Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Ukraine gg Russland (Krim), Urteil vom 25.6.2024, Bsw. 20958/14.
Art 1, 2, 3, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 18, 38 EMRK - Umfassende Verwaltungspraxis der Unterdrückung der politischen Opposition gegen Russland auf der Krim .
Beschwerde 20958/14
Verletzung von Art 2 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 3 und Art 5 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 6 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 8 hinsichtlich Willkürlicher Razzien und Durchsuchungen privater Wohnhäuser EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 9 und Art 10 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 11 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 2 1. ZPEMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 2 4. ZPEMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 14 EMRK iVm Art 8, 9, 10 und 11 EMRK und Art 2 4. ZPEMRK (einstimmig).
Beschwerde 38334/18
Verletzung von Art 3 EMRK hinsichtlich den behaupteten Misshandlungen und zum Fehlen einer effektiven Untersuchung (einstimmig).
Verletzung von Art 3 EMRK hinsichtlich den Haftbedingungen im Untersuchungsgefängnis Simferopol (einstimmig).
Verletzung von Art 5, 6 und 7 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 10 und Art 11 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 18 iVm Art 5, 6, 8, 10 und 11 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: Die Frage der Anwendung von Art 41 EMRK ist [...] nicht entscheidungsreif (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Die vorliegende Rechtssache geht auf zwei am 13.3.2014 bzw 10.8.2018 von der Ukraine gegen Russland erhobene Staatenbeschwerden zurück, die sich auf Ereignisse auf der Krim nach deren Besetzung durch Russland und die folgende Eingliederung in die Russische Föderation beziehen.
Russland besetzte die einen Teil des Staatsgebiets der Ukraine bildende Krim Anfang 2014 und übt seit 27.2.2014 die effektive Kontrolle über die Halbinsel aus. Am 16.3.2014 wurde ein Referendum über den Status der Krim abgehalten und diese zwei Tage später mit einem »Beitrittsvertrag« in die Russische Föderation aufgenommen. An diesem Tag trat die russische Rechtsordnung auf der Krim in Kraft, die Gesetze der Ukraine wurden außer Geltung gesetzt.
Die Regierung der Ukraine machte in ihren beiden Staatenbeschwerden geltend, Russland sei für konventionswidrige Verwaltungspraktiken verantwortlich, die Teil einer umfassenden Kampagne zur Unterdrückung jeder politischen Opposition seien. Dabei verwies sie auf zahlreiche Beispiele des Verschwindenlassens, von Verhaftungen, strafrechtlichen Verurteilungen, Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen sowie weiterer Menschenrechtsverletzungen. Diese seien in erster Linie gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner der russischen Politik gerichtet gewesen. Sie erklärte jedoch, diese Fälle nur zur Illustration vorzutragen und die Beschwerde auf die dahinter stehende Verwaltungspraxis Russlands zu beschränken, und ersuchte den GH nicht um eine Entscheidung über die Einzelfälle.
Rechtsausführungen:
Die bf Regierung macht Russland für Verwaltungspraktiken verantwortlich, die insb gegen folgende Bestimmungen verstießen: Art 3 (hier: Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung), Art 5 (Recht auf persönliche Freiheit), Art 6 (Recht auf ein faires Verfahren), Art 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), Art 10 (Meinungsäußerungsfreiheit) und Art 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit). In der Bsw 20958/14 beschwerte sie sich auch nach Art 2 (Recht auf Leben), Art 9 (Religionsfreiheit) und Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), Art 1 1. ZPEMRK (Recht auf Achtung des Eigentums), Art 2 1. ZPEMRK (Recht auf Bildung) und Art 2 4. ZPEMRK (Freizügigkeit). In der Bsw 38334/18 berief sie sich außerdem auf Art 7 (Nulla poena sine lege) und Art 18 EMRK (Begrenzung der Rechtseinschränkungen).
Vorbemerkungen zu beiden Beschwerden
(823) Der GH erachtet es als wichtig, eingangs gewisse Aspekte der Rechtssache in Erinnerung zu rufen und bestimmte für seine Prüfung relevante Angelegenheiten [...] anzusprechen.
(825) Der GH wird den Umfang der Rechtssache (für jede Beschwerde gesondert) abgrenzen und den generellen Kontext sowie seinen in diesem Verfahrensstadium angewendeten Beweismaßstab darlegen. Weiters wird er über die Frage der Hoheitsgewalt des belangten Staats [...] entscheiden und erklären, warum der GH ungeachtet der Tatsache, dass der belangte Staat seit 16.9.2022 [...] kein Mitgliedstaat der EMRK mehr ist, für die Entscheidung des Falls zuständig ist. Sodann wird er die Frage ansprechen, ob der belangte Staat seinen prozeduralen Verpflichtungen nach Art 38 EMRK nachgekommen ist [...]. Und schließlich erachtet er es als notwendig, den angemessenen Ansatz darzulegen, den er einerseits auf die Beziehung zwischen den Bestimmungen der EMRK und jenen des humanitären Völkerrechts und andererseits auf die Frage der »Rechtmäßigkeit« iSd EMRK anwenden wird. Im Hinblick auf die letzte Frage geht es darum, ob die in Beschwerde gezogene Verwaltungspraxis anhand des Rechts der Ukraine oder jenes von Russland zu beurteilen ist. [...]
Umfang der Rechtssache
Beschwerde 20958/14
(828) [...] Die GK wird ihre Prüfung der Beschwerde in der Sache auf die »Rechtssache« beschränken, wie sie gemäß Art 30 EMRK an sie verwiesen und durch die ZE abgegrenzt wurde [...].
(830) [...] [Die von der ukrainischen Regierung in gesonderten Stellungnahmen erstatteten] weiteren Vorbringen müssen als neue Rügen angesehen werden, die nicht in den Umfang der Rechtssache fallen, die in der Sache zu prüfen ist. [...]
Beschwerde 38334/18
(832) Die bf Regierung brachte vor, die belangte Regierung sei für eine Verwaltungspraxis verantwortlich, die andauernde Verletzungen zahlreicher durch die EMRK geschützter Rechte und Freiheiten begründete. [...]
(833) In ihrer Stellungnahme vom 30.1.2023 bekräftigte die bf Regierung, dass die [...] Verwaltungspraxis unrechtmäßiger Festnahmen und systematischer Verletzungen der Rechte von ukrainischen [...] Aktivisten fortbestehe. [...]
(837) Der GH nimmt den Wunsch der bf Regierung zur Kenntnis, ihre Beschwerdevorbringen, wie sie im Beschwerdeformular vom 10.8.2018 [...] dargelegt und in den folgenden Stellungnahmen weiter ausgeführt wurden, aufrecht zu erhalten.
Umgang mit den Beweisen
Allgemeine Grundsätze
(846) [...] Die allgemeinen Grundsätze [...], die für die Beurteilung der Beweise im vorliegenden Fall relevant sind, wurden in der ZE Ukraine und Niederlande/RU dargelegt [...].
(848) Der GH erinnert wie folgt an seine etablierte Praxis betreffend die geltenden Beweisstandards:
(849) [...] Im Hinblick auf die Hoheitsgewalt wendet der GH den Maßstab des »über berechtigte Zweifel erhabenen« Beweises an. [...] Ein solcher Beweis kann sich auch aus mehreren, nebeneinander bestehenden, ausreichend starken, klaren und übereinstimmenden Schlussfolgerungen oder ähnlichen nicht widerlegten Tatsachenvermutungen ergeben.
(850) [...] Für die Zwecke der Zulässigkeit von Behauptungen betreffend eine Verwaltungspraxis ist der Maßstab des hinreichend untermauerten prima facie-Beweises anzuwenden.
(851) Bei der Beurteilung von Beweisen im Zuge der Prüfung einer behaupteten Verwaltungspraxis in der Sache hat der GH den Maßstab des »über berechtigte Zweifel erhabenen« Beweises angewendet [...].
Umgang mit den Beweisen im vorliegenden Fall
(852) Zunächst betont der GH, dass die Feststellung des Sachverhalts im Kontext eines Staatenbeschwerdeverfahrens besonders schwierig ist, das sich wie das vorliegende auf die Zeit nach einer von der bf Regierung als solcher bezeichneten »Invasion« und den mutmaßlichen Einsatz einer gerichtlichen und polizeilichen Maschinerie in den vom belangten Staat kontrollierten Gebieten für andere Zwecke als jenen, für die sie eingerichtet wurden, bezieht. Es betrifft zudem eine große Zahl von Personen und, soweit es um die Beschwerde 38334/18 geht, Ereignisse, die sich über eine erhebliche Zeitspanne [...] und ein riesiges geographisches Gebiet (Russland und die Krim) erstrecken. [...]
(853) Um unter anderem den der Beschwerde 38334/18 zugrunde liegenden Sachverhalt zu klären, forderte der GH die belangte Regierung am 2.7.2021 [...] auf, Kopien der relevanten Akten [...] vorzulegen. Sie übermittelte jedoch [...] überhaupt kein Material. [...]
(854) [...] Seit der Übermittlung der schriftlichen Stellungnahme vom 28.2.2022 hat der GH nichts mehr von der belangten Regierung gehört. [...] Sie nahm auch nicht an der Verhandlung teil, die am 13.12.2023 stattfand [...]. Dies ist keine konstruktive Beteiligung am Verfahren zur Prüfung der Rechtssache, wie sie von Art 38 EMRK verlangt wird, und der GH wird daraus die ihm relevant erscheinenden Schlüsse ziehen [...].
(856) Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor ist die fortgesetzte Verwehrung des Zugangs von Organen des bf Staats und unabhängigen Beobachtern zur Krim [...].
(859) Soweit es um die Beschwerde 20958/14 geht, [...] wird der GH von der bf Regierung vorgelegte Beweise, die sich auf Ereignisse außerhalb des zeitlichen Umfangs dieser Beschwerde (27.2.2014 bis 26.8.2015) beziehen, nur soweit berücksichtigen, als [...] dies notwendig ist, um über das Bestehen der behaupteten Verwaltungspraxis während der zu überprüfenden Zeit und die Verantwortlichkeit des belangten Staats für diese Praxis zu entscheiden. [...]
Hoheitsgewalt
(864) Der GH stellte in der ZE, soweit die Beschwerde 20958/14 betroffen ist, [...] fest, dass der belangte Staat während der gesamten zu überprüfenden Zeitspanne, nämlich von 27.2.2014 bis 26.8.2015, extraterritoriale Hoheitsgewalt über die Krim ausgeübt hat. [...] Zu prüfen bleibt daher (i) die Frage, ob die in der Beschwerde 38334/18 behauptete Verwaltungspraxis unter der Hoheitsgewalt Russlands stattfand, (ii) ob der GH angesichts der Tatsache, dass der belangte Staat [...] seit 16.9.2022 kein Vertragsstaat der Konvention mehr ist, ratione temporis zuständig ist und (iii) ob seine Zuständigkeit ratione materiae besteht.
Hoheitsgewalt in Bezug auf die Beschwerde 38334/18
(870) [...] Die Beschwerde 38334/18 betrifft nur die behauptete Verantwortlichkeit Russlands für mutmaßliche Konventionsverletzungen auf eigenem Territorium und »im von Russland okkupierten Territorium der Ukraine«. [...]
(873) In seiner ZE stellte der GH fest, dass es ausreichende Beweise für die Schlussfolgerung gab, der belangte Staat habe in der relevanten Zeit (27.2.2014 bis 26.8.2015) extraterritoriale Hoheitsgewalt über die Krim [...] ausgeübt. [...] Angesichts des Fehlens relevanter Hinweise für eine Änderung bleibt diese Schlussfolgerung für die Zeit nach dem 26.8.2015 aufrecht. [...] Folglich ist die sich auf die Zuständigkeit ratione loci beziehende Einrede der belangten Regierung zu verwerfen (einstimmig).
Zuständigkeit des GH ratione temporis
(888) [...] Der belangte Staat ist seit 16.3.2022 nicht mehr Mitglied des Europarats und seit 16.9.2022 kein Mitglied der EMRK.
(889) Der GH hat seither mehrmals bestätigt, dass er weiterhin dafür zuständig ist, gegen Russland gerichtete Beschwerden zu behandeln, die sich auf mögliche Verletzungen der Konvention durch Handlungen oder Unterlassungen beziehen, die sich vor dem 16.9.2022 ereigneten.
(890) Da sich die Tatsachen, die der Beschwerde 20958/14 zugrunde liegen, vor dem 16.9.2022 [...] ereigneten, ist der GH für die Prüfung der Beschwerde [...] zuständig.
(891) Was die Beschwerde 38334/18 betrifft muss der GH angesichts des Vorbringens der bf Regierung, die behaupteten Verwaltungspraktiken würden andauern, die Konsequenzen der Beendigung der Verpflichtungen Russlands nach der EMRK mit 16.9.2022 (dem »Beendigungsdatum«) näher prüfen.
(894) [...] Eine »andauernde Situation«, die sich über das Beendigungsdatum hinaus erstreckt, fällt nur im Hinblick auf den vor diesem Datum liegenden Teil in die zeitliche Zuständigkeit des GH. Der Grund für diesen Ansatz liegt darin, dass der belangte Staat ab dem auf das Beendigungsdatum folgenden Tag nicht länger an die Konvention gebunden ist [...]. Anderes gilt allerdings, wenn die fragliche Situation eine »andauernde« Folge einer Handlung ist, die vor dem Beendigungsdatum gesetzt wurde. [...]
