Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache M. A. ua gg Frankreich, Urteil vom 25.7.2024, Bsw. 63664/19.
Art 8 EMRK - Kriminalisierung des Kaufs sexueller Dienstleistungen.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Bei den Bf handelt es sich um 261 Frauen und Männer diverser Nationalitäten. Viele von ihnen stammen aus Entwicklungsländern. Vor dem GH gaben sie an, der Prostitution nachzugehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ihre Beschwerde wendet sich gegen die Kriminalisierung von sexuellen Dienstleistungen durch das Gesetz Nr 444/2016 vom 13.4.2016 zur verstärkten Bekämpfung der systematischen Prostitution und zur Begleitung von Prostituierten (im Folgenden: Gesetz Nr 444/2016), mit dem zwei neue Bestimmungen, nämlich die Art 611-1 und 225-12-1 (Anm: Art 611-1 sieht die Verhängung einer Geldstrafe bis maximal € 1.500,– für Personen vor, welche sexuelle Dienstleistungen von einer Prostituierten, mag sie auch nur gelegentlich dieser Tätigkeit nachgehen, begehren, akzeptieren oder erhalten. Gemäß Art 225-12-1 ist im Fall eines wiederholten Verstoßes gegen Art 611-1 eine Geldstrafe iHv € 3.750,– zu verhängen. Ferner ist mit drei Jahren Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe iHv € 45.000,– zu bestrafen, wer sexuelle Dienstleistungen von minderjährigen oder besonders verwundbaren Prostituierten in Anspruch nimmt.), in das Strafgesetz eingefügt wurden. Demnach macht sich jede erwachsene Person (Freier), die dem Kauf sexueller Dienstleistungen zustimmt, strafbar, nicht jedoch die Prostituierte selbst.
Die Bf legten dem GH Aussagen von 16 »Sexarbeiter*innen« (von denen neun den Bf angehören) vor, in denen detailliert über die Verschlechterung der Lebensbedingungen seit der Kriminalisierung sexueller Dienstleistungen berichtet wird. Demnach habe sich die Zahl der Kunden reduziert, was drastische Auswirkungen nicht nur auf die finanzielle Situation, sondern auch auf den Umgang mit diesen habe, sähen sich Prostituierte doch nun gezwungen, Sexualpraktiken zuzustimmen, in die sie vorher nicht eingewilligt hätten. Da sie nun Wünsche etwa auf Weglassen eines Präservativs vermehrt berücksichtigen müssten, hätten sie regelmäßig mit sexuell übertragbaren Krankheiten zu kämpfen. Immer wieder wären sie Opfer von Brutalität, dies auch, weil sie um Kunden nicht auf der Straße, sondern über das Internet werben müssten. All dies habe bei vielen von ihnen zu psychischem Leid geführt, einige von ihnen seien sogar selbstmordgefährdet.
Am 1.6.2018 beantragten mehrere NGOs, darunter die »Gewerkschaft für Sexarbeit« und fünf Individuen, darunter vier der Bf, beim Premierminister erfolglos die Aufhebung des Gesetzesdekrets Nr 1709/2016 vom 12.12.2016 betreffend die Bewusstseinsbildung rund um die Bekämpfung sexueller Dienstleistungen, welches im Anschluss an das Gesetz Nr 444/2016 erlassen worden war. Sie riefen daraufhin den Conseil d’État an und ersuchten ihn um Befassung des französischen Verfassungsrats mit der Frage, ob die Bestrafung sexueller Dienstleistungen mit den in der französischen Verfassung verankerten Rechten vereinbar sei.
Am 1.2.2019 kam Letzterer zu dem Ergebnis, dass die Art 225-12-1 und 611-1 des Strafgesetzes nicht gegen das Selbstbestimmungsrecht verstoßen würden. Zu Art 8 EMRK führte er aus, dass die Prostitution mit der Menschenwürde unvereinbar sei, da sie auf Zwang beruhe. Der Gesetzgeber sei mit sehr großer Mehrheit davon ausgegangen, dass Prostituierte Opfer von Zuhälterei und Menschenhandel seien. Möge es auch um einvernehmlichen Sex gehen, könnten die strittigen Bestimmungen angesichts ihres im öffentlichen Interesse liegenden Ziels nicht als exzessiver Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens angesehen werden.
