Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Couso Permuy gg Spanien, Urteil vom 25.7.2024, Bsw. 2327/20.
Art 6 Abs 1 EMRK - Einstellung eines wegen Tötung eines Spaniers im Irakkrieg eingeleiteten Strafverfahrens nach Gesetzesreform.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf ist spanischer Staatsangehöriger. Der vorliegende Fall betrifft die Tötung seines Bruders während des Irakkriegs durch Streitkräfte der US-Armee und die Entscheidung der spanischen Strafverfolgungsbehörden, ein gegen die drei für den Vorfall mutmaßlich verantwortlichen Soldaten eingeleitetes Strafverfahren einzustellen.
Zur Tötung des Bruders des Bf
Am 20.3.2003 startete eine Koalition von mehreren Ländern die Eroberung des Iraks. Der Bruder des Bf arbeitete zu dieser Zeit in Bagdad als Kameramann für das spanische Fernsehen.
Am frühen Morgen des 8.4.2003 rückten Panzer der dritten Infanterie-Division der US-Armee in das Zentrum von Bagdad vor. Sie feuerten auf das Hauptquartier des arabischen Fernsehsenders Al Jazeera und auf das Pressezentrum von Abu Dhabi TV. Beide Angriffe führten zu Verletzten. Kurz danach eröffnete ein Panzer das Feuer auf das Hotel Palestine, in dem sich ein Großteil der Journalisten befand. Durch einen Schuss wurde der Bruder des Bf schwer verwundet. Er verstarb einige Stunden später in einem Krankenhaus.
Zum anschließenden Strafverfahren vor den spanischen Gerichten
Am 27.5.2003 erhoben die Mutter und drei Geschwister des Opfers, darunter der Bf, bei der Audiencia Nacional strafrechtliche Beschwerde (querella) gegen die für die Tötung mutmaßlich verantwortlichen drei US-Soldaten und ersuchten um Untersuchung der Todesumstände. Begründend führten sie aus, die US-Armee sei sich der Tatsache bewusst gewesen, dass das Gebäude kein militärisches Ziel sei. Man habe mit voller Absicht zu verhindern versucht, dass die internationale Presse weiterhin über die Invasion berichten würde, die vielen irakischen Zivilisten den Tod gebracht hätte. Die fraglichen Ereignisse würden daher ein Kriegsverbrechen iSd Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12.8.1949 (im Folgenden: Vierte Genfer Konvention), des Rom-Statuts des IStGH und der einschlägigen Bestimmungen des spanischen Strafgesetzes darstellen.
In der Folge leitete der Untersuchungsrichter eine strafrechtliche Untersuchung ein. Am 30.1.2004 setzte ihn das spanische Außenministerium über die mit den US-Behörden ausgetauschte Korrespondenz in Kenntnis. Demnach hätten US-Truppen lediglich auf feindliches Feuer reagiert, welches aus der Nähe eines Orts gekommen wäre, der später als das Hotel Palestine identifiziert worden sei. Man habe somit gemäß den militärischen Gepflogenheiten in Notwehr gehandelt. Die von den US-Behörden durchgeführte Untersuchung habe kein Fehlverhalten der beteiligten Soldaten aufgezeigt, weshalb es auch nicht zu einer strafrechtlichen Anklage kommen werde.
Am 5.6.2005 informierte der Untersuchungsrichter die zuständige US-Staatsanwaltschaft darüber, dass gegen die drei Soldaten gemäß den §§ 611 Abs 1 und 608 Abs 3 des spanischen Strafgesetzes wegen eines Verbrechens gegen die internationale Gemeinschaft aufgrund der Erfassung von Zivilisten als Zielobjekt und nach § 139 Abs 1 leg cit wegen Mordes Anklage erhoben worden sei. Nachdem die US-Behörden auf sein Auslieferungsersuchen nicht reagiert hatten, erließ er einen Haftbefehl gegen die drei Soldaten. Begründend führte er aus, den spanischen Gerichten komme gemäß § 23 Abs 4 lit g des Gesetzes Nr 6/1985 über die Gerichtsbarkeit und nach dem 1. ZP zur Vierten Genfer Konvention internationale Strafgerichtsbarkeit zu. Am 2.2.2006 verständigte das US-Justizministerium den Untersuchungsrichter darüber, dass man nicht daran denke, die drei Soldaten den spanischen Gerichten zu übergeben.