(896) [...] Während sich ein Teil des der [...] Beschwerde 38334/18 zugrunde liegenden Sachverhalts vor dem 16.9.2022 ereignete [...], erstrecken sich andere Teile aufgrund ihrer fortdauernden Natur offenbar über dieses Datum hinaus.
(897) Bei der Entscheidung, ob unter den gegebenen Umständen von einer gegen die EMRK verstoßenden Verwaltungspraxis gesprochen werden kann, wird der GH auf die Zeitspanne abstellen, während der sich Verletzungen in den für illustrative Zwecke vorgebrachten Einzelfällen ereigneten [...]. Jede Schlussfolgerung über das Bestehen einer andauernden Verwaltungspraxis ist im Hinblick auf die EMRK so zu verstehen, dass sie sich längstens bis 16.9.2022 erstreckt, aber soweit es um Freiheitsentziehungen geht, die vor diesem Tag begonnen haben, wegen der anhaltenden Folgen der Haftanordnung auch darüber hinaus.
Zuständigkeit des GH ratione materiae
(898) Im Beschwerdeformular betreffend die Beschwerde 38334/18 brachte die bf Regierung vor, die Unmöglichkeit, eine Überstellung der in russischen Strafanstalten inhaftierten ukrainischen politischen Gefangenen in die Ukraine zu erreichen [...], stelle eine gegen Art 8 EMRK verstoßende Verwaltungspraxis dar. [...]
(901) Was die erste Gruppe »ukrainischer politischer Gefangener« betrifft (jene, die in Russland festgenommen und verurteilt wurden), sieht der GH die Kernfrage darin, ob die Weigerung Russlands, sie an die Ukraine zu übergeben, in den Anwendungsbereich von Art 8 EMRK fällt. [...] Es gibt keine Belege dafür, dass das russische Recht Gefangenen ein Recht einräumt, in die Ukraine verlegt zu werden. [...] Folglich kann nicht behauptet werden, dass die Gefangenen nach russischem Recht einen Anspruch auf Überstellung in ihr Heimatland haben.
(902) Wie der GH immer wieder festgestellt hat, ist es ungeachtet seines breiten Anwendungsbereichs nicht Aufgabe von Art 8 EMRK, [...] eine behauptete Lücke im Schutz der Grundrechte zu füllen, die aus der Entscheidung des belangten Staats resultiert, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, ein bestimmtes materielles Recht in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht nicht zu gewähren.
(904) Folglich erklärt der GH dieses Beschwerdevorbringen [...] für unzulässig, weil es nicht in seine Zuständigkeit ratione materiae fällt (einstimmig).
Befolgung von Art 38 EMRK
(906) In Anbetracht der fortgesetzten Zuständigkeit des GH gemäß Art 58 EMRK bleiben Art 38 EMRK und die entsprechenden Bestimmungen der VerfO auch nach dem 16.9.2022 auf die vorliegenden Beschwerden anwendbar. [...]
(907) [...] Ein Versäumnis seitens einer Regierung, ihr verfügbare Informationen zu übermitteln, ohne dies zufriedenstellend zu erklären, kann nicht nur Schlussfolgerungen über die Begründetheit der Behauptungen des Bf nach sich ziehen, sondern auch einen negativen Eindruck über den Grad der Befolgung der aus Art 38 EMRK erwachsenden Verpflichtungen durch den belangten Staat vermitteln. [...]
(908) Angesichts seiner obigen Feststellungen (siehe oben Rz 853 f) ist der GH der Ansicht, dass die belangte Regierung es verabsäumt hat, dem GH alle zur wirksamen Durchführung der Ermittlungen erforderlichen Erleichterungen zu gewähren, wie dies von Art 38 EMRK und Art 44A VerfO verlangt wird.
(909) Unter Berücksichtigung des nicht erklärten Versäumnisses der belangten Regierung, das erbetene Material vorzulegen, stellt der GH eine fehlende Kooperation [...] fest, die die Fähigkeit des GH, wichtige Aspekte des gegenständlichen Falls zu klären, unnötig beeinträchtigte. [...] Dementsprechend stellt der GH fest, dass es die belangte Regierung verabsäumt hat, ihren Verpflichtungen nach Art 38 EMRK zu entsprechen (einstimmig).
Verhältnis zwischen der EMRK und dem humanitären Völkerrecht
(913) Die relevanten Grundsätze betreffend das Verhältnis zwischen dem Recht der EMRK und dem humanitären Völkerrecht wurden [...] in Hassan/GB zusammengefasst. [...]
(915) In Georgien/RU (II) stellte der GH fest, dass »das humanitäre Völkerrecht im Allgemeinen in der Situation einer ›Okkupation‹ anwendbar ist« und klärte das Verhältnis zwischen »Okkupation« und »effektiver Kontrolle« als für die Hoheitsgewalt iSv Art 1 EMRK relevanten Begriff. [...] Wenn eine »Okkupation« iSd humanitären Völkerrechts vorliegt, wird demnach auch »effektive Kontrolle« iSd Rsp des GH gegeben sein [...] (Georgien/RU [II], Rz 196).
(916) In Chiragov ua/AM (Rz 96) definierte der GH den Begriff der »Okkupation« iSd humanitären Völkerrechts wie folgt: »Okkupation [...] liegt vor, wenn ein Staat die tatsächliche Befehlsgewalt über das Gebiet oder einen Teil des Gebiets eines feindlichen Staats ausübt. Die Voraussetzung der tatsächlichen Befehlsgewalt wird weitgehend als übereinstimmend mit jener der effektiven Kontrolle verstanden. Von einer militärischen Okkupation in einem Gebiet [...] wird ausgegangen, wenn folgende Faktoren nachgewiesen werden können: die Anwesenheit fremder Truppen, die in der Lage sind, ohne Zustimmung des Souveräns effektive Kontrolle auszuüben. [...]«
(917) Im vorliegenden Fall ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Zweigen des Völkerrechts im Licht der oben dargelegten Grundsätze und im Kontext der Feststellungen zur Hoheitsgewalt des belangten Staats über die Krim (siehe oben Rz 864) zu betrachten.
(918) Unter diesen Umständen sprechen die Tatsachen, aufgrund derer der belangte Staat durch »effektive Kontrolle« extraterritoriale Hoheitsgewalt über die Krim erlangte und während der relevanten Zeitspanne weiterhin ausübte, nach Ansicht des GH dafür, bei der Auslegung der im vorliegenden Fall berührten Konventionsrechte die einschlägigen Bestimmungen des humanitären Völkerrechts zu berücksichtigen [...]. [...] Der GH wird daher bei der Beurteilung der Vereinbarkeit einer behaupteten Verwaltungspraxis mit den Konventionsrechten die Regeln des humanitären Völkerrechts beachten, soweit sich die bf Regierung auf diese berufen hat. [...]
(919) Dieser Zugang [...] bezieht sich nicht auf Angelegenheiten des völkerrechtlichen Status der Krim, der [...] außerhalb des Umfangs dieser Rechtssache liegt.
Zur allgemeinen Frage der »Rechtmäßigkeit« iSd EMRK
(920) Bei ihren Überlegungen über die Notwendigkeit, den Charakter oder die rechtliche Grundlage der Hoheitsgewalt des belangten Staats über die Krim zu bestimmen (also ob er territoriale oder extraterritoriale Hoheitsgewalt ausübte), wies die GK in ihrer ZE unter anderem auf den engen Zusammenhang hin zwischen der allgemeinen Frage der »Rechtmäßigkeit« iSd EMRK und der Gesetzmäßigkeit des auf der Krim nach dem 18.3.2014 (dem Datum der Unterzeichnung des »Beitrittsvertrags«) funktionierenden Gerichtssystems. [...] Demnach werde »unter Art 6 Abs 1 EMRK eine Verletzung des Erfordernisses eines ›auf Gesetz beruhenden Gerichts‹ behauptet, und zwar aufgrund der ›unrechtmäßigen Umqualifizierung von ukrainischen Urteilen nach russischem Recht [...]‹. Im Fall einer Beurteilung dieser Beschwerde [...] in der Sache hätte der GH daher [...] die Bestimmungen des ›innerstaatlichen‹ Rechts zu berücksichtigen. Dies würde erfordern zu bestimmen, was das geltende ›innerstaatliche‹ Recht sei. [...]«
(921) Zudem stellte die bf Regierung [...] sowohl die generelle Rechtmäßigkeit als auch die Gesetzmäßigkeit des Gerichtssystems auf der Krim in Frage. Beide Parteien behaupteten außerdem, dass das Gerichtssystem auf der Krim ab dem 18.3.2014 auf dem »Beitrittsvertrag« und der einschlägigen Gesetzgebung Russlands beruhe. Aus diesen Gründen erachtet es der GH als angemessen, diese beiden Fragen gemeinsam zu prüfen.
(922) Die bf Regierung brachte [...] vor, die gerügten Verwaltungspraktiken würden nicht der Anforderung der Rechtmäßigkeit iSd EMRK entsprechen, weil der Begriff des »Gesetzes« in Art 5 bis Art 11 EMRK, Art 1 1. ZPEMRK und Art 2 4. ZPEMRK so zu verstehen sei, dass er auf die Gesetze der Ukraine und nicht jene Russlands verweise. Da die Praktiken [...] auf Gesetzen Russlands beruht hätten, wären sie nicht rechtmäßig gewesen und hätten somit gegen die EMRK verstoßen. [...]
(924) In Loizidou/TR befasste sich der GH mit dem Argument der belangten Regierung, die Bf habe ihr Eigentum an einigen Grundstücken in Anwendung »von Art 159 der Verfassung der ›Türkischen Republik Nordzypern‹ verloren [...]«. [...] In diesem Urteil [stellte der GH fest], dass die »Türkische Republik Nordzypern« von der Staatengemeinschaft nicht als Staat [...] angesehen werde und die Republik Zypern weiterhin die einzige legitime Regierung Zyperns sei [...]. Vor diesem Hintergrund könne der GH einer Bestimmung wie Art 159 der Verfassung [...] keine Rechtsgültigkeit [...] zusprechen. [...]
(925) Im Urteil Mozer/MD und RU, das Ereignisse in der »Moldawischen Republik Transnistrien« betraf, fasste der GH die allgemeinen Grundsätze betreffend die »Rechtmäßigkeit von Handlungen nicht anerkannter Entitäten« zusammen. [...]
(926) [...] Der GH bekräftigte in Mozer/MD und RU, dass es stets das primäre Anliegen sein müsse, den effektiven Schutz der Konventionsrechte auf dem Gebiet aller Vertragsparteien sicherzustellen, selbst wenn ein Teil dieses Gebiets unter der effektiven Kontrolle eines anderen Vertragsstaats stehe. Weiters hielt er fest, dass er »bei der Einschätzung, ob die Gerichte einer nicht anerkannten Entität [...] Teil eines auf einer mit der EMRK vereinbaren verfassungsmäßigen Grundlage beruhenden Gerichtssystems sind«, der Frage Gewicht beimessen wird, ob sie als unabhängig und unparteiisch angesehen werden können und auf der Grundlage der Rechtsstaatlichkeit arbeiten. [...]
(927) In Mozer/MD und RU verwies der GH auf folgende Feststellungen in Ilaşcu ua/MD und RU: »[...] Unter bestimmten Umständen kann ein Gericht, das zum Justizsystem einer völkerrechtlich nicht anerkannten Entität gehört, als ›auf Gesetz beruhendes Gericht‹ angesehen werden, vorausgesetzt es ist Teil eines auf einer verfassungsmäßigen und gesetzlichen Grundlage beruhenden Gerichtssystems, das eine mit der Konvention vereinbare gerichtliche Tradition widerspiegelt [...].«
(929) Die oben genannten Beispiele aus der Rsp des GH können in zwei Kategorien eingeteilt werden. Auf der einen Seite stellte der GH in Loizidou/TR fest, dass die Handlungen (die Verfassung) einer international nicht anerkannten Entität (der »Türkischen Republik Nordzypern«) keine rechtliche Gültigkeit hatten. Auf der anderen Seite betrafen die übrigen Fälle die Frage der Rechtmäßigkeit der Handlungen solcher Entitäten und die Frage, ob diese »eine mit der Konvention vereinbare gerichtliche Tradition widerspiegelten«.
(931) Nach Ansicht des GH ist der vorliegende Fall aus den folgenden Gründen von den oben genannten Fällen zu unterscheiden: Erstens war der GH in keinem dieser Fälle dazu aufgerufen, die EMRK im Licht des humanitären Völkerrechts auszulegen [...]. Zweitens bezogen sich die oben genannten Fälle nicht direkt auf die Frage, ob das von den lokalen oder föderalen Behörden (Gerichten) angewendete Recht, das den Anlass für die fraglichen Beschwerden gab, als »Gesetz« iSd EMRK angesehen werden konnte. Drittens unterschieden sich die in der zweiten Kategorie von Fällen angewendeten »Gesetze« wesentlich von den im vorliegenden Fall angewendeten »Gesetzen«.
(932) Während die oben genannten Fälle die »Gesetze« völkerrechtlich nicht anerkannter Entitäten betrafen, geht es im vorliegenden Fall zudem um die Anwendung von russischem Recht und Handlungen der auf der Krim nach der Herstellung »effektiver Kontrolle« über dieses Gebiet arbeitenden »russischen Gerichte«.
