Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache W. W. gg Polen, Urteil vom 11.7.2024, Bsw. 31842/20.
Art 8, 35 EMRK - Verweigerung der Fortsetzung der Hormontherapie einer transsexuellen Strafgefangenen.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art 8 EMRK (6:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 8.000,– für immateriellen Schaden; € 2.153,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).
Begründung:
Sachverhalt:
Bei der 1992 geborenen Bf handelt es sich um eine Transgender-Person, die von Geburt an rechtlich als Mann galt, sich aber von klein auf als Frau fühlt. Seit 2013 verbüßte sie wegen unterschiedlicher Vermögensdelikte mehrere Freiheitsstrafen in Gefängnissen für Männer. Ihre letzte Strafe endete am 5.5.2024.
Im Juni 2018 entfernte sich die Bf in der Haft selbst beide Hoden, was sie auf ihr psychisches Unbehagen wegen des Auseinanderfallens ihrer sexuellen Identität und ihrer äußeren Geschlechtsmerkmale zurückführte. In weiterer Folge wurde sie zunehmend aggressiv. Der Leiter der Strafanstalt zog daraufhin mehrere Experten zu Rate. Ein Psychiater und Sexologe empfahl Ende 2018 dringend eine der Geschlechtsumwandlung dienende Hormonersatztherapie und verschrieb der Bf die nötigen Medikamente. Seiner Ansicht nach waren von dieser Behandlung positive Wirkungen auf die Gesundheit und Lebensqualität der Bf zu erwarten. Der Strafanstaltsleiter gestattete der Bf diese Therapie. In weiterer Folge verbesserte sich ihr physischer und emotionaler Gesundheitszustand.
Nachdem die Bf am 12.5.2020 in die Strafanstalt Siedlce verlegt worden war, konnte sie zunächst ihre Therapie fortsetzen, da sie noch über einen ausreichenden Medikamentenvorrat verfügte. Am 28.5. beantragte sie beim Leiter der Strafanstalt Siedlce die Erlaubnis, sich die Medikamente zusenden lassen zu dürfen. Der leitende Anstaltsarzt gab eine Stellungnahme ab, wonach eine solche Behandlung sehr riskant sei und eine gründliche Abklärung durch einen Endokrinologen erfordere. Daraufhin vermerkte der stellvertretende Anstaltsleiter auf ihrem Antrag, dass keine Entscheidung zu treffen sei, solange keine Stellungnahme eines Endokrinologen vorliege. Obwohl der Anwalt der Bf unter Vorlage der medizinischen Unterlagen und eines weiteren endokrinologischen Gutachtens verlangte, die Fortsetzung der Behandlung zu ermöglichen, musste die Bf diese unterbrechen, als ihr am 18.7.2020 die Medikamente ausgingen.
Erst nachdem der EGMR am 30.7.2020 Polen im Wege einer einstweiligen Maßnahme aufgefordert hatte, die Bf mit den ihr verschriebenen Hormonpräparaten zu versorgen, erhielt sie diese am folgenden Tag. Am 5.8.2020 konnte sie einen Endokrinologen konsultieren, der ihr erneut die Hormonersatztherapie verschrieb.
Am 28.8.2020 teilte der Leiter der regionalen Strafvollzugsbehörde der Bf mit, dass die von ihrem Anwalt erhobenen Beschwerden unbegründet seien.
Rechtsausführungen:
Die Bf behauptete eine Verletzung von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) durch die Weigerung der Strafvollzugsbehörden, ihr die Fortsetzung der Hormonersatztherapie zu gestatten.
Zu den Verfahrenseinreden der Regierung
(46) Die Regierung [...] brachte vor, die Bf könne nicht als Opfer der behaupteten Verletzungen angesehen werden und habe die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft.
Zur Opfereigenschaft der Bf
(49) Die Frage, ob die Bf als »Opfer« angesehen werden kann, bezieht sich nach Ansicht des GH auf die Berechtigung der Beschwerde. Daher sollte diese von der Regierung erhobene Einrede mit der Entscheidung in der Sache verbunden werden.
Zur Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe
(50) Die Regierung brachte vor, die Bf habe es [...] verabsäumt, die Entscheidung des Anstaltsleiters beim Strafvollzugsgericht mit einer vorläufigen Beschwerde gemäß Art 7 Strafvollzugsgesetz anzufechten. [...]
(52) Zudem hätte die Bf gemäß dem Vorbringen der Regierung nach Art 23 und 24 des Zivilgesetzbuchs eine Schadenersatzklage wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte erheben können. [...]
(59) [...] Gemäß Art 7 Strafvollzugsgesetz kann jede Entscheidung eines Strafanstaltsleiters wegen »Unvereinbarkeit mit dem Gesetz« angefochten werden. [...]