2009 und 2014 kam es zu einer Gesetzesreform, mit der neue Kriterien zur Einschränkung der universellen Zuständigkeit der spanischen Gerichte für außerhalb Spaniens begangene Straftaten eingeführt wurden. Gemäß § 23 Abs 4 lit g des Gesetzes 1/2009 vom 3.11.2009 musste bei einem außerhalb des nationalen Territoriums begangenen »internationalen Verbrechen« wie beispielsweise einem Kriegsverbrechen zwischen diesem und Spanien eine Verbindung bestehen. Eine solche war gegeben, wenn das Opfer die spanische Staatsangehörigkeit besaß. Das Gesetz Nr 1/2014 vom 13.3.2014 sah hingegen vor, dass diese Voraussetzung nicht länger genügte, um die Zuständigkeit der spanischen Gerichte zu begründen.
Mit Beschluss vom 17.3.2014 vertrat der Untersuchungsrichter die Ansicht, dass die (Übergangs-)Bestimmungen des Gesetzes Nr 1/2014 (Anm: Diese sahen vor, dass zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes Nr 1/2014 anhängige Verfahren einzustellen waren, wenn die Voraussetzungen für die Zuständigkeit der spanischen Gerichte nicht mehr gegeben waren.) nicht auf den vorliegenden Fall Anwendung finden würden, stehe doch die Tatsache, dass spanische Gerichte gemäß besagtem Gesetz eine ausländische Person wegen außerhalb des Hoheitsgebiets begangener Kriegsverbrechen nur dann strafrechtlich verfolgen könnten, wenn sie sich auf spanischem Territorium befinde, in Widerspruch zu Art 146 (Anm: Danach ist jede Vertragspartei zur Ermittlung von Personen verpflichtet, die unter anderem einer schweren Verletzung iSd Konvention beschuldigt sind, und hat sie ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor ihre eigenen Gerichte zu stellen.) der Vierten Genfer Konvention.
Zudem sei in den USA hinsichtlich der von der Familie des Opfers angeprangerten Straftaten keine strafrechtliche Untersuchung anhängig. Die spanischen Gerichte wären daher zur Weiterverfolgung der Strafsache verpflichtet. Die Entscheidung wurde nachfolgend von der Audiencia Nacional und dem Obersten Gerichtshof bestätigt.
Am 6.5.2015 erließ der Oberste Gerichtshof ein Grundsatzurteil betreffend die Zuständigkeit der spanischen Gerichte zur Strafverfolgung von außerhalb des Staatsgebiets begangenen Verbrechen. Demnach sei das Gesetz Nr 1/2014 derart auszulegen, dass die spanischen Gerichte zur Untersuchung und Aburteilung von Straftaten nicht zuständig seien, wenn diese im Kontext bewaffneter Konflikte im Ausland begangen worden wären. Eine Ausnahme sei unter anderem dann gegeben, wenn das Verfahren gegen einen spanischen oder einen in Spanien lebenden ausländischen Staatsangehörigen angestrengt worden sei. Der Umstand, dass das Opfer Spanierin bzw Spanier sei, stelle keine solche Ausnahme dar. Im Lichte dieses Urteils beendete der Untersuchungsrichter die Voruntersuchung und übermittelte die Strafsache der Audiencia Nacional zur Einstellung des Verfahrens oder Verhandlung vor Gericht.
Mit Beschluss vom 25.11.2015 ordnete die Audiencia Nacional die vorläufige Einstellung des Strafverfahrens an, da wegen der Abwesenheit der mutmaßlichen Täter die Übergangsbestimmungen des Gesetzes Nr 1/2014 zur Anwendung kämen. Dagegen erhobene Rechtsmittel des Bf und seiner Familie an den Obersten Gerichtshof bzw eine amparo-Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof blieben erfolglos.
Rechtsausführungen:
Der Bf behauptete Verletzungen von Art 6 Abs 1 (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) und Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksames Beschwerde bei einer nationalen Instanz).