(933) Folglich ist dies der erste Fall, in dem der GH entscheiden muss, ob das Recht Russlands, das als rechtliche Grundlage der gerügten Maßnahmen diente, [...] als »Gesetz« im Sinne der relevanten Bestimmungen der EMRK angesehen werden kann.
(934) Wie der GH oben bestätigt hat, ist im vorliegenden Fall das humanitäre Völkerrecht zu berücksichtigen. [...]
(938) Art 43 der Haager Landkriegsordnung (Anm: Abkommen vom 18.10.1907 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges.) verpflichtet die Besatzungsmacht, die im besetzten Gebiet geltenden Gesetze zu beachten, »soweit kein zwingendes Hindernis besteht«. Dies bedeutet, dass die Besatzungsmacht die im besetzten Gebiet (vor der Okkupation) geltenden Gesetze aufrechterhalten muss und sie weder ändern oder außer Kraft setzen noch durch ihre eigene Rechtsordnung ersetzen darf. Das vorgefundene Rechtssystem kann nur geändert werden, wenn dies »notwendig« ist [...].
(939) Art 64 der Vierten Genfer Konvention von 1949 (Anm: Genfer Abkommen vom 12.8.1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten.) [...] enthält eine verbindliche Erklärung des Begriffs der »Notwendigkeit«. Demnach »bleiben die Strafgesetze des besetzten Gebietes in Kraft« und »die Gerichte des besetzten Gebietes sollen fortfahren, alle durch die erwähnten Gesetze erfassten Vergehen zu behandeln«. Allerdings ist es in den folgenden Ausnahmesituationen erlaubt, die bestehenden Gesetze endgültig oder vorübergehend außer Kraft zu setzen: (i) zur Gewährleistung der Sicherheit der Besatzungsmacht [...]; (ii) zur Erfüllung der aus der Genfer Konvention erwachsenden Verpflichtungen der Besatzungsmacht und (iii) zur Aufrechterhaltung einer »ordentlichen Verwaltung« des besetzten Gebietes. [...]
(941) Von Bedeutung ist weiters Art 47 der Vierten Genfer Konvention, der bestimmt, dass den geschützten Personen im besetzten Gebiet durch institutionelle Änderungen die durch diese Konvention gewährten Vorteile nicht entzogen werden dürfen.
(942) Der Begriff der »Rechtmäßigkeit« iSd EMRK ist vom GH im Licht dieser Bestimmungen des humanitären Völkerrechts auszulegen. Die sich aus diesen Regeln ergebende grundlegende Prämisse besteht darin, dass – solange keine der vom humanitären Völkerrecht anerkannten engen Ausnahmen vorliegt – das in »wiederholten Handlungen« bestehende Element der Verwaltungspraxis [...] nur als »rechtmäßig« oder »auf Gesetz beruhend« angesehen werden kann, soweit es seinen Ursprung im ukrainischen Recht hat und nicht auf russischem Recht, dem Recht der »Besatzungsmacht«, beruht.
(944) [...] Die belangte Regierung brachte keine Argumente (oder Beweise) dafür vor, dass es notwendig war, die ukrainischen Gesetze durch die russischen zu ersetzen, weil erstere »eine Gefahr für die Sicherheit [der Krim] oder ein Hindernis bei der Anwendung der [Vierten Genfer] Konvention« darstellte, wie in Art 64 der Vierten Genfer Konvention vorgesehen. Während sie bestätigte, dass die gerügten Maßnahmen eine Grundlage im russischen Recht hatten, erklärte sie nicht, warum es notwendig war, das auf der Krim geltende ukrainische Recht durch Bestimmungen des russischen Rechts zu ersetzen. [...] Zu berücksichtigen ist weiters, dass es auf der Krim jedenfalls nach dem 18.3.2014 zu einer generellen und vollständigen Beseitigung des ukrainischen Rechts gekommen ist, ohne Rücksicht auf die individuellen Umstände und potenziellen Bedürfnisse der Bevölkerung der Krim [...] oder die Notwendigkeit, die ordentliche Verwaltung aufrecht zu erhalten. [...]
(945) Folglich weist nichts darauf hin, dass eine derartige generelle Anwendung des russischen Rechts den geänderten (gesellschaftlichen oder sonstigen) Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung entsprach. [...]
(946) [...] Der belangte Staat hat somit dadurch, dass er die Geltung seiner Rechtsordnung auf die Krim erstreckte, gegen die im Licht des humanitären Völkerrechts ausgelegte Konvention verstoßen. Folglich kann das russische Recht nicht als »Gesetz« iSd Konvention angesehen werden und jede auf diesem Recht beruhende Verwaltungspraxis nicht als »rechtmäßig« oder »auf Gesetz beruhend«. Die Konsequenzen dieser Schlussfolgerung werden unten detaillierter und in jenem Ausmaß ausgeführt, das im Hinblick auf jede behauptete Verletzung geboten ist [...].
Zum Begriff der Verwaltungspraxis
(948) Die Bedeutung des Begriffs der »Verwaltungspraxis« wurde in den frühen Staatenbeschwerdeverfahren entwickelt und erklärt [...] und vom GH kürzlich in der ZE Ukraine und Niederlande/RU wie folgt bekräftigt: »Eine Verwaltungspraxis verlangt den Nachweis von zwei Elementen, nämlich der Wiederholung der Handlungen, welche die behauptete Verletzung begründen, und deren offizieller Duldung.« [...]
Zur Beschwerde 20958/14
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 EMRK
(950) Die bf Regierung beschwerte sich [...] über ein Muster des Verschwindenlassens mutmaßlicher Gegner der russischen »Okkupation« (insb ukrainischer Soldaten, ethnischer Ukrainer und Tataren) sowie über das Fehlen einer angemessenen Untersuchung solcher Vorwürfe. [...]
(964) In [...] der ZE kam der GH anhand der damals vorliegenden Beweise zu dem Schluss, dass [...] es einen ausreichenden prima facie-Beweis für die behauptete Praxis des Verschwindenlassens während des untersuchten Zeitraums gab. Die bf Regierung verwies in ihrer Stellungnahme [...] hauptsächlich auf die Berichte des Amts des UN-Hochkommissars für Menschenrechte von 2017 und 2018 und sein Hintergrundpapier von 2021. [...]
(968) Anhand dieses Materials kann davon ausgegangen werden, dass sich im überprüften Zeitraum (27.2.2014 bis 26.8.2015 [...]) rund 30 Fälle des Verschwindenlassens ereigneten. [...] Im anschließenden Zeitraum bis Ende 2018 gab es weitere Fälle. Die Gesamtzahl der dokumentierten Fälle des Verschwindenlassens zwischen 2014 und 2018 beträgt 43.
(969) [...] Der Verbleib von acht [...] entführten Personen ist nach wie vor ungeklärt [...]. Angesichts der seit ihrer Entführung verstrichenen Zeit und des Fehlens jeder verlässlichen Nachricht über ihr Schicksal ist anzunehmen, dass sie tot sind.
(970) Allerdings ist die Prüfung der Beschwerde über das Bestehen einer Verwaltungspraxis des Verschwindenlassens [...] nicht auf diese Personen zu beschränken [...]. Obwohl die Vermutung des Todes nur auf sie zutrifft, erachtet der GH die folgenden Faktoren für besonders relevant: den Gesamtkontext der großen Zahl an Fällen irregulärer Freiheitsentziehung und die vergleichsweise kurze Zeitspanne, während der die Entführungen stattfanden; die verfügbaren Beweise, die dafür sprechen, dass diese entweder von den »Selbstverteidigungstruppen der Krim« (Anm: Diese irreguläre Miliz hatte bei der Besetzung der Krim eng mit Russland kooperiert und wurde am 17.3.2014 rechtlich anerkannt.), den Kosaken, Soldaten der russischen Armee oder Agenten des FSB durchgeführt wurden – Handlungen all dieser Täter begründeten die Verantwortlichkeit des belangten Staats unabhängig davon, ob er im Einzelnen Kontrolle über deren Vorgehen hatte; die Tatsache, dass die Opfer überwiegend pro-ukrainische Aktivisten, Journalisten und Krimtataren waren, die [...] als Gegner der damaligen Ereignisse auf der Krim angesehen wurden; die Tatsache, dass die Entführungen einem bestimmten Muster folgten und zur Einschüchterung und Verfolgung im Rahmen einer umfassenden Strategie des belangten Staats dienten, die Opposition gegen die russische »Okkupation« der Krim zu unterdrücken. [...] Angesichts dieser Faktoren geht der GH davon aus, dass es im überprüften Zeitraum zu »ausreichend zahlreichen« Fällen von Entführungen gekommen ist, um ein Muster oder System (»Wiederholung von Handlungen«) darzustellen. Dieses Phänomen ist als solches als lebensbedrohend anzusehen, was die Anwendbarkeit von Art 2 EMRK auf diese Verwaltungspraxis nach sich zieht. Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass die meisten der Entführten kurz nach ihrem Verschwinden freigelassen wurden.
(971) Das Beweismaterial zeigt auch durchgehend, dass die Strafverfolgungsbehörden des belangten Staats keine effektive Untersuchung durchführten [...]. Zudem stellte die belangte Regierung dem GH keine diesbezüglichen Informationen zur Verfügung [...].
(972) Dieser Unwille der Behörden des belangten Staats, die Vorwürfe [...] zu untersuchen und [...] mit dem GH zu kooperieren, spricht ebenfalls für das Bestehen einer »offiziellen Duldung« [...]. [...]
(973) Unter diesen Umständen ist das Bestehen einer Verwaltungspraxis [...], die sich sowohl auf den materiellen als auch auf den prozeduralen Aspekt des Art 2 EMRK bezieht, in einem über vernünftige Zweifel erhabenen Maße bewiesen. Zudem liegt ausreichendes Beweismaterial für [...] die Verantwortlichkeit des belangten Staats [...] vor.
(974) Folglich hat eine Verletzung von Art 2 EMRK aufgrund einer Verwaltungspraxis des Verschwindenlassens und des Fehlens einer effektiven Untersuchung des behaupteten Bestehens einer solchen Verwaltungspraxis stattgefunden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 3 und Art 5 EMRK
(975) Die bf Regierung rügte [...] ein Muster der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung und Folter sowie der unrechtmäßigen Inhaftierung von vermeintlichen Gegnern der russischen »Okkupation«, insb von ukrainischen Soldaten, ethnischen Ukrainern und Tataren sowie von Journalisten. [...]
(989) Die Aussagen von Zeugen und Opfern [...] über behauptete Entführungen, Anhaltungen und Misshandlungen, die auf den ersten Blick wahr und glaubwürdig erscheinen, stimmen mit den Informationen in den Berichten [des Hochkommissars für Menschenrechte und anderer Internationaler Organisationen] überein. [...]
(990) Die belangte Regierung ging auf die Beschwerde unter Art 3 EMRK nicht in der Sache ein [...] und legte keine Aufzeichnungen [betreffend die Freiheitsentziehungen] vor [...]. [...]
(991) Dies hindert den GH daran, die Rechtmäßigkeit konkreter Fälle von Freiheitsentziehungen [...] zu prüfen. [...] Angesichts des Fehlens jeglicher relevanter Unterlagen kann der GH nicht darüber spekulieren, ob und in welchem Umfang es unter den gegebenen Umständen nach [...] dem humanitären Völkerrecht gerechtfertigt war, das russische Strafrecht anzuwenden. [...]
(992) Unter diesen Umständen [...] liegen dem GH ausreichende Beweise für die über vernünftige Zweifel erhabene Schlussfolgerung vor, dass es während des überprüften Zeitraums eine Häufung identischer oder vergleichbarer Verstöße gegen Art 5 und/oder Art 3 EMRK gab, die ausreichend zahlreich und zusammenhängend sind, um ein Muster oder System der Misshandlung und unrechtmäßigen Freiheitsentziehung zu bilden.
(993) Zudem geht aus den verfügbaren Beweisen hervor, dass solche Handlungen direkt von Mitgliedern der »Selbstverteidigungstruppen der Krim«, Kosaken, dem Geheimdienst der Krim oder dem FSB, der Polizei oder russischen Soldaten begangen wurden oder diese Kenntnis davon hatten.
(994) Was die »offizielle Duldung« der behaupteten Verwaltungspraxis betrifft [...], verweist der GH auf seine Feststellung in der ZE [...], wonach dieses Element dem erforderlichen Standard entsprechend nachgewiesen wurde.
(995) Der GH sieht keinen Grund, von dieser Feststellung in diesem Verfahrensstadium abzuweichen, das natürlich einen höheren Beweismaßstab erfordert [...]. [...] Die ihm verfügbaren Beweise erlauben die über vernünftige Zweifel erhabene Feststellung, dass das Element der »offiziellen Duldung« [...] vorliegt. [...]
(996) Angesichts der Feststellungen des GH über die Hoheitsgewalt des belangten Staats [...] über die Krim war dieser auch für die Handlungen all jener Täter verantwortlich, die nicht der russischen Armee angehören, ohne dass es notwendig ist, »detaillierte Kontrolle« hinsichtlich jeder einzelnen ihrer Handlungen nachzuweisen.
(997) Angesichts all dieser Faktoren kommt der GH zu dem Schluss, dass es eine gegen Art 3 EMRK verstoßende Verwaltungspraxis betreffend die Behandlung ukrainische Soldaten, ethnischer Ukrainer und Tataren sowie von Journalisten gab [...].
