Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Hanovs gg Lettland, Urteil vom 25.7.2024, Bsw. 40861/22.
Art 3, 8, 13, 14 EMRK - Außerachtlassen des Motivs als Verharmlosung und Duldung von Hassverbrechen durch die Behörden.
Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).
Verletzung von Art 3 und Art 8 iVm Art 14 EMRK vor (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf war gemeinsam mit seinem Partner und seinem Hund spazieren, als ein Mann die beiden anschrie und dabei beleidigende und homophobe Schimpfwörter verwendete. Der Mann versuchte, die beiden zu schlagen. Der Bf flüchtete in ein nahegelegenes Geschäft, sein Partner rief die Polizei. Die Polizei machte daraufhin den Täter ausfindig.
Gegen ihn wurde ein Verwaltungsstrafverfahren wegen öffentlicher Ruhestörung eingeleitet. Der Täter gab zu, den Bf und dessen Partner, die sich beim Spaziergang gegenseitig an der Taille festgehalten hatten, zunächst verbal zur Rede gestellt und dann physisch verletzt zu haben, denn er wollte die aus seiner Sicht inakzeptable öffentliche Zurschaustellung ihrer Zuneigung unterbinden. Das Strafverfahren endete mit einer Einstellung, da keine Elemente einer Straftat vorgelegen seien. Gegen den Täter wurde eine Verwaltungsstrafe iHv € 70,– verhängt, da der Tatbestand des § 11 Abs 1 Verwaltungsstrafgesetz erfüllt war (geringfügige öffentliche Ruhestörung).
Der Bf erhob Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung, da es sich seiner Meinung nach beim Angriff des Täters um ein »Hassverbrechen« iSd § 150 Strafgesetzbuch handle. Seitens der Staatsanwaltschaft wurde festgestellt, dass es sich »nur« um einen Angriff gegen den Bf gehandelt habe und dieser nicht gegen sexuelle Minderheiten im Allgemeinen gerichtet gewesen sei und nicht zum Hass gegen andere aufgestachelt habe – diese Elemente wären für die Feststellung eines Hassverbrechens jedoch notwendig. Daraufhin kam es zur Einstellung des Strafverfahrens. Diese Entscheidung wurde von den übergeordneten Instanzen bestätigt.
Rechtsausführungen:
Der Bf brachte vor, dass es die nationalen Behörden unterlassen hätten, den gegen ihn verübten homophoben Angriff wie von Art 3 (hier: Verbot der erniedrigenden Behandlung) und Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) sowie Art 13 (Recht auf eine wirksame Beschwerde) und 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) geboten wirksam zu untersuchen und zu verfolgen.
Zur behaupteten Verletzung von Art 3 und 8 EMRK allein und iVm Art 13 und 14 EMRK
Zulässigkeit
(32) Der GH ruft in Erinnerung, dass in Fällen, in denen der Bf glaubhaft macht, Opfer von verbalen Angriffen und körperlichen Bedrohungen geworden zu sein, die durch diskriminierende Einstellungen motiviert sind, nur wirksame strafrechtliche Mechanismen einen angemessenen Schutz gewährleisten und als Abschreckung dienen können [...]. Ein zivilrechtlicher Rechtsbehelf, der bloß zu einer Entschädigung, jedoch nicht zur strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen führt, ist nicht ausreichend, damit der Staat seiner verfahrensrechtlichen Untersuchungspflicht solcher Handlungen nachkommt [...].
(33) Die Wirksamkeit einer staatlichen Untersuchung ist stets [...] als Ganzes und nicht im Hinblick auf einzelne Elemente zu beurteilen [...]. [...]
(34) Der GH ist davon überzeugt, dass der Bf das Vorbringen in Bezug auf die Diskriminierung bereits im innerstaatlichen Verfahren geltend machte [...].
(35) [...] Der GH kommt zur Feststellung, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig ist. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
(38) Der GH stellt klar, dass sich die Verpflichtung der innerstaatlichen Behörden zur Untersuchung von hassmotivierten Angriffen aus allen Bestimmungen der EMRK ergeben kann, auf die sich der Bf beruft [...]. Diese behördliche Verpflichtung, hassmotivierte Gewalt durch Privatpersonen zu verhindern und jeden möglichen Zusammenhang zwischen einem diskriminierenden Motiv und der Gewalttat zu untersuchen, kann unter den verfahrensrechtlichen Aspekt von fallen [...] oder sich als positive Verpflichtung aus ergeben [...]. Außerdem kann diese Verpflichtung der Behörden auch ein Teil des sein [...]. Auch aus kann die Verpflichtung, einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf für Opfer von Diskriminierung zur Verfügung zu stellen, abgeleitet werden [...]. [...]