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten Verletzungen von Art 2 (Recht auf Leben), Art 3 (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).
Zum Vorbringen der Bf
(73) Laut den Bf würde das französische Recht, welches sexuelle Dienstleistungen sogar bei Erwachsenen unter Strafe stelle, wenn sie diese einvernehmlich an einem privaten Ort in Anspruch nähmen, die physische und psychische Integrität und Gesundheit von Individuen ernsthaft gefährden, die – wie sie – der Prostitution nachgehen würden. Dadurch werde ihr Recht auf Achtung des Privatlebens, welches das Recht auf persönliche Selbstbestimmung und sexuelle Freiheit umfasse, massiv eingeschränkt. [...]
(75) [...] Der GH hält es für angemessen, die von den Bf angeprangerten Tatsachen unter Art 8 EMRK zu prüfen. [...]
(77) Die Bf legen dar, das strittige Gesetz beruhe auf einer absichtlichen Verwechslung der Zwangsprostitution und der Kinderprostitution auf der einen Seite und den freiwilligen Aktivitäten von Sexarbeiter*innen auf der anderen Seite. Sie würden keineswegs die dringliche Notwendigkeit der Bekämpfung der Zwangsprostitution in Frage stellen, jedoch wären sie der Ansicht, dass derartige Ziele bereits ohne das strittige Gesetz verfolgt werden könnten. [...]
Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK
Zur Existenz eines Eingriffs
(136) Laut den Bf schaffe die in allgemeinen und absoluten Worten gefasste Pönalisierung sexueller Dienstleistungen eine Situation, die zu Handlungen im Verborgenen und zur Isolierung führe. Sie seien dadurch Gewalttätigkeiten und vermehrt gesundheitlichen Risiken ausgesetzt, was ihre Freiheit beeinträchtige, die Modalitäten rund um ihr Privatleben zu bestimmen [...].
(138) Der GH hat bereits in seiner Zulässigkeitsentscheidung zum vorliegenden Fall (Rz 43) festgehalten, dass die strittigen Maßnahmen eine Situation geschaffen haben, von deren Auswirkungen die Bf unmittelbar betroffen sind. Er ist daher der Ansicht, dass die Kriminalisierung von sexuellen Dienstleistungen einen Eingriff in das Recht der Bf auf Achtung ihres Privatlebens wie auch in ihre Rechte auf persönliche Selbstbestimmung und auf sexuelle Freiheit darstellt.
Zur Rechtmäßigkeit des Eingriffs
(139) Unter den Parteien ist unstrittig, dass der Eingriff auf einer Rechtsgrundlage – nämlich den Art 611-1 und 225-12-1 des Strafgesetzes – beruhte, die mit dem Gesetz Nr 444/2016 eingeführt wurden.
Zur Rechtmäßigkeit der gesetzlich verfolgten Ziele
(140) Was die Frage der legitimen Ziele iSv Art 8 Abs 2 EMRK angeht, verfolgt die Kriminalisierung von sexuellen Dienstleistungen der Regierung zufolge [...] die Ziele der Aufrechterhaltung der Ordnung und der öffentlichen Sicherheit, der Verhinderung von Straftaten wie auch des Schutzes der Gesundheit und der Rechte anderer. Die angefochtenen Maßnahmen hätten die Bekämpfung von Menschenhandel zum Ziel [...]. Diese würden auch [...] das Prinzip der Unveräußerlichkeit des menschlichen Körpers bekräftigen und der Bekämpfung der Frauen zugefügten Ungleichheit bzw Gewalt dienen.