(998) Weiters gelangt der GH zum Ergebnis, dass es eine mit Art 5 EMRK unvereinbare Verwaltungspraxis betreffend die Anhaltung dieser Personengruppen [...] gab. Zudem [...] wurde diese gerügte Praxis auf der Grundlage des russischen Rechts angewendet und kann daher jedenfalls nicht als »rechtmäßig« iSd EMRK angesehen werden.
(999) Folglich hat eine Verletzung von Art 3 und Art 5 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 6 EMRK
(1000) Die Rüge der bf Regierung unter Art 6 EMRK [...] betrifft die Behauptung, dass das Gerichtssystem auf der Krim ab 27.2.2014 nicht als »auf Gesetz beruhend« iSv Art 6 EMRK angesehen werden konnte. [...]
(1016) [...] Ab dem Zeitpunkt der nach russischem Recht vollzogenen Aufnahme der Krim in die Russische Föderation arbeitete die Gerichtsbarkeit auf der Krim auf der Grundlage des russischen Rechts [...]. [...]
(1018) [...] Die oben in Rz 944 f dargelegten generellen Argumente betreffend die »Rechtmäßigkeit« iSd EMRK gelten gleichermaßen für die hier zu beantwortenden Fragen. Insb berief sich die belangte Regierung nicht auf das humanitäre Völkerrecht oder eine der darin vorgesehenen Ausnahmen. [...] Sie erklärte nicht, warum es notwendig war, das gesamte ukrainische Rechts- und Justizsystem durch jenes Russlands zu ersetzen.
(1019) Unter diesen Umständen kann das auf der Krim nach dem »Beitrittsvertrag« arbeitende Gerichtssystem [...] nicht iSv Art 6 EMRK als »auf Gesetz beruhend« angesehen werden. [...] Das Versäumnis, dieser Anforderung zu entsprechen, ist [...] so gravierend, dass das Bestehen von derartigen »Tribunalen« die gesamte Rechtspflege durch solche »Tribunale« verdirbt.
(1020) Es ist daher [...] nicht notwendig, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit einzelner Richter [...] gesondert zu prüfen [...] oder auf die Folgen dieser Mängel für die ordnungsgemäße Rechtspflege [...] einzugehen.
(1021) [...] Diese Situation war eine Folge des »Beitrittsvertrags« und der nach russischem Recht erfolgten Aufnahme der Krim in die Russische Föderation. Sie resultierte aus regulatorischen Maßnahmen genereller Art, die im gesamten Gebiet der Krim galten. Sie waren für alle Gerichte bindend und in allen gerichtlichen Verfahren auf alle betroffenen Personen anwendbar. Diese Faktoren sind ausreichende Beweise für eine diesbezügliche Verwaltungspraxis.
(1022) Folglich hat eine Verletzung von Art 6 EMRK durch eine Verwaltungspraxis stattgefunden, aufgrund derer zumindest nach Inkrafttreten des »Beitrittsvertrags« die Gerichte auf der Krim nicht iSv Art 6 EMRK als »auf Gesetz beruhend« angesehen werden konnten (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK
(1023) Die Beschwerden [...] unter Art 8 EMRK [...] betrafen das behauptete Bestehen einer Verwaltungspraxis hinsichtlich (a) der (Un)möglichkeit der Ablehnung der russischen Staatsbürgerschaft [...]; (b) willkürlichen Razzien in privaten Gebäuden vermeintlicher Gegner der russischen »Okkupation« [...] und (c) die Überstellung von »Verurteilten« in das Territorium Russlands, was von der bf Regierung erstmals in ihrer Stellungnahme [...] vom 28.12.2018 geltend gemacht wurde. [...]
Zur behaupteten Unmöglichkeit, die russische Staatsbürgerschaft abzulehnen
(1032) Der GH wird [...] die Beschwerde prüfen, wie sie in der ZE eingegrenzt wurde, nämlich auf die praktische Umsetzung der Möglichkeit, die russische Staatsbürgerschaft abzulehnen, die allen Bewohnern der Krim [...] automatisch verliehen wurde. Er wird nicht prüfen, ob eine solche automatische Verleihung als solche eine Verletzung der im Licht des humanitären Völkerrechts ausgelegten EMRK begründete [...]. [...] Die wesentliche Konsequenz der Ablehnung bestand darin, Fremder im eigenen Land zu werden. [...]
(1033) Angesichts [...] der schwierigen und unmöglichen Wahl für die Betroffenen, entweder dauerhaft mit der russischen Staatsbürgerschaft und den Folgen zu leben oder diese abzulehnen, ist Art 8 EMRK [...] anwendbar. Zudem stellte das [...] behauptete Fehlen eines effektiven Systems für die Ablehnung der [...] automatisch verliehenen russischen Staatsbürgerschaft einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens dar. [...]
(1036) Der GH betont das enge Zusammenspiel zwischen der automatischen Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft und dem System der Ablehnung [...]. Erstere [...] fällt nicht in den Umfang der Rechtssache, wie er durch die ZE begrenzt wurde und kann daher vom GH nicht geprüft werden. Daher wird sich der GH nicht zur Frage der Rechtmäßigkeit des daraus resultierenden Systems für die Ablehnung der russischen Staatsbürgerschaft äußern. Allerdings ist er aus folgenden Gründen der Ansicht, dass dieses den Betroffenen in jedem Fall eine unverhältnismäßige Bürde auferlegte.
(1037) [...] Berichte von Internationalen Organisationen und NGOs [...] verwiesen auf zahlreiche Hindernisse und Beschränkungen bei der praktischen Durchführung der Ablehnung, einschließlich der »außerordentlich kurzen Frist« [...], der beschränkten Informationen über das Verfahren und der geringen Zahl an Stellen, wo Personen ihre Absicht erklären konnten, die Staatsbürgerschaft abzulehnen. Insb war das Verfahren effektiv nur 18 Tage lang verfügbar [...], und es nahmen ursprünglich nur zwei und letztendlich neun Büros solche Erklärungen entgegen [...]. [...] Zudem gab es keine klaren Richtlinien dafür, ob Personen, die sich außerhalb der Krim befanden, bei den russischen Botschaften und Konsulaten erklären konnten, die Staatsbürgerschaft abzulehnen. [...]
(1038) [...] Diese Mängel ergaben sich nicht direkt aus dem Gesetz, sondern waren Resultat der praktischen Umsetzung [...]. Durch ihr Ausmaß und ihre Intensität hinderten sie die betroffene Bevölkerung der Krim daran, effektiven Gebrauch von der Möglichkeit zu machen, die russische Staatsbürgerschaft abzulehnen.
(1039) Folglich hat eine Verletzung von Art 8 EMRK durch eine Verwaltungspraxis stattgefunden, die im Fehlen eines effektiven Systems zur Ablehnung der russischen Staatsbürgerschaft bestand (einstimmig).
Willkürliche Razzien und Durchsuchungen privater Wohnhäuser
(1044) In seiner ZE kam der GH zum Schluss, dass die Berichte des Menschenrechtskommissars [des Europarats] von 2014, des Hochkommissars für Menschenrechte von 2017 und von Human Rights Watch von 2014 ausreichende prima facie-Beweise für die behauptete »Wiederholung von Handlungen« [...] lieferten. [...] Zudem verwies er auf [...] Beweise für die »offizielle Duldung« der Verwaltungspraxis [...].
(1045) Im aktuellen Verfahrensstadium legte die bf Regierung [...] weitere Berichte von NGOs und Zeugenaussagen vor, die die behaupteten Razzien und Durchsuchungen [...] in großem Umfang bestätigen. [...]
(1046) Die belangte Regierung widerlegte weder die vorgebrachten Tatsachen noch brachte sie Gegenargumente vor.
(1047) Angesichts des Vorstehenden liegen [...] ausreichende Beweise vor, die in einem über vernünftige Zweifel erhabenen Maße beweisen, dass es in der untersuchten Zeitspanne ausreichend zahlreiche und zusammenhängende Durchsuchungen privater Wohnhäuser gab, die durch den belangten Staat »offiziell geduldet« wurden. Diese stellten Eingriffe in die durch Art 8 EMRK geschützten Rechte dar.
(1050) Davon ausgehend, dass die umstrittenen Maßnahmen auf den Gesetzen Russlands beruhten, verweist der GH auf seine obige Begründung, wonach das russische Recht nicht als »Gesetz« iSd EMRK angesehen werden kann. Außerdem gelten die oben in den Rz 944 und Rz 991 dargelegten Überlegungen, soweit relevant, gleichermaßen für diesen Punkt. Daher kann die Verwaltungspraxis, für die der belangte Staat verantwortlich ist, nicht als »rechtmäßig« angesehen werden [...].
(1052) Vor diesem Hintergrund erachtet es der GH als in einem über vernünftige Zweifel erhabenen Maße erwiesen, dass es während des geprüften Zeitraums eine Verwaltungspraxis willkürlicher Razzien und Durchsuchungen privater Wohnhäuser gab, die nicht »gesetzlich vorgesehen« war. Daher hat eine Verletzung von Art 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Zwangsweise Überstellung von Verurteilten
(1053) [...] Dieser Beschwerdepunkt wird [...] in dem sich auf die Beschwerde 38334/18 beziehenden Teil [dieses Urteils] geprüft [siehe unten Rz 1279 ff].
Zur behaupteten Verletzung von Art 9 EMRK
(1054) Die Beschwerde [...] unter Art 9 EMRK [...] betraf das behauptete Bestehen einer Verwaltungspraxis der Belästigung und Einschüchterung religiöser Führer, die nicht dem russisch-orthodoxen Glauben angehörten [...], willkürlichen Razzien in Gotteshäusern und der Beschlagnahme von religiösen Besitztümern. [...]
(1067) [...] Die Behauptungen der bf Regierung [...] stimmen mit den Schlussfolgerungen in den Berichten zahlreicher NGOs überein. Diese beziehen sich auf eine »Reihe von gegen Vertreter der Minderheitenreligionen und ihre religiösen Einrichtungen gerichteten Vorfällen«. [...] Die mutmaßlichen Opfer dieser Vorfälle waren [...] Priester christlicher Konfessionen, die nicht der russisch-orthodoxen Kirchen angehörten, Imame und andere Anhänger des Islam. [...] Zudem gab es einen erheblichen Rückgang der Zahl der auf der Krim agierenden religiösen Organisationen. [...]
(1070) Unter diesen Umständen gelangt der GH angesichts der verfügbaren Beweise, deren Verlässlichkeit er anerkennt, zur Feststellung, dass es während des untersuchten Zeitraums ausreichend zahlreiche und zusammenhängende Vorfälle gab, die eine »Verwaltungspraxis« von Eingriffen in die durch Art 9 EMRK geschützten Rechte gab. Diese bestanden bspw in der Hinderung von Priestern am Zugang zu Gotteshäusern, polizeilichen Befragungen, Hausdurchsuchungen und der Beschlagnahme von Büchern, Aufzeichnungen und sonstigen Gegenständen, der Nichtverlängerung oder Entziehung von Aufenthaltstiteln ausländischer Priester und der Beschlagnahme religiöser Publikationen.
(1072) [...] Die belangte Regierung verwies auf mehrere föderale Gesetze Russlands und Verordnungen der lokalen Behörden der Krim [...]. Diese Verweise waren allerdings allgemeiner Art und es wurde nicht vorgebracht, dass [...] irgendeiner der oben genannten Vorfälle auf einer der [...] genannten gesetzlichen Bestimmungen beruhte.
(1073) Der GH ist daher davon überzeugt, dass es eine Ansammlung identischer oder vergleichbarer Verstöße gab, die ausreichend zahlreich und zusammenhängend waren, um ein Muster oder System zu ergeben (Wiederholung von Handlungen), das nicht als »rechtmäßig« iSd EMRK angesehen werden kann.
(1074) Was das der Verwaltungspraxis innewohnende Element der »offiziellen Duldung« betrifft, [...] weist das verfügbare Material auf mehrere mutmaßliche Täter [...] hin, nämlich »bewaffnete und maskierte Mitglieder der Sicherheitskräfte«, Beamte des FSB, Kosaken und Mitglieder der »Selbstverteidigungstruppen der Krim« oder anderer »lokaler pro-russischer Milizen«. Der GH verweist in diesem Zusammenhang auf seine Überlegungen in Rz 994 und 996 oben betreffend die Verantwortlichkeit des belangten Staats für die Handlungen lokaler Milizen und russischer Soldaten, die gleichermaßen für die hier behandelten Vorwürfe gelten und von der belangten Regierung nicht bestritten wurden. [...]
(1075) Sofern der umstrittene Eingriff auf einem der oben genannten russischen Gesetze beruhte, verweist der GH auf seine obige Begründung, wonach das russische Recht nicht als »Gesetz« iSd EMRK angesehen werden kann und jede einzelne der Handlungen, die die umstrittene Praxis bilden, in Bezug auf die Anforderungen des ukrainischen – und nicht des russischen – Rechts zu prüfen ist. [...]
(1076) [...] Die belangte Regierung hat weder versucht, ein legitimes Ziel zu nennen, noch brachte sie Argumente betreffend die Verhältnismäßigkeit der umstrittenen Eingriffe vor.
(1077) Vor diesem Hintergrund erachtet es der GH als in über vernünftige Zweifel erhabenem Maße erwiesen, dass der belangte Staat im untersuchten Zeitraum für eine rechtswidrige Verwaltungspraxis verantwortlich war, die in der Belästigung und Einschüchterung religiöser Führer, die nicht der russisch-orthodoxen Kirche angehörten [...], willkürlichen Razzien in Gotteshäusern und der Beschlagnahme religiöser Besitztümer bestand. Folglich hat eine Verletzung von Art 9 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 10 EMRK
(1078) Die [...] zu Art 10 EMRK erhobenen Beschwerdepunkte [...] betreffen das behauptete Bestehen einer Verwaltungspraxis der »Unterdrückung« nicht russischer Medien, inklusive der Schließung ukrainischer und tatarischer Fernsehsender. [...]