Zum Prüfungsmaßstab
(101) Laut dem Bf wäre die eingeschränkte Zuständigkeit der spanischen Gerichte zur Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung der Tötung seines Bruders auf eine Verletzung seines Rechts auf Zugang zu einem Gericht bzw auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz [...] hinausgelaufen.
(102) […] Das Vorbringen des Bf beschränkt sich im Wesentlichen auf die Frage, ob die umstrittene Gesetzesreform, die zur Einstellung der strafrechtlichen Untersuchung über die Umstände des Todes seines Bruders führte, sein Recht auf Zugang zu einem Gericht in seiner Eigenschaft als privatbeteiligte Partei verletzte.
(103) Mit Blick darauf, dass die vom Bf unter Art 13 EMRK aufgeworfenen Fragen Aspekte seines Rechts auf Zugang zu einem Gericht betreffen, findet der GH, dass seine Rügen lediglich unter Art 6 Abs 1 EMRK behandelt werden sollen.
Zur behaupteten Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK
Zulässigkeit
(108) Der GH hat wiederholt festgehalten, dass Art 6 Abs 1 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Aspekt auf Beschwerden von Personen anwendbar ist, die von ihnen als Privatbeteiligte in einem Strafverfahren gestellt wurden (siehe etwa Gracia Gonzalez/ES, Rz 54–55; Moreira de Azevedo/PT, Rz 67).
(109) Im vorliegenden Fall hatte der Bf ein von den spanischen Gesetzen anerkanntes Recht, nicht nur zu einer Privatanklagepartei in einem Strafverfahren zu werden, in dem der Tod seines Bruders untersucht wurde, sondern auch von den Tätern zivilrechtliche Entschädigung zu erhalten, sollte in diesem Verfahren eine Straftat nachgewiesen werden und es zu einer Verurteilung kommen. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Zuständigkeit der spanischen Gerichte auf der Begehung eines Verbrechens innerhalb spanischen Territoriums oder auf der Ausübung universeller Gerichtsbarkeit spanischer Strafgerichte für außerhalb ihres Territoriums begangene Verbrechen beruhte. [...]
(110) Es besteht kein Zweifel darüber, dass im vorliegenden Fall ein »echter und ernsthafter« Streit iSd Rsp des GH existierte. [...]
(111) Angesichts des Vorgesagten ist Art 6 Abs 1 EMRK auf den gegenständlichen Fall anwendbar. Die Beschwerde ist daher nicht [wie von der Regierung behauptet] unzulässig ratione materiae.
(112) Da keine weiteren Unzulässigkeitsgründe ausgemacht wurden, ist die vorliegende Beschwerde für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
Allgemeine Grundsätze
(132) Die im Fall Naït-Liman/CH, Rz 112–116, aufgelisteten allgemeinen Prinzipien betreffend das Recht auf Zugang zu den Gerichten in zivilrechtlichen Angelegenheiten sind auf den gegenständlichen Fall voll anwendbar. Im Gegensatz jedoch zum zitierten Fall, der die Frage universeller Gerichtsbarkeit der Zivilgerichte im Kontext von unabhängigen Zivilverfahren betraf, betrifft der gegenständliche Fall das Recht auf Zugang zu den Gerichten als privatbeteiligte Partei in einem Strafverfahren, das vor den Strafgerichten auf Basis des Prinzips der universellen Gerichtsbarkeit angestrengt wurde. Diese Frage wurde vom GH bereits im Fall Hussein ua/BE, Rz 59–74, und kürzlich in M. M./FR, Rz 73–76, erörtert.
(133) Der nationale Gesetzgeber ist im Prinzip nicht daran gehindert, zivilrechtliche Angelegenheiten im Wege der Einführung neuer gesetzlicher Bestimmungen mit rückwirkendem Effekt zu regeln. Allerdings werden Eingriffe der Gesetzgebung in die Rechtspflege zwecks Beeinflussung des Ergebnisses von Rechtsstreitigkeiten – mit Ausnahme von überragenden Gründen des öffentlichen Interesses – durch Rechte, die sich bereits aus geltenden [innerstaatlichen] Gesetzen ableiten lassen, durch das Rechtsstaatlichkeitsprinzip sowie durch das in Art 6 EMRK verankerte Konzept eines fairen Verfahrens ausgeschlossen.