(141) In der Beschwerdesache V. T./FR, Rz 24, hob der GH hervor, dass Frankreich sich beim gesetzlichen Regelwerk betreffend Prostitution für einen »abolitionistischen« Ansatz entschieden hatte und es unter den 25 Mitgliedstaaten rangiere, die das UN-Übereinkommen zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer vom 2.12.1949 ratifiziert hätten, laut deren Präambel die Prostitution »unvereinbar mit der Würde und dem Wert der menschlichen Person« sei. Der GH möchte anmerken, dass sich das Gesetz Nr 444/2016 vom 13.4.2016 [...] in den Rahmen dieser vom französischen Staat bereits seit langer Zeit verfolgten Politik einfügt und es vom »Schwedischen Modell« – in jüngster Zeit »Nordisches Modell« genannt – inspiriert wurde. Dessen Hauptziel ist die Bekämpfung der Prostitution durch Bremsung der Nachfrage, durch die sich Prostitutionsringe und Menschenhandelsnetzwerke am Leben erhalten. Aus den anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen wie auch der Entscheidung des Verfassungsgerichts, welcher der Conseil d’État folgte, geht zudem hervor, dass der französische Gesetzgeber, indem er sich dazu entschied, sexuelle Dienstleistungen unter Strafe zu stellen, die Zuhälterei ihrer Ertragsquellen berauben und derartige Aktivitäten bzw Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung sowie auf Zwang und Unterwerfung von Personen beruhende kriminelle Aktivitäten unterbinden wollte. Im Vordergrund standen auch die Gewährleistung der Menschenwürde gegen derartige Formen der Unterwerfung und die Bewahrung des in der französischen Verfassung verankerten Ziels der Sicherstellung der öffentlichen Ordnung und der Verhinderung von Straftaten.
(142) Der GH hat bereits unterstrichen, dass die Prostitution mit den Rechten und der Würde der menschlichen Person unvereinbar ist, wenn sie auf Zwang beruht (vgl V. T./FR, Rz 25). Er hat auch wiederholt die Bedeutung der Bekämpfung von Prostitutionsringen und von Menschenhandelsnetzwerken sowie die Verpflichtung der Konventionsstaaten hervorgehoben, deren Opfern Schutz zu gewähren (vgl Rantsev/CY und RU, Rz 283–288).
(143) Die Bf stellen die Wichtigkeit der von der Regierung genannten Ziele nicht in Abrede, machen aber geltend, dass die Kriminalisierung jeglicher sexuellen Dienstleistung durch das Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung bzw der Bekämpfung des Menschenhandels insoweit nicht gerechtfertigt sei, als es um »Dienstleistungen« unter anderem an privaten Orten gehe, die aus freien Stücken angeboten würden. Der GH nimmt zur Kenntnis, dass dieses Vorbringen auf die Frage der Notwendigkeit bzw der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs abzielt.
(144) Unter diesen Umständen akzeptiert der GH, dass es sich bei den von den strittigen Maßnahmen verfolgten Zielen in der Form, wie sie von der Regierung angeführt wurden (vgl Rz 140), um legitime Ziele iSv Art 8 Abs 2 EMRK handelt.
(145) Bleibt zu prüfen, ob ein angemessenes Verhältnis zwischen den vorgenannten legitimen Zielen und den von den französischen Behörden verwendeten Mitteln bestand.
Zur Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft
(146) Die Parteien [...] sind sich darin einig, dass freiwillig eingegangene Beziehungen dem von Art 8 EMRK geschützten Privatleben bzw der persönlichen Selbstbestimmung unterfallen. Im Mittelpunkt der Debatten unter den Parteien stehen folglich der Ermessensspielraum, über den der Staat auf diesem Gebiet verfügt, und die negativen und unverhältnismäßigen Konsequenzen, welche die gegenständlichen Maßnahmen für die Bf haben können. Auf exakt diese Basis wird der GH seine Untersuchung stützen.
Zum Ermessensspielraum des belangten Staats
(149) Der GH hatte bereits Gelegenheit zur Feststellung, dass die mit der Prostitution verbundenen Probleme sehr sensible ethische und moralische Fragen aufwerfen, die zu oft miteinander in Konflikt stehenden divergierenden Meinungen führen können, vor allem was die Frage angeht, ob in die Prostitution aus freien Stücken eingewilligt werden kann oder ob sie vielmehr stets eine auf Zwang beruhende Ausbeutung darstellt (vgl S. M./HR, Rz 298). [...] Demzufolge habe sich Frankreich wie gewisse andere Mitgliedstaaten für einen »abolitionistischen« Ansatz betreffend die Prostitution entschieden [...] [vgl Rz 141]. In anderen Mitgliedstaaten sei das gesetzliche Regelwerk betreffend Prostitution hingegen »prohibitionistisch« (die Prostitution als solche ist verboten, weshalb die Prostituierten – ebenso wie gegebenenfalls ihre Kunden – bestraft werden) oder »reglementarisch« (prostitutionelle Aktivitäten, darunter die Ausbeutung von volljährigen Erwachsenen, werden toleriert und kontrolliert).