(1089) In seiner ZE stellte der GH fest, dass die von mehreren Internationalen Organisationen und NGOs [...] getroffenen Feststellungen und Schlussfolgerungen ausreichende prima facie-Beweise für die behauptete Verwaltungspraxis [...] lieferten. Dieses Material [...] zeigt unter anderem, dass im März 2014 sämtliche ukrainische Fernsehsender geschlossen wurden und die einzige auf Ukrainisch erscheinende Zeitung nicht mehr vertrieben werden durfte. Daneben mussten auch einige Medienunternehmen tatarischer Sprache ihre Tätigkeit auf der Halbinsel einstellen [...]. Oft gingen den Schließungen amtliche »Warnungen« (seitens Beamter des FSB oder der Staatsanwaltschaft [...]) voraus, wonach die Ansichten, Artikel oder Programme als »extremistisch« angesehen würden [...]. [...] Am 1.5.2015 durften nur 232 Medienunternehmen betrieben werden, im Vergleich zu rund 3.000, die zuvor [...] registriert waren. Die Internationalen Organisationen und NGOs berichteten auch über Einschüchterung und Belästigung von Journalisten.
(1092) [...] Diese Informationen stimmen mit dem zusätzlichen Beweismaterial überein, das dem GH vorgelegt wurde [...]. [...]
(1093) Die belangte Regierung bestätigte, dass nach der Aufnahme der Krim als Teil der Russischen Föderation [...] der Betrieb von Massenmedien in Übereinstimmung mit dem russischen Recht erfolgen musste. Nach dessen Bestimmungen mussten alle Fernseh- und Radiounternehmen auf der Krim eine Lizenz von der staatlichen russischen Medienbehörde erlangen [...]. [...]
(1097) Angesichts des Vorstehenden geht der GH von genügenden Beweisen [...] für zahlreiche und zusammenhängende Fälle aus, die dafür ausreichen, eine Verwaltungspraxis von Eingriffen in die Meinungsäußerungsfreiheit darzustellen, wie etwa: (i) die Verweigerung der Erteilung von Rundfunklizenzen [...]; (ii) die Entziehung von Rundfunklizenzen; (iii) das Versäumnis, Sendefrequenzen zuzuteilen; (iv) das Aussprechen von Warnungen gegenüber einem privaten Rundfunkunternehmen wegen der Verbreitung von gesetzwidrigen Inhalten, wodurch unter anderem Druck auf das Unternehmen ausgeübt wurde, damit es davon Abstand nahm, als den Interessen des Staats widersprechend angesehene Inhalte zu senden; (v) strafrechtliche Ermittlungen [...], Untersuchungshaft [...] und Verurteilung.
(1098) [...] Die Parteien sind sich darin einig, dass der oben genannte Eingriff eine rechtliche Grundlage in den Gesetzen und sonstigen Vorschriften des belangten Staats hatte [...]. Die regulatorische Natur der behaupteten Praxis, ihr Umfang und ihre generelle Anwendung bestätigen das Bestehen sowohl des Elements der »Wiederholung von Handlungen« als auch jenes der »offiziellen Duldung« [...].
(1099) In Anbetracht der oben genannten Gründe für die Feststellung, dass das russische Recht nicht als »Gesetz« iSd EMRK angesehen werden kann [...], kann die Verwaltungspraxis [...] nicht als »gesetzlich vorgesehen« iSv Art 10 Abs 2 EMRK angesehen werden.
(1100) In jedem Fall erachtet es der GH als wichtig, Folgendes festzustellen.
(1102) Die belangte Regierung brachte nichts vor [...], um der [von Internationalen Organisationen, NGOs und insb der Venedig-Kommission geäußerten] Kritik zu begegnen [...], die sich auf die mangelnde Vorhersehbarkeit der Anti-Extremismus-Gesetzgebung bezieht, auf die sich die Unterdrückung der Meinungsäußerungsfreiheit auf der Krim [...] stützte. [...]
(1104) Vor diesem Hintergrund stellt der GH fest, dass während des untersuchten Zeitraums eine Verwaltungspraxis der »Unterdrückung« nicht russischer Medien [...] bestand, die nicht nur unrechtmäßig war, sondern jedenfalls auch nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft. Daher hat eine Verletzung von Art 10 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 11 EMRK
(1105) Die Beschwerdevorbringen [...] zu Art 11 EMRK [...] beziehen sich auf das behauptete Bestehen einer Verwaltungspraxis der Untersagung öffentlicher Zusammenkünfte und Demonstrationen zur Unterstützung der Ukraine oder der Gemeinschaft der Krimtataren sowie der Einschüchterung und willkürlichen Festnahme der Organisatoren von Demonstrationen. [...]
(1121) [...] Das vorliegende Beweismaterial enthält ausreichende übereinstimmende Informationen zur Unterstützung der Vorwürfe der belangten Regierung, wonach öffentliche Zusammenkünfte systematisch untersagt und verhindert wurden. Es gibt ausreichende Beweise für [...] zahlreiche und zusammenhängende Fälle, die einen Eingriff in das Recht auf Versammlungsfreiheit darstellten [...], wie bspw »lange geltende, pauschale Verbote öffentlicher Zusammenkünfte« und Untersagungen aufgrund von »verfahrensrechtlichen (oder administrativen) Formalitäten«; generellen Entscheidungen, mit denen vorübergehende Verbote öffentlicher Versammlungen ungeachtet der konkreten Umstände des Einzelfalls verhängt wurden [...]; Verbote der Durchführung von Versammlungen an bestimmten Orten oder Routen [...]; Gegendemonstrationen und Angriffe durch Dritte; und Warnungen, Befragungen, Festnahmen, Verfahren und Geldbußen wegen Verwaltungsübertretungen [...].
(1122) [...] Diese Maßnahmen ergaben sich aus dem russischen Recht [...]. Die regulatorische Natur der behaupteten Praxis, ihr Umfang und ihre Intensität [...] bestätigen das Bestehen sowohl des Elements der »Wiederholung von Handlungen« als auch jenes der »offiziellen Duldung« [...].
(1123) In Anbetracht der oben getroffenen Schlussfolgerung, wonach das russische Recht nicht als »Gesetz« iSd EMRK angesehen werden kann [...], war die Verwaltungspraxis [...] nicht »gesetzlich vorgesehen«.
(1124) Selbst unter der Annahme, der [...] Eingriff könnte [...] als »gesetzlich vorgesehen« angesehen werden, sieht der GH allerdings keinen Hinweis darauf, dass er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. [...] Abgesehen von Fällen des Aufrufs zu Gewalt und der Ablehnung demokratischer Grundsätze erweist jede in die Versammlungs- und Meinungsäußerungsfreiheit eingreifende Maßnahme [...] der Demokratie einen schlechten Dienst und gefährdet diese oft sogar. Die Tatsache, dass im vorliegenden Fall eine Gruppe von Personen zur Bewahrung der territorialen Integrität der Ukraine aufrief, kann nicht automatisch ein Verbot ihrer Versammlungen rechtfertigen. In Reden und auf Demonstrationen territoriale Änderungen zu fordern, bedeutet nicht ohne Weiteres eine Gefahr für die territoriale Integrität und nationale Sicherheit des Landes [...].
(1127) [...] Die belangte Regierung [...] bestritt weder die [...] Vorwürfe, noch verwies sie auf irgendein verfolgtes legitimes Ziel [...]. [...]
(1128) Vor diesem Hintergrund [...] erachtet es der GH als erwiesen, dass während des untersuchten Zeitraums eine Verwaltungspraxis des Verbots öffentlicher Zusammenkünfte und Demonstrationen zur Unterstützung der Ukraine und der Gemeinschaft der Tataren sowie der Einschüchterung und willkürlichen Festnahme der Organisatoren von Demonstrationen bestand, deren Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft jedenfalls nicht nachgewiesen wurde. Daher hat eine Verletzung von Art 11 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK
(1129) Die Vorbringen [...] unter Art 1 1. ZPEMRK [...] betrafen das behauptete Bestehen einer Verwaltungspraxis der entschädigungslosen Enteignung von Zivilisten und Privatunternehmen. [...]
(1137) Der GH betont [...] die Übereinstimmung der Informationen in verschiedenen Berichten Internationaler Organisationen und NGOs über die »Verstaatlichung« von Privatunternehmen und umfassende Enteignung [...] von öffentlichem und privatem Eigentum ohne Entschädigung und ohne Rücksicht auf die Regeln des humanitären Völkerrechts, die Besitz vor Beschlagnahme oder Zerstörung schützen. [...]
(1138) Die oben genannten Berichte werden durch einige Schiedssprüche gemäß dem Investitionsschutzabkommen [...] zwischen der russischen Regierung und dem Ministerkabinett der Ukraine bestätigt.
(1141) Der GH stellt daher fest, dass es während des untersuchten Zeitraums eine systematische Aktion umfassender Enteignung bzw Verstaatlichung des Eigentums von Zivilisten und Privatunternehmen auf der Krim gab, die einen endgültigen Übergang der Eigentümerschaft umfasste. Ein solcher Eingriff begründete eine Entziehung des Eigentums iSv Art 1 Abs 1 1. ZPEMRK.
(1142) [...] Die erste Voraussetzung für die Vereinbarkeit eines Eingriffs mit Art 1 1. ZPEMRK besteht darin, dass er gesetzlich vorgesehen ist [...].
(1143) [...] Der umfangreiche Eingriff in die Eigentumsrechte [...] beruhte auf einem Paket von Resolutionen bzw Gesetzen der lokalen de facto-Behörden auf der Krim und den Gesetzen Russlands [...]. [...]
(1144) Die Parteien sind sich darin einig, dass der angefochtene Eingriff eine Grundlage im russischen Recht hatte [...]. Die regulatorische Natur der behaupteten Praxis, ihr Umfang und ihre generelle Anwendung [...] bestätigen das Bestehen sowohl des Elements der »Wiederholung von Handlungen« als auch jenes der »offiziellen Duldung« [...]. [...]
(1145) In Anbetracht der oben getroffenen Schlussfolgerung, wonach das russische Recht nicht als »Gesetz« iSd EMRK angesehen werden kann [...], kann die Verwaltungspraxis [...] nicht als »gesetzlich vorgesehen« qualifiziert werden.
(1146) Angesichts der besonderen Umstände des Falls erachtet es der GH allerdings für wichtig auch zu prüfen, ob das russische »Recht«, selbst wenn es herangezogen werden könnte, der Qualitätsanforderung der Vorhersehbarkeit entsprach und ob der fragliche Eingriff [...] verhältnismäßig war.
(1148) Die oben genannten Internationalen Organisationen dokumentierten zahlreiche Mängel im Modell der Verstaatlichung [...]. Insb stellten sie [...] fest, dass die einschlägigen Vorschriften regelmäßig geändert wurden, was die Rechtssicherheit und den Schutz vor Willkür untergrub [...]. [...] Die Berichte äußerten auch Bedenken über das Fehlen von Vorschriften über das Verfahren, einer tatsächlichen Verständigung des Eigentümers sowie eines Rechtsmittelverfahrens. [...] Die Berichte wiesen auch durchgehend auf die Enteignung [...] ohne Entschädigung hin.
(1149) Der GH möchte an dieser Stelle betonen, dass das Bestehen eines Gerichtsverfahrens, das die nötigen Verfahrensgarantien gewährt [...], ein bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Art 1 1. ZPEMRK zu beachtender Faktor ist. Eine Enteignung ohne Zahlung einer Entschädigung, die in einem vernünftigen Verhältnis zum Wert steht, wird in der Regel einen unverhältnismäßigen Eingriff darstellen, der nach Art 1 1. ZPEMRK nicht gerechtfertigt werden kann.
(1150) Derartige Mängel [...] wurden von der belangten Regierung nicht angesprochen, geschweige denn widerlegt. [...] Zudem legte sie weder eine Stellungnahme noch Beweise dafür vor, dass die umstrittene Verwaltungspraxis [...] durch »zwingende militärische Notwendigkeit« oder für die »Bedürfnisse des Besetzungsheers« gerechtfertigt war, wie es das [...] humanitäre Völkerrecht verlangt.
(1151) Vor diesem Hintergrund stellt der GH eine Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK durch die Verwaltungspraxis der entschädigungslosen Enteignung von Zivilisten und Privatunternehmen [...] fest (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 1. ZPEMRK
(1152) Die bf Regierung rügte [...] »die Unterdrückung der ukrainischen Sprache in Schulen und die Verfolgung ukrainisch sprechender Kinder in der Schule«.
(1160) [...] In seinem Urteil vom 31.1.2024 (Anm: ICJ 31.1.2014, No 166, Application of the International Convention for the Suppression of the Financing of Terrorism and of the International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (Ukraine v Russian Federation).) stellte der IGH [...] fest, dass Russland durch »die Art der Umsetzung des Bildungssystems auf der Krim nach 2014 im Hinblick auf den Unterricht in ukrainischer Sprache« gegen seine Verpflichtung [...] verstoßen habe, [...] Praktiken der Rassendiskriminierung zu unterlassen. [...]