Anwendung auf den vorliegenden Fall
Lag eine Einschränkung des Rechts des Bf auf Zugang zu einem Gericht vor?
(134) Der vorliegende Fall betrifft die Anwendung von Gesetzen auf ein laufendes Gerichtsverfahren. Das Inkrafttreten von Gesetz Nr 1/2014 (welches § 23 Abs 4 des Gesetzes Nr 6/1985 über die Gerichtsbarkeit reformierte und eine auf anhängige Fälle anwendbare Übergangsbestimmung schuf) führte nämlich zu der Schlussfolgerung der spanischen Gerichte, dass sie zur Weiterführung der Untersuchung der Umstände des Todes des Bf nicht mehr zuständig seien. Als Folge wurde das Verfahren eingestellt, was auch die Beendigung der Prüfung des Vorbringens des Bf als privatbeteiligte Partei mit sich brachte.
(135) Der GH nimmt Kenntnis vom Vorbringen der Regierung, wonach das Verfahren in jedem Fall eingestellt worden wäre, da das spanische Recht sogar vor dem Inkrafttreten von Gesetz Nr 1/2014 keine in absentia geführten Strafverfahren erlaubt hätte und die mutmaßlichen Täter nicht auf spanischem Territorium anwesend waren. Während dies hinsichtlich der Schwere der vom Bf behaupteten erlittenen Nachteile relevant sein mag, vermag dies nach Ansicht des GH nichts an der Tatsache zu ändern, dass rechtliche Ursache für die Nichtweiterführung des Verfahrens die umstrittene Gesetzesreform war.
(136) Der GH muss daher untersuchen, ob die Einschränkung des Rechts des Bf auf Zugang zu einem Gericht durch das Gesetz Nr 1/2014 ein legitimes Ziel verfolgte und – wenn ja – ob es gegenüber dem anvisierten Ziel verhältnismäßig war.
Verfolgte die Einschränkung ein legitimes Ziel?
(137) Was nun die Frage betrifft, ob die Einschränkung des Rechts des Bf auf Zugang zu einem Gericht ein legitimes Ziel verfolgte, zielte die Gesetzesreform laut dem erläuternden Memorandum [...] im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip und zwecks Stärkung der Rechtssicherheit klar darauf ab, jene Fälle ausfindig zu machen, für welche den spanischen Gerichten die Zuständigkeit zukam, Verbrechen zu untersuchen und nachzugehen, die außerhalb des Gebiets, in dem Spanien seine Hoheitsgewalt ausübte, begangen worden waren. In dieser Hinsicht erinnert der GH daran, dass die extraterritoriale Hoheitsgewalt außergewöhnlicher Natur ist und sorgfältig begründet werden muss. In ihrem Vorbringen wies die Regierung auch auf die Gefahr der Überlastung der Gerichte hin, die aus einem Missbrauch der Führung von Prozessen auf der Basis eines »absoluten« Modells der uneingeschränkten universellen Gerichtsbarkeit unbeschadet eines Bezugs zu Spanien resultiert hätte. Sie hob auch die Schwierigkeiten in der Praxis hervor, denen die spanischen Gerichte beim Versuch der Beibringung von Beweisen begegnet wären. In seinem die amparo-Beschwerde des Bf abweisenden Urteil kam der spanische Verfassungsgerichtshof zu dem Schluss, dass die Notwendigkeit, dass sich mutmaßliche Urheber von im Ausland begangenen Verbrechen physisch auf spanischem Territorium befinden müssten, um die Gerichtsbarkeit Spaniens im Hinblick auf solche Verbrechen anerkennen zu können, auf die Gewährleistung der Effektivität des Strafverfahrens abzielte. In seinem ersten Urteil [Nr 196/2015 vom 6.5.2015] kam der spanische Oberste Gerichtshof im Zuge seiner Auslegung der vom Gesetz Nr 1/2014 eingeführten neuen Anforderungen zu der Ansicht, dass das in Spanien geltende uneingeschränkte Modell der universellen Gerichtsbarkeit [...] »zur Auferlegung von unmöglich zu erfüllenden Verpflichtungen führt, da kein Land