Der GH leitete daraus ab, dass bemerkenswerte Unterschiede von einem Rechtssystem zum anderen bestünden, was den Umgang mit der Prostitution betreffe (vgl V. T./FR, Rz 24–25).
(150) Was den vorliegenden Fall angeht, hat sich die Situation seit den zitierten Urteilen kaum geändert, da weder unter den Mitgliedstaaten des Europarats noch innerhalb von mit der Frage befassten verschiedenen internationalen Organisationen eine gemeinsame Sichtweise betreffend den bestmöglichen Umgang mit der Prostitution besteht. Von einem strikt normativen Blickwinkel her gesehen befindet sich Frankreich sicherlich in einer großen Minderheitenposition in Europa: Abgesehen von Schweden, Norwegen, Irland, Island und teilweise vom Vereinigten Königreich (Nordirland) hat sich bis dato kein weiterer Mitgliedstaat des Europarats für das »Nordische Modell« entschieden, welches auf der Kriminalisierung von sexuellen Dienstleistungen basiert. Der GH will aber nicht aus den Augen verlieren, dass es sich dabei um relativ kürzlich erfolgte Reformen handelt und dass diese Frage in anderen Mitgliedstaaten nach wie vor diskutiert wird [...], von denen einige sogar die Bestrafung von Prostituierten planen.
(151) Die Bf stellen die Verbindung zwischen der Prostitution und dem Menschenhandel in Frage, da keine verlässlichen Daten bezüglich des Nachweises einer solchen Wechselbeziehung bestünden.
(152) Der GH möchte dazu festhalten, dass die generelle und absolute Kriminalisierung von sexuellen Dienstleistungen als Instrument der Bekämpfung des Menschenhandels aktuell Gegenstand von lebhaften Debatten ist, die tiefgreifende Divergenzen sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene offenbaren, ohne dass sich daraus eine klare Tendenz [für und wider] ablesen ließe. [...]
(153) Unter diesen Umständen muss dem belangten Staat auf diesem Gebiet ein weiter Ermessensspielraum zuerkannt werden. Dieser ist freilich nicht unbegrenzt. Es ist Aufgabe des GH, […] zu überprüfen, ob der Gesetzgeber [...] ein gerechtes Gleichgewicht zwischen den Interessen des Staats und jenen der von den fraglichen Lösungen direkt betroffenen Individuen hergestellt hat.
Zur Verhältnismäßigkeit des Eingriffs
(154) Dem GH […] sind die Schwierigkeiten und – unleugbaren – Risiken voll bewusst, denen Prostituierte bei der Ausübung ihrer Aktivitäten ausgesetzt sind […]. [...]
(155) Der GH will nicht aus den Augen verlieren, dass dieses Phänomen bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes Nr 444/2016 vom 13.4.2016 präsent und beobachtet worden war. Dieselben negativen Effekte wären laut den Drittbeteiligten bereits dem Delikt des »Kundenfangs« nach seiner Einführung in das französische Recht zugeschrieben worden. Obwohl die Anwendung des vorzitierten Gesetzes Gegenstand einer anhaltenden Überprüfung [...] sowohl durch staatliche Behörden als auch durch NGOs war, besteht keine Einhelligkeit betreffend die Frage, ob die von den Bf beschriebenen negativen Effekte direkten Anlass zu den [umstrittenen] Maßnahmen (Kriminalisierung der Inanspruchnahme von sexuellen Dienstleistungen) gaben oder dem Phänomen der Prostitution inhärent sind, sind sie doch das Resultat eines ganzen Bündels von sozialen Faktoren und Verhaltenspraktiken [...].
(156) Der GH hat bereits in Erinnerung gerufen, dass Frankreich zu jenen Staaten zählt, die bei der Prostitution für einen »abolitionistischen« Ansatz optiert haben. Demnach werden alle Prostituierte als Opfer betrachtet – und zwar auch dann, wenn sie in diese Tätigkeit eingewilligt haben. In der Angelegenheit V. T./FR vermerkte der GH, dass die Frage, ob der Prostitution freiwillig zugestimmt werden könne oder ob sie stets auf Zwang beruhe, ganz zu schweigen von den sozioökonomischen Gründen dafür, umstritten sei. Er entschied sich daher, nicht in die Debatte einzutreten, deren Ausgang er für seine Analyse im zitierten Fall nicht für entscheidend hielt. Für den GH besteht kein Anlass, von diesem Ansatz im vorliegenden Fall abzurücken.