(39) Der GH stellt zum Sachverhalt fest, dass der Täter gestanden hat, den Bf und seinen Partner, welche ihre Zuneigung öffentlich zeigten, angegriffen zu haben [...]. Der Täter habe sich durch die öffentliche Zuneigung der beiden beleidigt gefühlt, weshalb er sie zunächst verbal und dann physisch attackierte, um dem aus seiner Sicht inakzeptablen Verhalten ein Ende zu setzen. Der Täter bediente sich einer äußerst anstößigen, aggressiven Sprache und homophober Beleidigungen und drohte dem Bf mit weiterer Gewalt, falls die öffentliche Zurschaustellung der Zuneigung fortgesetzt werde [...].
(40) Der vorliegende Fall weist erhebliche Ähnlichkeiten mit früheren Entscheidungen auf, in denen die Bf verbal und körperlich angegriffen wurden, um sie davon abzuhalten, ihre Zugehörigkeit zur LGBTI-Gemeinschaft und ihre Unterstützung für diese öffentlich zu bekunden [...].
(41) Obwohl der Bf keine tatsächlichen Verletzungen erlitten hat [...], kann eine Androhung eines nach Art 3 EMRK verbotenen Verhaltens, sofern hinreichend konkret und unmittelbar, gegen diese Bestimmung verstoßen [...]. Zu den weiteren Faktoren gehören der Zweck, zu dem die Misshandlung erfolgt ist, sowie die Absicht oder Motivation dahinter. So kann eine diskriminierende Behandlung grundsätzlich als erniedrigende Behandlung iSv Art 3 EMRK qualifiziert werden, wenn sie einen solchen Schweregrad erreicht, dass sie eine Verletzung der Menschenwürde darstellt. Diskriminierende Äußerungen und rassistische Beleidigungen müssen als erschwerender Faktor beurteilt werden, wenn ein bestimmter Fall von Misshandlung im Lichte von Art 3 EMRK betrachtet wird [...].
(42) Das Ziel des verbalen und körperlichen Angriffs bestand offensichtlich darin, den Bf und seinen Partner einzuschüchtern, damit diese ihre Zuneigung nicht mehr öffentlich zum Ausdruck bringen [...]. Der GH ist der Ansicht, dass Angriffe auf LGBTI-Personen, die durch Ausdrucksformen der Zuneigung ausgelöst werden, eine Verletzung der Menschenwürde darstellen, da sie auf universelle Ausdrucksformen der Liebe und Gemeinschaft abzielen. Der Begriff der Würde geht über den bloßen persönlichen Stolz oder das Selbstwertgefühl hinaus und umfasst das Recht, die eigene Identität und Zuneigung ohne Angst vor Sanktionen oder Gewalt auszudrücken. Derartige Angriffe untergraben nicht nur die physische Sicherheit der Opfer, sondern auch ihr emotionales und psychisches Wohlbefinden, indem sie einen Moment der Intimität in einen der Angst und des Traumas verwandeln. Zudem erniedrigen und entwürdigen sie die Opfer, da ihnen eine Botschaft der Minderwertigkeit ihrer Identität und ihrer Ausdrucksformen vermittelt wird, weswegen der Anwendungsbereich des Art 3 EMRK eröffnet ist.
(43) Durch das Zeigen von Zuneigung motivierte Angriffe auf LGBTI-Personen stellen nicht nur einen Angriff auf die Menschenwürde dar, sondern beeinträchtigen auch deren Privatleben zutiefst. Die Angst und die Unsicherheit, die solche Taten hervorrufen, hindern die Opfer daran, grundlegende menschliche Gefühle offen auszudrücken, und zwingen sie zur Unsichtbarkeit und Ausgrenzung. Die Androhung von Gewalt beeinträchtigt ihre Fähigkeit, authentisch zu leben, und zwingt sie, wesentliche Aspekte des Privatlebens zu verbergen [...]. Folglich können solche Angriffe die Freiheit einschränken, das Recht auf Achtung des Privatlebens gemäß Art 8 EMRK ebenso frei zu genießen wie andersgeschlechtliche Paare [...].