eine unbestimmte Zahl von Verfahren in Gang setzen kann, um alle schweren Verstöße gegen die Genfer Konvention in jedem irgendwo auf der Welt stattfindenden bewaffneten Konflikt in absentia zu untersuchen, vor allem wenn – wie im gegenständlichen Fall – die Hintergründe [des Falls] mehrere Dekaden zurückliegen. [...] Eine solche Interpretation würde auf ein absurdes Verständnis dahingehend hinauslaufen, dass eine derartige Verpflichtung den rund zweihundert Staaten, die die [Vierte Genfer] Konvention unterzeichnet haben, gleichzeitig auferlegt würde. Dies würde notwendigerweise dazu führen, dass diese Staaten zwecks Befolgung ihrer vertraglichen Verpflichtungen bei der Suche der mutmaßlich verantwortlichen Personen, wo immer sie sich auch befinden mögen [und was ihre Überstellung angeht], notwendigerweise miteinander konkurrieren müssten.«
(138) Der GH hat bereits anerkannt, dass es nicht unangemessen ist, wenn ein Staat die Existenz von einigen Verbindungen zu ihm verlangt, damit er im Rahmen seiner universellen Gerichtsbarkeit die Verfolgung mancher Straftaten anerkennt (siehe Hussein ua/BE, Rz 65; Naït-Liman/CH, Rz 218–219; M. M./FR, Rz 75).
(139) Im vorliegenden Fall können die von der Regierung angeführten Gründe zur Rechtfertigung der Einführung neuer gesetzlicher Kriterien zur Einschränkung der universellen Gerichtsbarkeit gemeinsam mit der im erläuternden Memorandum zum Gesetz Nr 1/2014 enthaltenen Begründung sowie der Rsp des spanischen Verfassungsgerichtshofs betreffend die Reform von § 23 Abs 4 des Gesetzes über die Gerichtsbarkeit als überragende Gründe von öffentlichem Interesse angesehen werden.
(140) Als nächstes muss der GH prüfen, ob die sich daraus für den Bf ergebenden Konsequenzen [...] verhältnismäßig waren.
War die Einschränkung verhältnismäßig?
(141) Was die Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen des Rechts auf Zugang zu einem Gericht betrifft, erinnert der GH daran, dass die Staaten bei der Regelung dieses Rechts einen gewissen Ermessensspielraum genießen. In Fällen wie dem vorliegenden hängt das Ausmaß dieses Ermessensspielraums unter anderem vom einschlägigen Völkerrecht in diesem Bereich ab.
(142) Es trifft zu, dass Staaten wie Spanien, die ihren Gerichten die Zuständigkeit übertragen haben, Klagen auf Wiedergutmachung von Kriegsverbrechen oder anderen internationalen Verbrechen zu behandeln, dem breiten Konsens in der internationalen Gemeinschaft zur Existenz eines Rechts von Opfern besagter Verbrechen auf angemessene und effektive Wiedergutmachung Wirksamkeit verliehen haben – und zwar auch dann, wenn sich deren Klagen auf Handlungen außerhalb der geografischen Grenzen des fraglichen Staats beziehen. Spanien, der Irak und die USA sind Parteien der Vierten Genfer Konvention aus 1949. Dieses völkerrechtliche Instrument sieht in seinen Art 146 und 147 die strafrechtliche Ahndung von gewissen Handlungen einschließlich Kriegsverbrechen durch die Vertragsparteien vor. Insb verlangt Art 146 von den Vertragsparteien, Individuen, die der Begehung von Straftaten verdächtig sind, die als Kriegsverbrechen definiert werden, entweder auszuliefern oder sie selbst strafrechtlich zu verfolgen (aut dedere aut judicare), wenn sich diese bereits auf ihrem Staatsgebiet befinden. Die Vierte Genfer Konvention begründet folglich ein zwingendes Modell universeller Gerichtsbarkeit, welches jedem Signatarstaat die Verpflichtung auferlegt, Kriegsverbrecher aufzuspüren, wenn sie sich auf ihrem Staatsgebiet