeutung als auch die positiven Auswirkungen von Impfungen im Allgemeinen festgestellt wurden. Auch wurde auf die WHO Bezug genommen, der zufolge überwältigende Beweise die Vorteile von Impfungen als eine der erfolgreichsten und kosteneffektivsten bekannten Gesundheitsmaßnahmen belegen. In den vergangenen Jahrzehnten habe die Immunisierung viele Erfolge erzielt, wie etwa die Ausrottung der Pocken, die als einer der größten Triumphe der Menschheit bezeichnet worden sei. Impfstoffe haben zahlreiche Leben gerettet [...]. Von den internationalen Fachgremien [...] wurde nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Impfung eine der erfolgreichsten und kosteneffizientesten Gesundheitsmaßnahmen ist und dass jeder Staat eine möglichst hohe Durchimpfungsrate in seiner Bevölkerung anstreben sollte – davon sei auch der Wert der gesellschaftlichen Solidarität (Gesundheitsschutz) [...] abhängig. Die Vertragsstaaten sind [...] aufgrund der einschlägigen Konventionsbestimmungen (insb Art 2 und 8 EMRK) verpflichtet, geeignete Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Gesundheit [...] zu setzen.
Vor diesem Hintergrund ist hervorzuheben, dass praktizierende Ärzt*innen nach Art 10 EMRK das Recht auf freie Meinungsäußerung genießen und das Recht haben, an Debatten über Fragen der öffentlichen Gesundheit teilzunehmen und dabei auch kritische Meinungen und Minderheitenmeinungen zu äußern. Insb iVm dem ärztlichen Beruf ist die Ausübung dieses Rechts jedoch nicht schrankenlos gewährleistet. Aufgrund ihres Fachwissens im medizinischen Bereich und der professionellen Dienstleistungen, die Ärzt*innen im Interesse der öffentlichen Gesundheit anbieten, spielen sie eine Schlüsselrolle bei Debatten über die öffentliche Gesundheit. In Übereinstimmung mit ihren Pflichten und Verantwortlichkeiten gemäß Art 10 Abs 2 EMRK können ihnen berufliche Verpflichtungen auferlegt werden. Eine Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit von Ärzt*innen kann in Fällen kategorischer und unwahrer öffentlicher Informationen zu medizinischen Fragen erforderlich sein, insb bei Veröffentlichung derartiger Informationen auf einer Website, um die Gesundheit und das Wohlergehen anderer zu schützen [...]. Im vorliegenden Fall waren die Aussagen nicht nur kategorisch, sondern auch wissenschaftlich nicht verifizierbar. So steht zB die Aussage, dass »chemische Impfungen niemals vor Krankheiten schützen« [...], in direktem Widerspruch zu Informationen der WHO [...]. Aus der stRsp zu Art 10 EMRK [...] ergibt sich, dass bei Tatsachenbehauptungen der Wahrheitsbeweis verlangt werden kann [...]. Darüber hinaus stellt der GH fest, dass der Bf die beanstandeten Äußerungen auf seiner Website im Zusammenhang mit seiner Arztpraxis gemacht und damit eindeutig für seine Dienstleistungen geworben hat.
(45) Zur Art und Schwere der gegen den Bf verhängten Sanktion [...] stellt der GH fest, dass es sich um eine Disziplinarstrafe (und nicht um eine strafrechtliche Sanktion) in Form einer Geldbuße von € 2.000,– handelte. Dies ist ein Betrag, der nach Auffassung der nationalen Gerichte unter dem geschätzten durchschnittlichen Monatseinkommen von Ärzt*innen lag [...]. Dieser Betrag wurde von den nationalen Gerichten als ausreichend angesehen, um den Bf von künftigen disziplinarrechtlichen Verstößen abzuhalten. Der GH stellt zudem fest, dass der Betrag von € 2.000,– im Hinblick auf die mögliche Höhe der Geldbuße – die bis zu € 36.340,– betragen hätte können – sehr niedrig war [...]. [...] Außerdem wurde die Geldbuße für eine Probezeit von einem Jahr ausgesetzt [...]. [...] Die Disziplinarstrafe kann sohin [...] nicht als unverhältnismäßig angesehen werden.
Schlussfolgerung
(46) Die nationalen Gerichte [...] haben einen Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen der Allgemeinheit und der Meinungsäußerungsfreiheit des Bf, um die es in der vorliegenden Rechtssache geht, nachvollziehbar begründet. Die gegen den Bf verhängte Disziplinarstrafe in Form einer Geldstrafe auf Bewährung in relativ geringer Höhe, da dieser auf seiner Website im Zusammenhang mit seiner ärztlichen Tätigkeit wissenschaftlich unhaltbare Aussagen über die Unwirksamkeit von Impfstoffen gemacht hat, hat den Ermessensspielraum nicht überschritten, weshalb die angefochtene Maßnahme als »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« iSd Art 10 Abs 2 EMRK angesehen werden kann. [...]
(47) Es liegt folglich keine Verletzung von Art 10 EMRK vor (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Vehabović).
Vom GH zitierte Judikatur:
Lingens/AT, 8.7.1986, 9815/82 = EuGRZ 1986, 424
Wille/LI, 28.10.1999, 28396/95 (GK)
Vérités Santé Pratique SARL/FR, 1.12.2005, 74766/01
Frankowicz/PL, 16.12.2008, 53025/99
Delfi AS/EE, 16.6.2015, 64569/09 (GK) = NLMR 2015, 232
Vavřička ua/CZ, 8.4.2021, 47621/13 ua (GK) = NLMR 2021, 156
Sanchez/FR, 15.5.2023, 45581/15 (GK) = NLMR 2023, 267
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.8.2024, Bsw. 20007/22, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 345) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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