(44) Der GH wird daher [...] die Vorbringen der Bf einer gleichzeitigen Prüfung nach Art 3 und Art 8 iVm Art 14 EMRK unterziehen [...]. Folglich ist es unnötig, eine Überprüfung auch unter dem Gesichtspunkt von Art 13 EMRK durchzuführen.
(45) Im Zusammenhang [...] mit Angriffen von Privatpersonen ist die Unterscheidung zwischen den Anforderungen des Art 3 und jenen des Art 8 EMRK nicht eindeutig. Beide verpflichten den Staat, die körperliche und psychische Unversehrtheit einer Person zu schützen [...]. In Zusammenschau mit Art 2 EMRK wird die Schutzpflicht des Staates ausgelöst [...]. In allen Fällen ist ein grundlegendes Element [...] die staatliche Pflicht, eine Untersuchung durchzuführen, die für die Ermittlung des Sachverhalts und die Identifizierung und ggf Bestrafung der Verantwortlichen geeignet ist.
(46) Besteht der Verdacht, dass diskriminierende Einstellungen zu einer Gewalttat geführt haben, ist es besonders wichtig, die amtliche Untersuchung mit Nachdruck und Unparteilichkeit durchzuführen, um [...] die Verurteilung solcher Taten durch die Gesellschaft ständig zu bekräftigen und das Vertrauen der Minderheitengruppen in die Fähigkeit der Behörden, sie vor diskriminierender Gewalt zu schützen, nicht zu verlieren. Die Einhaltung der positiven staatlichen Verpflichtungen setzt voraus, dass das nationale Rechtssystem seine Fähigkeit unter Beweis stellt, das Strafrecht gegen die Urheber solcher Gewalttaten durchzusetzen. Ohne ein striktes Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden würden hassmotivierte Straftaten zwangsläufig mit gewöhnlichen Fällen ohne derartige Untertöne gleichgestellt – die daraus resultierende Gleichgültigkeit käme einer [...] Duldung von Hassverbrechen gleich [...].
(47) Der Angriff auf den Bf war hinreichend schwerwiegend, um eine Reaktion der nationalen Behörden zu erfordern. [...] Zudem war das diskriminierende Motiv für den Angriff nicht anzuzweifeln. Der Angreifer gab bei der ersten polizeilichen Vernehmung offen zu, dass er homophobe Schimpfwörter als Reaktion auf [...] die öffentlich gezeigte Zuneigung zwischen dem Bf und seinem Partner benutzte [...].
(48) Den nationalen Behörden wurden bereits in der Anfangsphase des Verfahrens eindeutige Anscheinsbeweise für eine durch die sexuelle Ausrichtung des Bf motivierte Gewalt vorgelegt. Nach der Rsp des GH erforderte dies eine strenge Anwendung der innerstaatlichen strafrechtlichen Mechanismen, die in der Lage sind, die homophoben Untertöne hinter dem Angriff zu berücksichtigen und die Verantwortlichen zu verfolgen und ggf angemessen zu bestrafen [...].
(49) Das nationale Rechtssystem verfügte zum maßgeblichen Zeitpunkt über strafrechtliche Mechanismen, die den Einzelnen vor hassmotivierten Straftaten schützen sollten. Zwei Bestimmungen, § 78 Strafgesetz (Anm: Straftatbestand der Aufstachelung zu nationalem, ethnischem, rassischem oder religiösem Hass oder Feindschaft.) und § 150 Strafgesetz (Anm: Von § 150 Strafgesetz wird jede Handlung unter Strafe gestellt, die darauf abzielt, Hass oder Feindschaft aufgrund des Geschlechts, des Alters, einer Behinderung oder eines anderen Merkmals einer Person zu schüren, und die zu einem erheblichen Schaden führt.), pönalisieren Straftaten, die durch Hass aufgrund bestimmter geschützter Merkmale motiviert waren [...]. Obwohl die sexuelle Ausrichtung nicht ausdrücklich erwähnt wurde, scheint § 150 Strafgesetz in der gerichtlichen Praxis so ausgelegt worden zu sein, dass auch die sexuelle Ausrichtung zu den geschützten Merkmalen gehört [...].