befinden, und sie vor Gericht zu stellen, um sie gemäß der Eigenart des Verbrechens strafrechtlich zu verfolgen und abzuurteilen – und zwar unbeschadet des Orts, an dem sich der Vorfall ereignete, und der Staatsangehörigkeit des Angeklagten. Diese verpflichtende Gerichtsbarkeit beinhaltet jedoch keine Pflicht der Staaten, nach Kriminellen außerhalb ihres Territoriums zu suchen und für sich die Zuständigkeit zu beanspruchen, sie von ihren eigenen Gerichten auch dann strafrechtlich verfolgen und aburteilen zu lassen, wenn kein Element einer Verbindung zu ihnen welcher Art auch immer aufscheint. Der GH legt in keiner Weise fest, wie die in den oben erwähnten Bestimmungen der Vierten Genfer Konvention begründeten Verpflichtungen in die nationale Gesetzgebung umgesetzt werden oder dass sie jenseits der territorialen Grenzen der Vertragsparteien erstreckt werden sollten. Er leitet [aus der Vierten Genfer Konvention] auch nicht ab, dass ein uneingeschränktes Modell der universellen Gerichtsbarkeit das adäquateste Rechtsregime zur strafrechtlichen Verfolgung und Ahndung von internationalen Verbrechen ist. Während der GH anerkennt, dass die Existenz einer völkerrechtlich begründeten Untersuchungs- bzw Übergabepflicht gegenüber einer anderen Vertragspartei die Schwere der mutmaßlichen Straftat widerspiegelt, kann weder dem Völkerrecht noch der Konvention eine Verpflichtung entnommen werden, eine universelle Gerichtsbarkeit für Zivilsachen vorzusehen.
(143) Seitens des GH ist zu vermerken, dass das spanische Recht im Jahr 2003 – als der Bf und andere Mitglieder der Familie des Opfers strafrechtliche Beschwerde (die eine zivilrechtliche Klage auf Entschädigung enthielt) einlegten – die universelle Gerichtsbarkeit für Strafsachen in absoluter Form anerkannte. Die spanische Gesetzgebung führte dann schrittweise Kriterien ein, die eine Verbindung mit Spanien ratione personae und ratione loci erforderten. Nach dem Inkraftttreten von Gesetz Nr 1/2009 am 3.11.2009 wurde die spanische Staatsangehörigkeit des Opfers als ausreichende Verbindung für die Begründung einer extraterritorialen Zuständigkeit der spanischen Gerichte angesehen (passives Staatsangehörigkeitsprinzip). Als jedoch am 15.3.2014 das Gesetz Nr 1/2014 in Kraft trat, erfüllte das Verfahren, das vom Bf 2003 angestrengt wurde, nicht die neuen Kriterien, welche die extraterritoriale Zuständigkeit der spanischen Gerichte rechtfertigten, da diese Kriterien nicht länger die Staatsangehörigkeit des Opfers als ausreichende Verbindung [zu Spanien] anerkannten. Der Fall des Bf konnte daher auf der Basis der Übergangsbestimmungen zu diesem Gesetz nicht mehr behandelt werden.
(144) Der Untersuchungsrichter vertrat jedoch ursprünglich die Ansicht, die vom Gesetz Nr 1/2014 eingeführten Bestimmungen dürften wegen Widerspruchs zur Vierten Genfer Konvention nicht beachtet werden. Dies hatte zur Folge, dass die spanischen Gerichte ihre Zuständigkeit [für die Sache des Bf] zunächst beibehielten. Diese Entscheidung wurde später von der Vollversammlung der Strafkammer der Audiencia Nacional wie auch dem Obersten Gerichtshof bestätigt. Der Fall des Bf verblieb somit nach Inkrafttreten der neuen Gesetze noch für einige Zeit in Untersuchung, sodass nicht gesagt werden kann, dass die Intervention des Gesetzgebers – bloß weil die [neuen] Gesetze auf anhängige Fälle Anwendung fanden – jegliche Weiterführung des Verfahrens sinnlos machten (siehe a contrario Arnolin ua/FR, Rz 73–74; Ducret/FR, Rz 36–37).