(157) Laut den Bf berühre die Möglichkeit für jede Person, sich aus freien Stücken für die Prostitution und einvernehmlichen Sex unter Erwachsenen zu entscheiden, Elemente, die in den Kernbereich des Privatlebens fallen und daher zusätzlichen Schutz verdienen würden, was den Ermessensspielraum des Staats in diesem Bereich schmälern würde. Der GH will keineswegs verkennen, dass das Prinzip der persönlichen Autonomie das Recht auf freie Wahl einschließt, was die Modalitäten der Ausübung der Sexualität angeht und dass es sich hierbei um einen wesentlichen Aspekt der Identität von Individuen handelt. Dennoch ist er von diesem Vorbringen nicht überzeugt [...], da die Bf sich im Wesentlichen über die Unmöglichkeit als Folge der Verabschiedung des strittigen Gesetzes, sich der Prostitution in der Eigenschaft als Berufsausübende zu widmen, beklagen und in dieser Hinsicht auf Beispiele aus anderen Ländern verweisen, welche die Prostitution wie jede andere x-beliebige wirtschaftliche Aktivität handhaben.
(158) Der GH erinnert daran, dass sich die Kriminalisierung von sexuellen Dienstleistungen im Rahmen eines globalen Gefüges des Kampfes [...] gegen die Prostitution abspielt. Das Gesetz Nr 444/2016 vom 13.4.2016 wurde nach einem langen und komplexen legislativen Prozess angenommen, dem [...] parlamentarische Debatten zu dem Thema vorausgingen und der Teil von allgemeineren Diskussionen über verschiedene Methoden war, die man für die Bekämpfung von Gewalttätigkeiten gegen Frauen einsetzen könnte. [...] Die Berichte [der zur Begutachtung des Gesetzesentwurfs einberufenen zwei Ausschüsse] geben Zeugnis von den existierenden unterschiedlichen Sichtweisen und Positionen auf diesem Gebiet, insb was die Frage der Kriminalisierung von sexuellen Dienstleistungen angeht. Vor allem geht daraus hervor, dass das Phänomen der Prostitution mehrseitig, vielschichtig und in Entwicklung ist und bis zum heutigen Tag keine der von anderen Staaten praktizierten öffentlichen Politiken widerspruchsfrei blieb.
Im Bewusstsein um diese Schwierigkeiten und Divergenzen traf der französische Gesetzgeber nach aufmerksamer Prüfung aller kulturellen, sozialen, politischen und rechtlichen Fragen durch das Parlament [...] schließlich eine Entscheidung über die Handhabung eines eminent komplexen sowie moralisch und ethisch sehr sensible Fragen aufwerfenden Phänomens.
(159) Der GH muss daher im Zuge der Ausübung seiner Kontrolle betreffend die Vereinbarkeit [von nationalen Gesetzen] mit der Konvention Vorsicht an den Tag legen, wenn diese zur Einschätzung einer Abwägung führt, die im Wege demokratischer Modalitäten innerhalb der fraglichen Gesellschaft getroffen wurde. Er erinnert daran, dass – wenn es um allgemeine Praktiken geht, über die in einem demokratischen Staat naturgemäß tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten bestehen können – der Rolle des nationalen Gesetzgebers bedeutendes Gewicht zugeschrieben werden muss. Dies gilt umso mehr, wenn es sich hierbei um ein gesellschaftliches Problem handelt. Der GH möchte auch betonen, dass er sich nicht an die Stelle der zuständigen nationalen Behörden bei der Entscheidung über die Frage setzen kann, welches die geeignetste Politik zur Regelung der Prostitution ist. Vielmehr muss er prüfen, ob die französischen Behörden im Zuge der im gegenständlichen Fall vorgenommenen Interessenabwägung im Rahmen des weiten Ermessensspielraums blieben, den sie auf diesem Gebiet genießen.