(50) Im vorliegenden Fall [...] wurde der Angriff auf den Bf nicht als hassmotivierte Straftat verfolgt, denn [...] es müsse sich bei einer Straftat nach § 150 Strafgesetz um einen verbalen oder schriftlichen Aufruf zum Hass handeln, der in der unmittelbaren Absicht begangen wurde, auch andere zum Hass aufzustacheln. Da sich die Handlungen des Täters nur gegen den Bf und nicht gegen sexuelle Minderheiten als Ganzes richteten und ohne ein Publikum erfolgten, das zum Hass motiviert hätte werden können, würden die wesentlichen Elemente eines Hassverbrechens fehlen [...]. Die Strafverfolgungsbehörden ließen die Argumente des Bf außer Acht, die sich auf die Rsp des GH zu ähnlichen Fällen stützten, in denen es um hasserfüllte Angriffe auf Personen im Zusammenhang mit ihrer sexuellen Ausrichtung oder Geschlechtsidentität ging [...].
(51) [...] Der Täter wurde auch nach Ausschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe durch den Bf bei den Staatsanwaltschaften weder angeklagt noch wegen des hassmotivierten Angriffs verfolgt.
(52) Zwar wurde über den Täter [...] in einem Verwaltungsstrafverfahren [...] eine Geldstrafe iHv € 70,– verhängt. Der GH ist jedoch der Auffassung, dass der Rückgriff auf diese Art von Verfahren nicht mit der aus der EMRK ableitbaren Verpflichtung der nationalen Behörden vereinbar ist, denn diese haben dafür zu sorgen, dass homophobe Angriffe angemessen bekämpft und wirksam verhindert werden. Diese Schlussfolgerung stützt sich hauptsächlich auf zwei Gründe. Erstens befasste sich die zuständige Behörde nicht mit dem Hass-Element des Angriffs gegen den Bf [...]. Zweitens stand diese milde Sanktion in einem offensichtlichen Missverhältnis zur Schwere der Tat, und zwar sowohl im Hinblick auf das theoretische Höchstmaß als auch auf die tatsächlich verhängte Geldstrafe, die an der untersten Grenze lag [...]. Mit dem Rückgriff auf ein Verwaltungsstrafverfahren im vorliegenden Fall haben die nationalen Behörden den Vorfall verharmlost, indem sie einen hassmotivierten Angriff mit einer geringfügigen Störung der öffentlichen Ordnung, wie etwa einer Schlägerei unter Alkoholeinfluss, gleichgesetzt haben. Dieser Ansatz deutet darauf hin, dass es verabsäumt wurde, eine adäquate Antwort auf einen Angriff zu geben, der durch die sexuelle Ausrichtung des Bf motiviert war, wodurch ein Gefühl der Straffreiheit für hassmotivierte Straftaten gefördert wurde, anstatt eine klare und kompromisslose Haltung gegenüber derartigen Handlungen zu bekräftigen [...].
(53) Der GH kommt zum Ergebnis, dass Lettland gegen die Verpflichtungen aus Art 3 und Art 8 iVm Art 14 EMRK verstoßen hat. Es wurde verabsäumt, die Würde des Bf durch die wirksame Verfolgung des gegen ihn gerichteten Angriffs und die Berücksichtigung des Hassmotivs [...] angemessen zu schützen. Der GH betont, dass es für die Vertragsstaaten von entscheidender Bedeutung ist, gegen die Straflosigkeit in Fällen von Hassverbrechen vorzugehen, da diese eine erhebliche Bedrohung für die durch die EMRK geschützten Grundrechte darstellen [...]. Das Versäumnis, solche Vorfälle zu bekämpfen, kann die Feindseligkeit gegenüber LGBTI-Personen normalisieren, eine Kultur der Intoleranz und Diskriminierung aufrechterhalten und weitere Handlungen ähnlicher Art fördern.
(54) Folglich liegt eine Verletzung von Art 3 und Art 8 iVm Art 14 EMRK vor (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 10.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Identoba ua/GE, 12.5.2015, 73235/12 = NLMR 2015, 242
M. C. und A. C./RO, 12.4.2016, 12060/12
Beizaras und Levickas/LT, 14.1.2020, 41288/15 = NLMR 2020, 47
E. G./MD, 13.4.2021, 37882/13
Association ACCEPT ua/RO, 1.6.2021, 19237/16
R. B./EE, 22.6.2021, 22597/16
Romanov ua/RU, 12.9.2023, 58358/14 ua
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.7.2025, Bsw. 40861/22, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 342) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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