(145) Der GH ist auch der Ansicht, dass während der Zeitspanne, in der Spanien die gerichtliche Zuständigkeit zur Untersuchung des Falls zukam, diese Zuständigkeit effektiv ausgeübt wurde. Zwischen 2003 und 2015 machten die innerstaatlichen Gerichte – genauer gesagt der Untersuchungsrichter – beträchtliche Anstrengungen, um die für eine Anklageerhebung und strafrechtliche Verfolgung der mutmaßlichen Urheber der Tötung des Opfers notwendigen Fakten zu ergründen oder herauszufinden, ob dieses Verbrechen Gegenstand einer Untersuchung in den USA oder im Irak sei und dort strafrechtlich verfolgt werden könnte. Insb ersuchte der Untersuchungsrichter die US-Behörden wiederholt um Übermittlung von Informationen zu den fraglichen Ereignissen, da er in Erfahrung gebracht hatte, dass dort eine verwaltungsrechtliche Untersuchung geführt worden war. Diese war zu dem Schluss gekommen, dass die in die Tötung des Bruders des Bf involvierten US-Streitkräfte in Selbstverteidigung gehandelt hatten und dass folglich keine Beweise für ein Verbrechen oder Fehlverhalten vorlägen, da die Anwendung von Gewalt im Vergleich zu der Bedrohung, der sie sich ausgesetzt gesehen hatten, verhältnismäßig gewesen war. Infolgedessen wurden die spanischen Gerichte darüber in Kenntnis gesetzt, dass keine strafrechtliche Untersuchung stattfinden werde. Die innerstaatlichen Gerichte ersuchten auch die irakischen Behörden um gerichtliche Kooperation. Diese legten jedoch keine konkreten Informationen vor, ob ein Verfahren zu den strittigen Ereignissen im Gange sei. Der GH möchte auch festhalten, dass eine richterliche Kommission aus Spanien sogar nach Bagdad zum Ort der tödlichen Geschehnisse reiste, um so viel Informationen wie möglich zu sammeln.
(146) Der Fall [des Bf] wurde erst eingestellt, nachdem die Vollversammlung der Strafkammer des spanischen Obersten Gerichtshofs in einem anderen Verfahren ein Grundsatzurteil erließ, in dem sie zum ersten Mal über die Auswirkungen der durch das Gesetz Nr 1/2024 umgesetzten Gesetzesreform auf anhängige Fälle, die unter den früheren Regelungen betreffend den Zugang zu uneingeschränkter universeller Gerichtsbarkeit behandelt worden waren, absprach. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs sei § 23 Abs 4 des Gesetzes Nr 1/2014 und die Übergangsbestimmung dazu derart auszulegen, dass die Zuständigkeit der spanischen Gerichte erst dann geltend gemacht werden könne, wenn sich die mutmaßlichen Täter in Spanien befänden. Die [spanische] Staatsangehörigkeit des Opfers reiche hingegen nicht aus, um eine Verbindung zur gerichtlichen Zuständigkeit [Spaniens] zu begründen. Dieser Grundsatz gelte auch für anhängige Fälle.
(147) Der GH [...] sieht keinen Grund, die von den innerstaatlichen Gerichten im Hinblick auf die Fakten des gegenständlichen Falls vorgenommene Auslegung des anwendbaren Rechts anzuzweifeln. Diese gaben eine spezifische und ausdrückliche Erwiderung auf die vom Bf nachfolgend eingelegten Rechtsbehelfe. Der GH vermag nichts Willkürliches oder offenkundig Unangemessenes in der Schlussfolgerung der innerstaatlichen Gerichte zu sehen, dass sie für das gegenständliche Verfahren nicht [mehr] zuständig seien. Die Auslegung von Gesetz Nr 1/2014 entsprach dem Zweck dieses Gesetzes, nämlich auf einer universellen Gerichtsbarkeit beruhende Streitigkeiten lediglich auf solche Fälle zu beschränken, bei denen eine ausreichende Verbindung zu Spanien bestand. Diese Auslegung lag innerhalb des Ermessensspielraums des belangten Staats.