(160) Im vorliegenden Fall wurden die von den Bf geäußerten Bedenken, vor allem was die gesundheitlichen Risiken und die Sicherheit anging, weitgehend im Zuge der parlamentarischen Debatten in Betracht gezogen und fanden auch Eingang in mehrere Verbesserungen des Gesetzesentwurfs insb während seiner Prüfung durch den französischen Senat. Die soziale und gesundheitliche Situation von Prostituierten war auch Gegenstand einer Prüfung durch die öffentlichen Behörden vor der Ablieferung des gegenständlichen Gesetzesentwurfs. Die strittigen Maßnahmen rund um die Kriminalisierung von sexuellen Dienstleistungen im Rahmen eines gesetzlichen Regelwerks gründeten sich offenkundig auf vier Hauptachsen, nämlich [i] die Streichung jeglicher rechtlicher Bestimmungen, die zu Prostitution ermuntern könnten, ohne sie jedoch zu untersagen, [ii] die Bereitstellung eines Schutzes für Prostituierte, insb die Untersagung der sexuellen Ausbeutung anderer, [iii] die Verhinderung des Eintritts in die Prostitution und [iv] schließlich die Hilfe zur Wiedereingliederung von Prostituierten, welche ihren Aktivitäten nicht weiter nachgehen wollen.
(161) Der GH möchte im Übrigen hervorheben, dass [...] sich die Parteien und die Drittbeteiligten über den positiven Effekt der Beseitigung des Delikts des vom alten Art 225-10-1 des französischen Strafgesetzes geahndeten »Kundenfangs« und die daraus resultierende Entkriminalisierung von Prostituierten einig sind. Diese Maßnahme hatte die Bekämpfung der sozialen Stigmatisierung [...] der Prostitution wie auch die Verstärkung des Zugangs von Prostituierten zu ihren Rechten und zu allen für sie zur Verfügung stehenden Schutzmaßnahmen zum Ziel. In Kombination mit der Bestrafung von sexuellen Dienstleistungen trug diese Maßnahme [...] zur Umkehrung des Kräfteverhältnisses zwischen den Kunden und den Prostituierten bei, indem sie als Opfer wahrgenommen wurden und es ihnen gestattet wurde, den Kunden im Fall von Gewalthandlungen anzuzeigen [...]. In dieser Hinsicht ist zu vermerken, dass dasselbe Gesetz Personen, die sich – wenn auch nur gelegentlich – der Prostitution widmen, in die Liste verwundbarer Personen aufgenommen hat, was die Verhängung von Sanktionen im Fall von Gewalt, sexuellen Aggressionen oder Vergewaltigung leichter macht. Ganz allgemein darf festgehalten werden, dass der Kampf gegen Stigmatisierung und Stereotype, deren Opfer Prostituierte auch seitens der Polizei sind, ein wichtiges Element zum Zeitpunkt der Ausarbeitung des strittigen Gesetzes darstellte und als Voraussetzung für den besseren Zugang von Prostituierten zu Schutzmaßnahmen vor allem dann angesehen wurde, wenn sie Gewalt erfuhren.
(162) Im Übrigen sah dasselbe Gesetz – neben Maßnahmen [...] zum Ausstieg aus der Prostitution – die Verstärkung öffentlicher Politiken im Bereich der Reduktion von gesundheitlichen Risiken zugunsten von allen Prostituierten vor. [...] So wurden etwa Geldmittel bereitgestellt, um den Zugang von Prostituierten, die weiterhin ihren Aktivitäten nachgehen wollen, zu ihren Rechten und zu umfassender Gesundheitsvorsorge zu begünstigen und sie nicht in der Isolation zu lassen.
(163) Was den generellen und absoluten Charakter der Kriminalisierung von sexuellen Dienstleistungen angeht, ist seitens des GH darauf hinzuweisen, dass diese Maßnahme auch als Mittel zur Bekämpfung von Kinderprostitution – ein besorgniserregendes und in stetigem Anstieg befindliches Phänomen – angesehen wurde. In der Tat ist dem von der »Vertretung für die Rechte der Frauen und die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen« vorgelegten Informationsbericht [für das französische Parlament] zu entnehmen, dass Aktionen der Ordnungskräfte in diesem Bereich oft mit der Schwierigkeit zu kämpfen haben, beweisen zu können, dass der Kunde Kenntnis von der Minderjährigkeit der Prostituierten hatte. Aus den parlamentarischen Arbeiten geht hervor, dass es sich dabei um ein Ziel handelte, dem die Behörden viel Gewicht beimaßen. Das strittige Gesetz beschränkte sich nicht auf die Bekämpfung von Menschenhandel, indem es die Nachfrage an sexuellen Diensten unterband, sondern sah gleichzeitig auch ein Maßnahmenpaket im Wege von insb in Schulen durchgeführten Sensibilisierungskampagnen vor, um zu verhindern, dass Personen sich dazu entschieden, einer Tätigkeit als Prostituierte nachzugehen.