(1161) Diese Schlussfolgerungen werden auch durch zahlreiche Berichte Internationaler Organisationen untermauert, die einen erheblichen Rückgang der Zahl der Bildungseinrichtungen verzeichnen, in denen in ukrainischer Sprache unterrichtet wird, sowie der Schüler und Studierenden, die eine solche Bildung erhalten. [...]
(1164) Die belangte Regierung brachte keine Gegenargumente vor [...]. Das Versäumnis der de facto-Behörden der Krim, weiterhin einen solchen Unterricht zur Verfügung zu stellen, muss im Ergebnis als Verweigerung des berührten Rechts [auf Bildung] angesehen werden. Diese Verweigerung ist eine direkte Konsequenz der Politik der »Einführung der russischen Bildungsstandards auf der Krim« durch den belangten Staat. [...]
(1165) In Anbetracht des Vorstehenden stellt der GH [...] das Bestehen einer Verwaltungspraxis während des untersuchten Zeitraums fest [...], die auf eine Verweigerung des Kerns des Rechts auf Bildung und eine Verletzung von Art 2 1. ZPEMRK hinauslief (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 4. ZPEMRK
(1166) Das Vorbringen [...] zu diesem Punkt [...] bezieht sich auf behauptete Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zwischen der Krim und dem ukrainischen Festland, das aus der de facto-Umwandlung der Verwaltungsgrenze in eine Staatsgrenze (zwischen Russland und der Ukraine) [...] resultierte.
(1171) Die unter diesem Punkt vorgebrachten Vorwürfe wurden von der belangten Regierung nicht in Abrede gestellt [...]. [...] Die de facto-Umwandlung der Verwaltungsgrenze in eine Staatsgrenze [...] war eine direkte Folge des »Beitrittsvertrags« vom 18.3.2014, durch den die Krim und die Stadt Sewastopol [...] Teile der Russischen Föderation wurden. [...]
(1172) Der regulatorische Hintergrund der angefochtenen Praxis und die generelle Anwendung auf alle betroffenen Personen stellen ausreichende Beweise für das Bestehen sowohl des Elements [...] der »Wiederholung von Handlungen« als auch jenes der »offiziellen Duldung« dar.
(1173) [...] Das russische Recht kann nicht als »Gesetz« iSd EMRK angesehen werden [...].
(1174) Alle von den russischen Behörden während des untersuchten Zeitraums im Hinblick auf die Überquerung der Verwaltungsgrenze zwischen der Krim und dem ukrainischen Festland verhängten Einschränkungen waren folglich nicht »gesetzlich vorgesehen«. Diese Feststellung macht es überflüssig zu prüfen, ob die Einschränkungen der Freizügigkeit ein legitimes Ziel verfolgten und [...] notwendig waren. [...]
(1175) Folglich hat eine Verletzung von Art 2 4. ZPEMRK durch die in der Einschränkung der Freizügigkeit zwischen der Krim und dem ukrainischen Festland bestehende Verwaltungspraxis stattgefunden [...] (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 14 iVm Art 8, 9, 10 und 11 EMRK und Art 2 4. ZPEMRK
(1176) Die bf Regierung behauptete eine Diskriminierung der Bevölkerung der Krimtataren. [...]
(1177) [...] Die relevanten Berichte von Internationalen Organisationen und NGOs enthalten übereinstimmende Informationen, wonach Tataren auf der Krim »besonders ins Visier genommen wurden, vor allem jene mit Verbindungen zum Medschlis«. (Anm: Der »Medschlis des Krimtatarischen Volkes« ist die Repräsentativkörperschaft der Krimtataren.) [...] Die [Berichte] [...] verwiesen auf Durchsuchungen von privaten Gebäuden, Moscheen und Islamschulen [...], Belästigungen [...] und der Schließung von Medien, von denen die Krimtataren »unverhältnismäßig« betroffen gewesen seien. Dasselbe gilt für das Verbot von Versammlungen [...]. [...]
(1187) [...] Angesichts der im gegenwärtigen Verfahrensstadium vorgelegten Beweise [...] hat sich die Beweislast zur Widerlegung der vermuteten Diskriminierung zur belangten Regierung verschoben.
(1189) [...] Die belangte Regierung brachte keine Beweise vor, um die Diskriminierungsvorwürfe [...] zu widerlegen. [...]
(1190) Angesichts des Vorstehenden gelangt der GH zum Ergebnis, dass eine gegen Krimtataren gerichtete Verwaltungspraxis bestand, die eine Verletzung von Art 14 EMRK iVm Art 8, 9, 10 und 11 EMRK und Art 2 4. ZPEMRK begründete (einstimmig).
Zur Beschwerde 38334/18
Zur Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe
(1197) [...] Die vorliegende Beschwerde fällt in die Kategorie von sich auf eine Verwaltungspraxis beziehenden Staatenbeschwerden, für welche die Regel der Erschöpfung der Rechtsbehelfe nicht gilt. [...]
Zur Beschwerdefrist
(1199) [...] Die Frist von sechs Monaten gilt grundsätzlich auch für Staatenbeschwerden und Behauptungen einer Verwaltungspraxis [...].
(1201) [...] Die in der Beschwerde 38334/18 vorgebrachten Rügen betreffen unter anderem Festnahmen, Freiheitsentziehungen und Strafverfahren [...], die zum Teil zu unterschiedlichen Zeitpunkten zwischen 2014 und 2017 und somit mehr als sechs Monate vor Erhebung der Beschwerde beendet wurden. [...] Sie können sich jedoch auch auf behauptete fortdauernde Situationen beziehen [...], in Bezug auf die der Lauf der Frist von sechs Monaten erst beginnt, wenn die behaupteten Verletzungen beendet wurden. Der GH wird daher bei der Behandlung der Beschwerde in der Sache [...] prüfen, ob die unterschiedlichen behaupteten Verwaltungspraktiken [...] mehr als sechs Monate vor der Erhebung der Beschwerde [...] beendet wurden. [...]
(1202) Die Frage der Einhaltung der Frist [...] wird daher mit der Behandlung der Beschwerde in der Sache verbunden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 3 EMRK
Zulässigkeit
(1207) [...] Die bf Regierung rügt eine die folgenden Elemente umfassende Verwaltungspraxis: (i) Akte der Misshandlung, einschließlich der Folter, die politischen Gefangenen zugefügt wurden, und das Fehlen einer gebührenden Untersuchung [...]; (ii) unmenschliche Haftbedingungen, insb in den Untersuchungsgefängnissen Simferopol und Lefortowo (Moskau); (iii) fehlende medizinische Versorgung im Gefängnis und (iv) »grausame und unverhältnismäßige Bestrafung« von »politischen Gefangenen« in Form von Einzelhaft und der Unterbringung in Strafzellen unter extrem harten Bedingungen.
(1208) Was die [...] Behauptungen unangemessener Haftbedingungen in Haftanstalten im Staatsgebiet Russlands betrifft, erachtet der GH das ihm übermittelte Material nicht als ausreichend, um zum Ergebnis zu gelangen, dass ein prima facie-Beweis für eine diesbezügliche Verwaltungspraxis vorliegt. [...] Dieser Teil der Beschwerde muss daher [...] für unzulässig erklärt werden (einstimmig).
(1210) [...] Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass einzelnen Gefangenen die erforderliche medizinische Versorgung vorenthalten wurde. Die Berichte mehrerer Internationaler Organisationen sprechen einige derartige Fälle an. Sie weisen allerdings nicht auf ein systematisches Vorkommen hin [...]. [...] Folglich wurde der erforderliche [...] prima facie-Beweis im Hinblick darauf nicht erbracht. Dieser Teil der Beschwerde muss daher [...] für unzulässig erklärt werden (einstimmig).
(1211) [...] Die Behauptungen, »ukrainische politische Gefangene« wären in Einzelhaft und in Strafzellen [...] untergebracht worden, [...] wurde nicht durch Beweise untermauert [...]. [...] Folglich wurde der erforderliche Beweismaßstab [...] nicht erfüllt [...]. Dieser Teil der Beschwerde ist somit ebenfalls unzulässig [...] (einstimmig).
(1212) Was schließlich die Punkte (i) und – teilweise – (ii) betrifft, die sich [...] erstens auf die behaupteten Misshandlungen von »ukrainischen politischen Gefangenen« und dem Fehlen einer angemessenen Untersuchung [...] und zweitens auf die unmenschlichen Haftbedingungen im Untersuchungsgefängnis Simferopol beziehen, scheitern diese nicht an der Schwelle des prima facie-Beweises. Aus den unten erklärten Gründen entsprechen sie auch der Frist von sechs Monaten. Dieser Teil der Beschwerde ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
Zu den behaupteten Misshandlungen und zum Fehlen einer effektiven Untersuchung
(1218) [...] Die bf Regierung beschrieb zur Illustration zahlreiche Fälle der Misshandlung »ukrainischer politischer Gefangener« zwischen 2014 und 2018 [...]. Viele dieser Misshandlungen bestanden in Schlägen, Elektroschocks, Scheinhinrichtungen und der Verabreichung unbekannter Drogen. Sie waren darauf gerichtet, starke Schmerzen oder Leiden zu verursachen, um Informationen zu erlangen, Geständnisse [...] oder Aussagen über von anderen begangene Taten zu erwirken, oder sollten der Bestrafung oder Einschüchterung dienen. Die Schwere der Behandlung rechtfertigt in Verbindung mit den Elementen der Absicht ihre Einstufung als Folter. Andere Verhaltensweisen [...] liefen zumindest auf eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung hinaus. [...]
(1219) Ein Teil der Vorwürfe wird durch Augenzeugenberichte untermauert [...], andere durch Berichte in den Medien, die auf Interviews mit Opfern oder Informationen von deren Anwälten, Familienangehörigen oder ukrainischen Konsularangestellten beruhen [...]. Diese zahlreichen Schilderungen [...] erscheinen glaubwürdig und [...] haben erheblichen Beweiswert.
(1220) Diese Behauptungen werden erstens [...] durch die Informationen des Hochkommissars für Menschenrechte bestätigt [...] und zweitens durch zahlreiche NGOs. [...]
(1221) Weiteres schriftliches Beweismaterial stellen die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung [...].
(1223) [...] Die belangte Regierung ging auf die Beschwerde unter Art 3 EMRK in der Sache überhaupt nicht ein. [...] Der GH ist daher bereit, die gebotenen Schlüsse zu ziehen.
(1224) Angesichts der oben geschilderten Umstände ist der GH vom Vorliegen ausreichender Beweise überzeugt, die es ihm erlauben, in einer über vernünftige Zweifel erhabenen Weise vom Bestehen einer Ansammlung gleicher oder vergleichbarer Verstöße auszugehen, die ausreichend zahlreich und zusammenhängend sind, um ein Muster oder System zu ergeben. Die Beweise enthüllen zahlreiche Fälle von Misshandlungen, die Teil einer anhaltenden Kampagne der politischen Unterdrückung tatsächlicher oder vermeintlicher Gegner der russischen Politik sind.
(1225) Aus den vorliegenden Beweisen geht zudem hervor, dass solche Handlungen von Vertretern des FSB und der Polizei und in gewissen Fällen [...] auch direkt von Beamten der Strafanstalten [...] begangen wurden. Unter diesen Umständen kann die Verantwortlichkeit Russlands nicht in Frage gestellt werden.
(1226) Was das einer Verwaltungspraxis innewohnende Element der »offiziellen Duldung« betrifft, verweist der GH auf seine obigen Feststellungen zu Art 3 EMRK, soweit es um die Krim geht (siehe oben Rz 994 ff). Dieselben Überlegungen gelten im Hinblick auf Handlungen russischer Organe auf russischem Staatsgebiet.
(1227) [...] Die belangte Regierung verabsäumte es, dazu Stellung zu nehmen, ob irgendwelche offiziellen Untersuchungen [der Misshandlungsvorwürfe] durchgeführt wurden [...]. [...] Der GH kommt zu dem Schluss, dass das Fehlen angemessener Untersuchungen [...] gesonderte Verletzungen der EMRK begründet. [...]
(1228) [...] Somit gab es eine gegen Art 3 EMRK verstoßende Verwaltungspraxis der Misshandlung »ukrainischer politischer Gefangener« [...] und des Fehlens effektiver Untersuchungen. [...] Diese Verwaltungspraxis dauerte an, nachdem die Vorwürfe am 10.8.2018 an den GH herangetragen wurden, weshalb die Beschwerdefrist eingehalten wurde.
(1229) Der GH stellt fest, dass es sowohl hinsichtlich des materiellen als auch des prozeduralen Aspekts zu einer Verletzung von Art 3 EMRK gekommen ist (einstimmig).
Zu den Haftbedingungen im Untersuchungsgefängnis Simferopol
(1231) [...] Die Beschreibung der Haftbedingungen im Untersuchungsgefängnis Simferopol durch die bf Regierung wird durch zahlreiche Schilderungen von Gefangenen, ihren Anwälten [...] und NGOs [...] bestätigt. Sie enthüllen insb Überbelegung [...], unzureichende Schlafplätze, schlechte Qualität der Ernährung, fehlende Möblierung, Schädlingsbefall, unzumutbare Temperaturen, fehlende Lüftung und fehlende Privatsphäre auf den Toiletten.
(1233) Diese Schilderungen werden durch Berichte Internationaler Organisationen weiter untermauert. [...]
(1234) Die belangte Regierung widerlegte weder die behaupteten Tatsachen noch brachte sie irgendwelche Argumente vor [...].