Allgemeine Schlussfolgerungen
(148) Der GH möchte folgenden Elementen des vorliegenden Falls besondere Bedeutung zumessen: (i) dem Bf war es möglich, seine Rügen vor die Gerichte zu bringen und vom Untersuchungsrichter wurden viele Beweisgegenstände auf seinen Wunsch hin gesammelt. Die spanischen Untersuchungsbehörden unternahmen auch eine sehr gründliche strafrechtliche Untersuchung; (ii) nach Abschluss der Untersuchung wäre es ohnehin nicht möglich gewesen, den Fall zur Verhandlung zu bringen, da die eines Verbrechens angeklagten Personen von den US-Behörden nicht übergeben worden waren und das spanische Recht in Abwesenheit geführte Verfahren nicht erlaubte; (iii) die spanischen Gerichte stellten das Strafverfahren nur vorläufig ein, ohne die Möglichkeit von dessen Wiederaufnahme auszuschließen, falls die Angeklagten spanischer Hoheitsgewalt und folglich nationaler Gerichtsbarkeit unterfallen würden; (iv) der Bf beklagte sich über eine Verletzung seines Rechts auf Zugang zu einem Gericht aus dem Blickwinkel einer privatbeteiligten Partei, die sich dem Strafverfahren angeschlossen hatte, während er selbst nicht behauptete, dass es irgendwelche Hindernisse gegeben hätte, die ihn daran gehindert hätten, eine separate Schadenersatzklage außerhalb des Strafverfahrens einzubringen.
(149) [...] Der GH ist daher der Ansicht, dass die Schlussfolgerung der spanischen Gerichte (nach dem Inkrafttreten von Gesetz Nr 1/2014), dass sie nicht dafür zuständig wären, die Schadenersatzklage des Bf zu behandeln, die Teil der von ihm 2003 eingelegten strafrechtlichen Beschwerde zwecks Erhalt einer Entschädigung für den Tod seines Bruders (aufgrund einer behaupteten ernsten Verletzung von humanitärem Völkerrecht und internationalem Strafrecht) gewesen war, zu den gesetzlich verfolgten Zielen nicht unverhältnismäßig war. Folglich kam es zu keiner Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht iSv Art 6 EMRK (einstimmig).
(150) Es sollte allerdings daran erinnert werden, dass diese Schlussfolgerung nicht den breiten Konsens innerhalb der internationalen Gemeinschaft anzweifelt, was die Existenz des Rechts von Opfern internationaler Verbrechen (wie sie unter anderem in den Genfer Konventionen aus 1949 und dem Rom-Statut definiert werden) angeht, angemessene und effektive Wiedergutmachung zu erlangen. Es wird auch die Tatsache nicht in Frage gestellt, dass die Staaten ermutigt werden, diesem Recht Wirkung zu verleihen, indem sie ihre Gerichte mit der Zuständigkeit ausstatten, derartige Entschädigungsansprüche zu untersuchen (und zwar auch dann, wenn derartige Ansprüche auf Ereignisse gestützt werden, die außerhalb ihrer geografischen Grenzen stattfanden). In dieser Hinsicht sind Anstrengungen von Staaten, Entschädigung für die Begehung internationaler Verbrechen suchenden Personen den Zugang zu den Gerichten so effektiv wie möglich zu gestalten, lobenswert.
(151) Aus Sicht eines Staats, der eine universelle Gerichtsbarkeit vorsieht, erscheint es jedoch nicht unangemessen, deren Ausübung von der Existenz gewisser Anknüpfungspunkte oder rechtlicher Verbindungen zu diesem Staat (die von ihm im Einklang mit dem Völkerrecht zu bestimmen sind, ohne dass dabei der dem betroffenen Staat unter der Konvention eingeräumte Ermessensspielraum überschritten wird) abhängig zu machen.
Vom GH zitierte Judikatur:
Moreira de Azevedo/PT, 23.10.199o, 11296/84
Arnolin ua/FR, 9.1.2007, 20127/03 ua
Ducret/FR, 12.6.2007, 40191/02
Naït-Liman/CH, 15.3.2018, 51357/07 (GK) = NLMR 2018, 125
Gracia Gonzalez/ES, 6.10.2020, 65107/16
Hussein ua/BE, 16.3.2021, 45187/12
M. M./FR, 16.4.2024, 13303/21 (ZE)
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.7.2024, Bsw. 2327/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 313) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
Rückverweise
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