(164) Schließlich sieht der von Frankreich eingenommene abolitionistische Ansatz die Ausmerzung der Prostitution Schritt für Schritt vor, indem den Prostituierten Alternativen angeboten werden, ohne diese Praxis zu verbieten. Der Regierung zufolge ist die Prostitution in Frankreich auch nicht verboten und bleibt dort erlaubt und toleriert. Unter diesen Umständen ist der GH nicht überzeugt vom Vorbringen der Bf, wonach die Beibehaltung des Status als »unabhängige Arbeiterin« im Hinblick auf Personen, die weiterhin der Prostitution nachgehen, über den der GH bereits im Fall V. T./FR abgesprochen hat, den Zusammenhalt des vom Gesetz Nr 444/2016 vom 13.4.2016 bereitgestellten globalen Rahmens in Frage stellen würde.
(165) Der GH verliert keineswegs das Vorbringen der Bf hinsichtlich der Ungenügendheit der den verschiedenen öffentlichen Behörden zugewiesenen Ressourcen aus den Augen, deren Aufgabe es ist, die im Gesetz Nr 444/2016 vom 13.4.2016 vorgesehenen Maßnahmen anzuwenden. Ferner wird auch der Mangel an Einheitlichkeit beanstandet, was den Vollzug dieser Maßnahmen auf dem gesamten Staatsgebiet angeht. Dennoch ist der GH der Ansicht, dass diese Erwägungen, deren Bedeutung und Gewicht im Rahmen seiner Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme keineswegs vernachlässigt werden sollen, nicht ausreichend sind, um die vom französischen Gesetzgeber am Ende des demokratischen Prozesses getroffene Wahl in Frage zu stellen – dies auch angesichts der verfolgten legitimen Ziele, insb wenn diese Entscheidung weitreichende gesellschaftliche Änderungen anstrebte, deren Auswirkungen erst im Lauf der Zeit voll zur Geltung kommen konnten. Der GH möchte hervorheben, dass sich die Behörden dieser Ungenügendheiten durchaus bewusst sind, deren Fortbestehen das gesamte gesetzliche Regelwerk aufs Spiel setzen könnte.
(166) Mit Blick auf die Gesamtheit der vorhergehenden Erwägungen kommt der GH zu dem Ergebnis, dass die französischen Behörden angesichts des aktuellen Stands der Entwicklungen, was die Behandlung der von der Prostitution aufgeworfenen Fragen durch das innerstaatliche Recht betrifft, eine gerechte Abwägung zwischen den miteinander konkurrierenden Interessen getroffen haben. Der belangte Staat hat daher [im vorliegenden Fall] seinen Ermessensspielraum [...] nicht überschritten. Eine Verletzung von Art 8 EMRK hat folglich nicht stattgefunden (einstimmig).
(167) Ungeachtet dessen sind die nationalen Behörden verpflichtet, den von ihnen eingenommenen Ansatz einer konstanten Überprüfung zu unterwerfen, insb insoweit dieser auf ein generelles und absolutes Verbot von sexuellen Dienstleistungen abstellt. Auf diese Weise besteht für sie die Möglichkeit, den strittigen Ansatz auf Entwicklungen in der europäischen Gesellschaft und von völkerrechtlichen Normen auf diesem Gebiet abzustimmen und diesen gegebenenfalls an konkrete Auswirkungen der Umsetzung der einschlägigen Gesetze anzupassen.
Vom GH zitierte Judikatur:
K. A. und A. D./BE, 17.2.2005, 42758/98 ua = NL 2005, 30
V. T./FR, 11.9.20o7, 37194/02
Rantsev/CY und RU, 7.1.2010, 25965/04 = NLMR 2010, 20
S. M./HR, 25.6.2020, 60561/14 = NLMR 2020, 192
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.7.2024, Bsw. 63664/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 324) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
Rückverweise
Keine Verweise gefunden