(1236) Der GH kann angesichts der obigen Überlegungen nur zum Schluss gelangen, dass die vorgelegten Beweise zeigen, dass »ukrainische politische Gefangene« seit 2014 unter unangemessenen Haftbedingungen angehalten wurden, die eine erniedrigende Behandlung darstellen [...].
(1237) [...] Es bestand »ein Zusammentreffen gleicher oder vergleichbarer Verstöße«, die »ausreichend zahlreich und zusammenhängend« sind, um »ein Muster oder System« der unangemessenen Haftbedingungen im Untersuchungsgefängnis Simferopol (Krim) darzustellen, für das die belangte Regierung die Verantwortung nicht in Abrede stellt. [...] Solche Verstöße sind das Ergebnis von Mängeln in der Organisation und im Betrieb des Gefängnissystems der Krim. Der Umfang und die systemische Natur dieser Praxis bestätigen zudem das Bestehen des Elements [...] der »amtlichen Duldung«.
(1238) Folglich hat eine Verletzung von Art 3 EMRK durch die Verwaltungspraxis der Inhaftierung von Gefangenen unter unangemessenen Bedingungen [...] stattgefunden (einstimmig). [...] Diese Praxis hat nach Erhebung der Beschwerde [...] angedauert, weshalb die Frist von sechs Monaten kein Problem aufwirft.
Zur behaupteten Verletzung von Art 5, 6 und 7 EMRK
(1239) Die bf Regierung brachte vor, Russland sei für eine Verwaltungspraxis der unrechtmäßigen Freiheitsentziehung, Strafverfolgung und Verurteilung »ukrainischer politischer Gefangener« verantwortlich [...].
Zulässigkeit
(1240) [...] Die Vorwürfe [...] beziehen sich auf die Festnahme und Anhaltung von Ukrainern, die von der bf Regierung als »ukrainische politische Gefangene« bezeichnet werden, im Zuge von Gerichtsverfahren sowohl auf der Krim als auch in Russland [...].
(1242) Was die angeblichen Ereignisse in Russland betrifft [...], nimmt der GH die Spärlichkeit des [...] vorgelegten Materials zur Kenntnis [...]. [...] Zudem wurde trotz der von Internationalen Organisationen zum Ausdruck gebrachten Sorge über die Situation der »ukrainischen politischen Gefangenen« [...] nicht über ein Muster der systematischen Verfolgung berichtet [...].
(1243) [...] Im Hinblick auf die unrechtmäßige Festnahme und Anhaltung ukrainischer Gefangener, die in Russland stattfand [...], kann nicht von einem prima facie-Beweis für eine gegen Art 5, 6 und 7 EMRK verstoßende Verwaltungspraxis [...] gesprochen werden [...]. [...] Folglich muss dieser Teil der Beschwerde [...] für unzulässig erklärt werden (einstimmig).
(1246) [Soweit es um Ereignisse auf der Krim geht] wurde der prima facie-Beweis nach Ansicht des GH erbracht. Auch die Frist von sechs Monaten wurde aus den unten dargelegten Gründen eingehalten. Dieser Teil der Beschwerde muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(1265) Die Maßnahmen [...] beruhten auf der Anwendung des russischen Rechts [...]. Der GH verweist an dieser Stelle auf seine früheren Schlussfolgerungen, wonach der belangte Staat in Verstoß gegen die im Licht des humanitären Völkerrechts ausgelegte EMRK die Geltung seines Rechts auf die Krim ausgedehnt hat und das russische Recht daher nicht als »Gesetz« iSd EMRK angesehen werden kann (siehe oben Rz 946). Zudem stellte er fest, dass die Gerichte auf der Krim nicht als »auf Gesetz beruhend« angesehen werden können. Daher kann die Verwaltungspraxis [...] nicht als »gesetzlich vorgesehen« qualifiziert werden. Die regulatorische Natur der behaupteten Praxis sowie ihr Umfang und ihre Intensität [...] bestätigen sowohl das Element der »Wiederholung von Handlungen« als auch jenes der »offiziellen Duldung«.
(1266) [...] Einige Aspekte der Verwaltungspraxis verdienen weitere Beachtung.
(1267) [...] Die von den russischen Behörden auf der Krim eingerichteten Gerichte entschieden strafrechtliche Fälle im Zusammenhang mit Ereignissen, die stattgefunden hatten, bevor Russland die effektive Kontrolle über das Gebiet der Krim erlangt hat (am 27.2.2014) und das russische Recht in diesem Gebiet [...] in Kraft trat (am 18.3.2014). [...]
(1271) Dazu stellt der GH [...] fest, dass bei der Auslegung der Bestimmungen der Konvention im vorliegenden Fall das humanitäre Völkerrecht zu berücksichtigen ist. Er verweist auf das Vierte Genfer Abkommen, nach dessen Bestimmungen (i) das Strafrecht des besetzten Staats [...] in Kraft bleiben sollte; (ii) die Besatzungsmacht die Strafgerichtsbarkeit im besetzten Gebiet im Hinblick auf Taten während der Besetzung ausüben darf und zwar nur im Hinblick auf solche Taten; (iii) die Gerichte im besetzten Gebiet nur Gesetze anwenden dürfen, die vor der Begehung der mutmaßlichen strafbaren Handlung gegolten haben; (iv) eine Besatzungsmacht geschützte Personen nicht wegen vor der Besetzung begangener Handlungen oder geäußerter Meinungen festnehmen, anklagen oder verurteilen soll [...]; (v) die vor der Besetzung bestehenden Gerichte weiter arbeiten sollen. [...] Diese Vorschriften zielen darauf ab, eine Bestrafung von Bewohnern eines besetzten Gebiets dafür zu verhindern, dass sie den Truppen ihres eigenen Landes oder seiner Verbündeten geholfen, einer durch die Besatzungsbehörden verbotenen Partei angehört oder politische Meinungen geäußert haben, die den Ansichten der Besatzer widersprechen.
(1272) [...] Die Verfahren vor den »Gerichten« der Krim und ihre Entscheidungen widersprachen daher nach Ansicht des GH dem in Art 7 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtrückwirkung von Strafgesetzen, ausgelegt im Licht des humanitären Völkerrechts. [...]
(1278) Der GH gelangt [...] zum Ergebnis, dass eine Verletzung von Art 5, 6 und 7 EMRK durch eine anhaltende Verwaltungspraxis [...] stattgefunden hat (einstimmig). [...] Diese Praxis hat angedauert, nachdem die diesbezüglichen Vorwürfe am 10.8.2018 an den GH herangetragen wurden, weshalb sich kein Problem hinsichtlich der Frist von sechs Monaten ergibt.
Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK
(1279) Die bf Regierung [...] brachte vor, die Verlegung von »ukrainischen politischen Gefangenen« in Strafanstalten auf dem Gebiet Russlands habe eine gegen Art 8 EMRK verstoßende Verwaltungspraxis dargestellt. [...]
Zulässigkeit
(1281) Der vorliegende Beschwerdepunkt scheitert nicht an der Hürde des prima facie-Beweises und aus den unten erklärten Gründen auch nicht an der Frist von sechs Monaten. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(1289) Es besteht [...] kein Konflikt zwischen Art 8 EMRK und den [...] Vorschriften des humanitären Völkerrechts, wonach [...] geschützte Personen (also jene, die sich im Falle eines Konflikts oder einer Besetzung zu irgendeinem Zeitpunkt und gleichgültig auf welche Weise in der Gewalt einer am Konflikt beteiligten Partei oder einer Besatzungsmacht befinden, deren Staatsangehörige sie nicht sind) nicht aus dem besetzten Gebiet umgesiedelt oder abgeschoben werden dürfen und geschützte Personen, denen Straftaten vorgeworfen werden, im besetzten Land zu inhaftieren sind. [...]
(1291) [...] Die allgemeinen Grundsätze zu Art 8 EMRK betreffend das Recht Gefangener auf Achtung ihres Familienlebens wurden zu innerstaatlichen Situationen entwickelt, in denen Personen in einem Mitgliedstaat [...] inhaftiert und dann in einem in diesem Staat gelegenen, von der Familie weit entfernten Gefängnis untergebracht wurden. Diese Grundsätze gelten allerdings mutatis mutandis auch für die Überstellungen von Gefangenen von der Krim nach Russland.
(1293) [...] Der GH hat in Russland betreffenden Rechtssachen festgestellt, dass Überstellungen von in Russland [...] verurteilten Gefangenen in eine weit entfernte Strafanstalt einen Eingriff in das Recht der Gefangenen auf Achtung des Familienlebens [...] begründeten. [...] Angesichts der ihm vorliegenden Informationen stellt der GH fest, dass die angefochtenen Maßnahmen einen Eingriff in das Recht der Gefangenen auf Achtung ihres Familienlebens [...] darstellten.
(1294) [...] Es liegen ausreichende Beweise [...] für zahlreiche und zusammenhängende Fälle von Überstellungen Gefangener vor, die einen Eingriff in deren durch Art 8 EMRK geschütztes Recht [...] begründeten. [...]
(1296) Der GH verweist an dieser Stelle auf seine früheren Feststellungen [...], wonach russisches Recht nicht als »Gesetz« iSd EMRK angesehen werden kann. Die Verwaltungspraxis [...] kann daher nicht als »gesetzlich vorgesehen« qualifiziert werden.
(1297) [...] Es liegen ausreichende Beweise [...] für »ein Zusammentreffen gleicher oder vergleichbarer Verstöße« gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens vor, die »ausreichend zahlreich und zusammenhängend« sind, um »ein Muster oder System« von großem Umfang und hoher Intensität darzustellen. [...]
(1298) Der GH erachtet es als geboten, die folgenden zusätzlichen Überlegungen darzulegen.
(1299) In Polyakova ua/RU analysierte der GH das russische [...] System im Hinblick auf die geografische Verteilung von Gefangenen. [...] Er kam zum Ergebnis, dass dieses System keinen ausreichenden rechtlichen Schutz vor Missbrauch bot und die Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes nicht den Anforderungen an die »Qualität des Rechts« entsprachen [...].
(1301) [...] Selbst unter der Annahme, beim anzuwendenden Recht [...] könnte es sich um das russische Recht handeln, war die Überstellung ukrainischer Gefangener [angesichts der Feststellungen in Polyakova ua/RU] nicht [...] »gesetzlich vorgesehen«. [...]
(1302) Der GH nimmt außerdem zur Kenntnis, dass eine Reihe von Internationalen Organisationen und Vertretern der Zivilgesellschaft die Ansicht geäußert haben, die Praxis der Überstellungen von Gefangenen [...] in weit entfernte Regionen Russlands widerspreche den relevanten Bestimmungen des humanitären Völkerrechts. [...]
(1305) Der GH gelangt [...] zu der Schlussfolgerung, dass es eine Verwaltungspraxis gab, die eine Verletzung von Art 8 EMRK begründete (einstimmig) [...]. Diese Praxis dauerte [...] an, nachdem die diesbezüglichen Rügen am 10.8.2018 an den GH herangetragen wurden, weshalb sich kein Problem im Hinblick auf die Frist von sechs Monaten ergibt.
Zur behaupteten Verletzung von Art 10 und Art 11 EMRK
(1306) Die bf Regierung brachte vor, Russland sei für eine Verwaltungspraxis der unrechtmäßigen Freiheitsentziehung, Strafverfolgung und Verurteilung »ukrainischer politischer Gefangener« verantwortlich, die auch gegen Art 10 und 11 EMRK verstoße [...].
Zulässigkeit
(1307) Was die Ereignisse betrifft, die in Russland stattfanden, [...] verweist der GH auf seine obigen Schlussfolgerungen (Rz 1243). [...] Dieser Teil der Beschwerde muss [...] für unzulässig erklärt werden (einstimmig).
(1308) [...] Die bf Regierung brachte unter anderem vor, die [...] gegen auf der Krim lebende Muslime wegen ihrer Verbindungen zu Hizb ut-Tahrir (Anm: Die Hizb ut-Tahrir (»Partei der Befreiung«) ist eine islamistische Bewegung, deren Ziel in der Errichtung eines Kalifatstaates besteht. Wegen der radikalen Ablehnung demokratischer Strukturen und ihrer Gewaltbereitschaft ist sie in vielen Staaten verboten.) eingeleiteten Strafverfahren wären Teil einer gegen Art 10 und Art 11 EMRK verstoßenden Verwaltungspraxis. [...] Die russische Unterdrückung wäre nicht gegen die Hizb ut-Tahrir als solche gerichtet; vielmehr seien mit dieser Organisation in Verbindung stehende Personen bloß im Zuge der Unterdrückung aller Äußerungen des muslimischen Glaubens seitens der gesamten krimtatarischen Bevölkerung erfasst worden [...].
(1309) [...] Der GH hat bereits [...] festgestellt, dass sich die Hizb ut-Tahrir wegen ihrer antisemitischen und zu Gewalt aufrufenden Äußerungen [...] gemäß Art 17 EMRK nicht auf den Schutz [der Art 10 und 11 EMRK] berufen kann.
(1310) [...] Diese früheren Feststellungen zur Hizb ut-Tahrir betrafen Verfahren in Deutschland und Russland – zwei Staaten, in denen die Organisation durch Entscheidungen der nationalen Behörden verboten worden war. [...] Der GH muss die spezifische Situation berücksichtigen, in der die bf Regierung selbst betonte, dass Art 10 und Art 11 EMRK für die im vorliegenden Fall betroffenen Mitglieder der Hizb ut-Tahrir gelten und verletzt wurden. Sie verwies [...] darauf, dass die Hizb ut-Tahrir in der Ukraine nicht verboten ist.