(60) Der GH stimmt dem Argument der Bf zu, wonach der Vermerk auf ihrem Antrag nicht als »Entscheidung« angesehen werden kann, die einer Anfechtung zugänglich ist. Daher wäre ein Rechtsmittel nach Art 7 Strafvollzugsgesetz [...] nicht effektiv gewesen. [...]
(62) Was zivilrechtliche Rechtsbehelfe betrifft, waren diese [...] ausschließlich kompensatorischer Art [...]. In diesem Kontext erinnert der GH daran, dass eine zivilrechtliche Klage gegen ein Gefängnis oder einen Gefängnisarzt einem Gefangenen keine vernünftige und rechtzeitige Aussicht auf Gewährleistung einer angemesseneren medizinischen Behandlung oder seiner Entlassung aus der Haft bieten kann. In Bezug auf die medizinische Behandlung im Gefängnis können Rechtsbehelfe rein kompensatorischer Art nur im Hinblick auf Bf als effektiv angesehen werden, die entweder entlassen oder unter Bedingungen untergebracht wurden, die den Konventionsstandards entsprechen. Angesichts dieser Überlegungen vermag der GH nicht zu erkennen, wie die von der Regierung genannten zivilrechtlichen Rechtsbehelfe unter den spezifischen Umständen des vorliegenden Falls effektiv sein hätten können.
Schlussfolgerung zur Zulässigkeit
(64) [...] Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 3 und Art 8 EMRK
(65) Die Bf brachte unter Art 3 EMRK vor, die Weigerung, ihr in der Strafanstalt Siedlce die Fortsetzung der Hormontherapie zu gestatten, hätte eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dargestellt [...] und auch eine Verletzung von Art 8 EMRK begründet [...]. [...]
(66) Die Weigerung, der Bf in der Strafanstalt Siedlce die Fortsetzung der Hormontherapie zu erlauben, kann nach Ansicht des GH sowohl unter Art 3 als auch unter Art 8 EMRK Fragen aufwerfen. Als Herr über die rechtliche Einordnung des Sachverhalts erachtet es der GH unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls jedoch als angemessener, ihn nur vom Standpunkt des Art 8 EMRK aus zu behandeln.
Eingriff oder positive Verpflichtung
(86) [...] Der Bf, einer Gefangenen, wurde ursprünglich erlaubt, sich im Zusammenhang mit einer Geschlechtsumwandlung einer Hormonersatztherapie zu unterziehen. Diese nahm diese Behandlung in zwei Gefängnissen beinahe eineinhalb Jahre lang in Anspruch, bevor sie ihr in der Strafanstalt Siedlce verwehrt wurde. Somit richtete sich ihre Beschwerde nicht gegen eine Untätigkeit seitens der innerstaatlichen Behörden, sondern vielmehr gegen die Tatsache, dass sie von den Strafvollzugsbehörden in Siedlce daran gehindert wurde, die Behandlung fortzusetzen [...].
(87) Daher wird der GH [...] von einem Eingriff in das Recht der Bf auf Achtung des Privatlebens ausgehen.
Vereinbarkeit mit Art 8 Abs 2 EMRK
(89) [...] Die gesetzliche Grundlage für die medizinische Behandlung von Gefangenen besteht in Art 115 Abs 6 Strafvollzugsgesetz [...]. Der darauf gestützte umstrittene Eingriff war daher »gesetzlich vorgesehen«. Der GH akzeptiert auch, dass der Eingriff ein legitimes Ziel verfolgte, nämlich den Schutz der Gesundheit der Bf.
(90) Somit bleibt zu prüfen, ob der aus der umstrittenen Entscheidung resultierende Eingriff als »notwendig in einer demokratischen Gesellschaft« angesehen werden kann.
(91) [...] Die im vorliegenden Fall getroffene Entscheidung, die den Zugang zu einer Hormonbehandlung betraf, berührte die Freiheit der Bf, ihre geschlechtliche Identität zu definieren, und damit eines der fundamentalsten Elemente der Selbstbestimmung. In Bezug darauf stellt der GH auch fest, dass sich die Entscheidung der Strafvollzugsbehörden auf das Recht der Bf auf sexuelle Selbstbestimmung auswirkte. Wie er bereits des Öfteren ausgesprochen hat, kann angesichts der zahlreichen und schmerzhaften Eingriffe, die mit einer Geschlechtsumwandlung einhergehen, und dem Grad an Hingabe und Überzeugung, den die Verwirklichung einer Änderung der gesellschaftlichen Geschlechterrolle erfordert, nicht behauptet werden, dass die persönliche Entscheidung, sich einem solchen Prozess zu unterziehen, auf irgendeiner Willkür oder Laune beruht.
(92) [...] Bei der Bf wurde eine Geschlechtsdysphorie diagnostiziert, nachdem sie sich selbst genital verstümmelt hatte. Daraufhin wurde ihr eine Hormonersatztherapie verschrieben, die sich den ärztlichen Berichten zufolge positiv auf ihre physische und mentale Gesundheit auswirkte. Wie der GH feststellt, wurde die Hormonersatztherapie von den Ärzten, die sie verschrieben, als notwendig erachtet. [...]
(93) Der GH muss daher festhalten, dass den innerstaatlichen Behörden starke Hinweise darauf vorlagen, dass die Hormontherapie eine angemessene medizinische Behandlung des Gesundheitszustands der Bf war. Diese Therapie wurde der Bf in den Gefängnissen, in denen sie zuvor untergebracht war, zur Verfügung gestellt und sie hatte günstige Wirkungen auf sie, wie das medizinische Personal feststellte. [...] Der Anstaltsleiter begründete die Ablehnung des Antrags der Bf einzig mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Stellungnahme eines Endokrinologen. Gleichzeitig wurde die Behandlung der Bf unterbrochen, bevor sie einen Endokrinologen konsultieren konnte. Dieihr auferlegte Bürde, die Notwendigkeit der verschriebenen medizinischen Behandlung durch eine zusätzliche Konsultation eines Endokrinologen zu beweisen, erscheint nach Ansicht des GH unter den Umständen des vorliegenden Falls unverhältnismäßig. In jedem Fall legte die Bf den Strafvollzugsbehörden eine Stellungnahme eines Endokrinologen vor, mit der die Notwendigkeit der Hormonbehandlung bestätigt wurde. Allerdings führte dies nicht dazu, dass ihrem Ansuchen stattgegeben wurde.
(94) Zugleich bemerkt der GH, dass die Regierung nicht auf irgendwelche nachteiligen Wirkungen verwies, welche die Therapie für die physische oder mentale Gesundheit der Bf hätte haben können. Auch behauptete sie nicht, dass es irgendwelche technischen und finanziellen Schwierigkeiten mit sich gebracht hätte, der Bf die Fortsetzung der Behandlung zu erlauben. [...] Die Bf trug die Kosten der Medikamente selbst und verursachte somit keine zusätzlichen Ausgaben des Staats.
(95) Es trifft zu, dass die Hormonbehandlung der Bf nur für relativ kurze Zeit von 18.7. bis 21.7.2020 unterbrochen wurde. Allerdings [...] brachte die Bf vor, ab Anfang Juli nur die Hälfte der verschriebenen Dosis eingenommen zu haben. Vor allem aber erhielt die Bf die Medikamente am 31.7.2020 nicht wegen eines plötzlichen Wandels seitens der Behörden, sondern in Folge der Empfehlung einer einstweiligen Maßnahme gemäß Art 39 VerfO durch den GH.
(96) In Anbetracht dieser Überlegungen gelangt der GH zu dem Schluss, dass es die Behörden verabsäumten, einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu treffen, einschließlich des Schutzes der Gesundheit der Bf und ihrem Interesse an der Fortsetzung der Hormontherapie [...]. Dabei berücksichtigt der GH die besondere Verletzlichkeit der Bf als inhaftierte Transgender-Person, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht, was einen verstärkten Schutz durch die Behörden verlangte [...].
(97) Folglich hat eine Verletzung von Art 8 EMRK stattgefunden (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek). Dementsprechend verwirft der GH die sich auf den Opferstatus beziehende Verfahrenseinrede der Regierung (einstimmig).
Zu den weiteren behaupteten Verletzungen
(99) [...] Der GH hat sich mit den wesentlichen Rechtsfragen befasst und sieht daher keine Notwendigkeit, die verbleibenden Vorbringen zu prüfen.
Zu Art 39 VerfO
(101) Angesichts der [...] Information, wonach die Bf seit 31.7.2020 die nötigen Medikamente erhalten hat, ist die [...] Empfehlung nach Art 39 VerfO aufzuheben (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 8.000,– für immateriellen Schaden; € 2.153,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek).
Vom GH zitierte Judikatur:
Christine Goodwin/GB, 11.7.2002, 28957/95 = NL 2002, 145 = ÖJZ 2003, 766
van Kück/DE, 12.6.2003, 35968/97 = NL 2003, 145
Schlumpf/CH, 8.1.2009, 29002/06 = NL 2009, 12
Orchowski/PL, 22.10.2009, 17885/04
Normantowicz/PL, 17.3.2022, 65196/16
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.7.2024, Bsw. 31842/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 319) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
Rückverweise
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