(1311) Der GH erachtet es als angemessen, diese Frage [...] gemeinsam mit der Frage der Notwendigkeit der in Beschwerde gezogenen Maßnahmen [...] zu prüfen, und dies im Licht von Art 17 EMRK.
(1312) Soweit dieser Beschwerdepunkt Ereignisse auf der Krim betrifft, scheitert er nicht an der Hürde des prima facie-Beweises und aus den unten erklärten Gründen auch nicht an der Frist von sechs Monaten. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(1313) Die bf Regierung beschwerte sich [...] über eine Reihe strafrechtlicher Verfolgungen von Ukrainern wegen ihrer pro-ukrainischen Gedanken und Äußerungen [...] und ihrem Widerspruch gegen die russische Besetzung der Krim [...] oder wegen Mitgliedschaft in Organisationen, die in Russland [...] verboten sind.
(1318) [...] Die bf Regierung übermittelte eine Fülle an Beweisen betreffend die Gesamtsituation auf der Krim hinsichtlich der Meinungsäußerungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit: Resolutionen Internationaler Organisationen einschließlich des Europarats; Berichte Internationaler Organisationen [...]; Berichte von NGOs, [...] Medienberichte und Material aus den Akten der gegen die betroffenen Personen geführten Strafverfahren. Gemäß diesen Beweisen setzten die russischen Behörden seit 2014 die russischen Bestimmungen betreffend öffentliche Versammlungen sowie die Meinungsäußerungs- und Vereinigungsfreiheit im Gebiet der Krim durch, wobei sie wenig Toleranz für jegliche Form von Kritik, Widerspruch oder Opposition gegen die Vorgangsweise Russlands an den Tag legten. Die Beweise enthalten Informationen über die Festnahme und Anklage von politischen Gegnern [...], Ukrainern, die an den Euromaidan-Protesten teilgenommen hatten, von Aktivisten auf der Krim, mit dem Medschlis in Verbindung gebrachten Krimtataren, praktizierenden Muslimen [...] und von Journalisten und Personen, die sich in sozialen Medien kritisch über die russischen Behörden geäußert hatten.
(1320) Die behauptete Verwaltungspraxis umfasst sowohl Fälle von Untersuchungshaft als auch von strafrechtlichen Verurteilungen. [...]
(1321) Anhand der vorliegenden Beweise erachtet es der GH als dem angemessenen Standard entsprechend erwiesen, dass es zahlreiche und zusammenhängende Fälle von Festnahmen und Strafverfolgung sowie von Verurteilungen gab, die einen Eingriff in die durch Art 10 und Art 11 EMRK geschützten Rechte begründen. [...]
(1323) Der GH verweist [...] auf seine früheren Schlussfolgerungen, wonach der belangte Staat die Geltung seines Rechts auf die Krim in Verstoß gegen die im Licht des humanitären Völkerrechts ausgelegte EMRK ausgedehnt hat und das russische Recht daher nicht als »Gesetz« iSd EMRK angesehen werden kann. Die Verwaltungspraxis [...] kann daher nicht als »gesetzlich vorgesehen« qualifiziert werden (siehe oben Rz 946).
(1325) [...] Die regulatorische Natur der behaupteten Praxis sowie ihr Umfang und ihre Intensität [...] bestätigen sowohl das Element der »Wiederholung von Handlungen« als auch der »offiziellen Duldung« der Verwaltungspraxis [...].
(1327) Der GH gelangt angesichts des Vorstehenden zum Ergebnis, dass eine Verletzung von Art 10 und Art 11 EMRK durch die Verwaltungspraxis der unrechtmäßigen Freiheitsentziehung, Strafverfolgung und Verurteilung von »ukrainischen politischen Gefangenen« wegen der Ausübung ihres Rechts auf Meinungsäußerungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit stattgefunden hat (einstimmig). [...] Die Verwaltungspraxis dauerte an, nachdem die diesbezüglichen Vorwürfe am 10.8.2018 an den GH herangetragen wurden, weshalb die Frist von sechs Monaten kein Problem aufwirft.
Zur behaupteten Verletzung von Art 18 iVm Art 5, 6, 7, 10 und 11 EMRK
(1328) [...] Die bf Regierung behauptete, die Verletzungen in Bezug auf die »ukrainischen politischen Gefangenen« hätten letztendlich darauf abgezielt, die Ukrainer einzuschüchtern und jede politische Opposition gegen die Vorgangsweise Russlands zu unterdrücken. [...]
Zulässigkeit
(1329) Die bf Regierung stützt sich [...] auf Art 18 iVm Art 5, 6, 8, 10 und 11 EMRK.
(1330) [...] Art 18 EMRK kann nicht unabhängig bestehen, sondern nur in Verbindung mit einem anderen Artikel der Konvention oder ihrer Protokolle angewendet werden, der das [...] garantierte Recht einschränkt oder ausgestaltet. [...]
(1331) Im Licht dieses Grundsatzes wirft die Anwendbarkeit von Art 18 iVm Art 5 und iVm Art 8 bis Art 11 EMRK kein Problem auf. [...]
(1332) Im Gegensatz dazu stellt sich bei der Prüfung der Anwendbarkeit von Art 18 iVm Art 6 und Art 7 EMRK die Frage, ob die durch diese beiden Artikel geschützten Rechte und Freiheiten zulässigen Einschränkungen unterliegen. [...] Die Rsp des GH weist diesbezüglich unterschiedliche Zugänge auf [...]. [...]
(1333) Vor diesem Hintergrund ergibt sich vor der GK die Frage, ob Art 6 und Art 7 EMRK irgendwelche ausdrücklichen oder impliziten Einschränkungen enthalten, die den Gegenstand der Prüfung des GH unter Art 18 EMRK bilden könnten.
(1335) [...] Aus den travaux préparatoires [...] folgt, dass Art 18 EMRK als allgemeiner Grundsatz zum Machtmissbrauch [...] verstanden wurde. Er wurde mit einem großen Anwendungsbereich ausgestattet, der darauf abzielte, die Demokratie zu bewahren und die ihr innewohnenden Rechte und Freiheiten vor den Gefahren des Totalitarismus zu schützen. Art 18 EMRK beruhte demnach auf der Absicht, missbräuchliche und illegitime Einschränkungen der Rechte und Freiheiten der EMRK durch staatliche Handlungen zu verhindern, die – wie etwa politisch motivierte Strafverfolgung – dem Geist der Konvention widersprechen. Sinn und Zweck von Art 18 EMRK [...] sprechen somit gegen eine enge Auslegung, bspw in Form einer Beschränkung auf Artikel, die ausdrücklich Einschränkungen vorsehen. Art 18 EMRK kann daher in Verbindung mit anderen Artikeln der Konvention angewendet werden, die implizite Einschränkungen enthalten. Im Gegensatz dazu wird er nicht in Verbindung mit absoluten Rechten anwendbar sein, die keine solchen
Einschränkungen erlauben.
(1336) Zugleich betont der GH die zentrale Bedeutung der Auslegung und Anwendung der EMRK in einer Weise, die ihre Rechte praktisch und effektiv macht und nicht theoretisch und illusorisch. [...] Daher ist es wichtig, die Anwendbarkeit von Art 18 EMRK im Licht jeglicher Weiterentwicklungen in der Rsp des GH zu Art 6 und Art 7 EMRK zu prüfen und insb festzustellen, ob implizite Einschränkungen der durch diese Artikel garantierten Rechte vom GH anerkannt wurden. [...]
Zu Art 18 iVm Art 6 EMRK
(1337) [...] Art 6 EMRK erlaubt sowohl ausdrückliche als auch implizite Einschränkungen. [...] Der GH hat eine umfangreiche Rsp zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen bestimmter durch Art 6 EMRK garantierter Rechte entwickelt.
(1338) [...] Art 6 EMRK schützt Rechte, im Hinblick auf die grundlegende Missbräuche durch einen Staat auftreten können. Daher dürfen Gerichtsverfahren nie für »versteckte Zwecke« verwendet und dadurch untergraben werden. Folglich [...] kann Art 18 iVm Art 6 EMRK anwendbar sein.
Zu Art 18 iVm Art 7 EMRK
(1339) Was Art 7 EMRK betrifft, hat der GH durchgehend festgehalten, dass [...] keine Derogation von dieser Bestimmung [...] gemäß Art 15 EMRK zulässig ist. [...] Dies bedeutet bspw, dass die grundlegenden Garantien des Art 7 EMRK bei der Strafverfolgung und Bestrafung von Terroristen nicht weniger streng angewendet werden dürfen [...].
(1340) Angesichts der nicht-derogierbaren Natur von Art 7 EMRK ist der GH der Ansicht, dass Art 18 EMRK nicht in Verbindung mit dieser Bestimmung anwendbar sein kann. Folglich muss die Beschwerde unter Art 18 iVm Art 7 EMRK als unvereinbar ratione materiae [und somit als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).
Schlussfolgerung zur Zulässigkeit
(1341) [...] Art 18 kann iVm Art 6 EMRK, aber nicht iVm Art 7 EMRK anwendbar sein. Zudem stellt der GH fest, dass die Beschwerde unter Art 18 iVm Art 5, 6, 8, 10 und 11 EMRK nicht an der Hürde des prima facie-Beweises scheitert und aus den unten erklärten Gründen auch nicht an der Frist von sechs Monaten. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
Grundlegender Aspekt der Rechtssache
(1353) Die Vorwürfe der bf Regierung betreffen eine behauptete politisch motivierte Verwaltungspraxis der Strafverfolgung und Verurteilung von Ukrainern wegen ihrer Gedanken, Meinungsäußerungen, politischen Haltungen und pro-ukrainischen Aktivitäten. Sie verwies auf ein »System der Verfolgung« von »ukrainischen politischen Gefangenen«, das durch eine »repressive Strafrechtsmaschinerie« mit »einem versteckten Zweck der Schaffung einer Atmosphäre der Einschüchterung und Unterdrückung« durchgesetzt wurde. Die Beschwerde unter Art 18 EMRK bildet [...] somit einen grundlegenden Aspekt der Rechtssache, der oben noch nicht angesprochen wurde und eine gesonderte Prüfung verdient.
Vielfalt an Zwecken
(1356) Der GH wird die Sache vom Standpunkt einer potenziellen Vielfalt an Zwecken prüfen [...]. Er wird folglich untersuchen, ob die umstrittenen Maßnahmen einen versteckten Zweck (einen Zweck, den die EMRK nicht vorsieht oder verbietet und der einen Machtmissbrauch umfasst) verfolgten und, wenn dies der Fall ist, ob dieser versteckte Zweck der vorherrschende Zweck der angewendeten Einschränkung war.
Verfolgung eines versteckten Zwecks
(1358) [...] Die behaupteten Verfolgungshandlungen richteten sich nicht gegen zufällig betroffene Personen, sondern gegen eine bestimmte Gruppe, die aus ukrainischen Aktivisten und Journalisten oder aus Krimtataren bestand, die ihre Grundrechte auf Meinungsäußerungs-, Versammlungs- oder Vereinigungsfreiheit ausgeübt hatten und als Unterstützer der staatlichen Souveränität und Integrität der Ukraine angesehen wurden. Diese Handlungen beruhten auf dem russischen Strafrecht und insb auf den Anti-Terror- und Anti-Extremismus-Gesetzen.
(1360) Sehr bald nachdem Russland die effektive Kontrolle über die Krim erlangt hatte, untersagte der Rat der Krim [...] am 11.3.2014 alle politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen [...], die als extremistisch angesehen wurden [...].
(1361) In einer Presseaussendung vom 4.6.2014 verkündete der russische Ermittlungsausschuss, eine Spezialeinheit zur Untersuchung der sogenannten »internationalen Verbrechen« gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine eingerichtet zu haben. [...]
(1362) Nach der Aufnahme der Krim als Teil der Russischen Föderation [...] hielten internationale Berichte fest, dass die Situation auf der Krim »durch eine fortgesetzte Umsetzung der Strategie gekennzeichnet sei, die Halbinsel in das rechtliche und politische System Russlands zu integrieren, sowie durch wiederkehrende Akte der Einschüchterung, die gegen die Krimtataren, Gegner des ›Referendums‹ vom März und Kritiker der de facto-Behörden gerichtet waren.« Betont wurde auch, dass der Generalstaatsanwalt der Krim am 23.9.2014 angekündigt hatte, dass alle gegen die Anerkennung der Krim als Teil Russlands gerichteten Handlungen strafrechtlich verfolgt würden [...].
(1366) Diese [...] Vorgehensweise zeigt die proaktiven und anhaltenden Bemühungen Russlands, nicht nur gegen jeden vorzugehen, der seinen Interessen und seiner Politik widersprach, sondern auch, die Bevölkerung zu ermutigen, solche Personen und ihre Handlungen zu melden.
(1367) Überdies sind dem GH die verlässlichen internationalen Berichte über die Menschenrechtssituation auf der Krim bekannt, die ein weit verbreitetes Klima der Einschüchterung, Belästigung und des Drucks beschreiben, die gegen jene gerichtet sind, die Ablehnung und Kritik gegenüber den russischen Behörden äußern.
(1371) Auch dem von russischen und ukrainischen NGOs [...] erstellten Material [...] misst der GH Bedeutung zu. [...]
(1372) [...] In vielen der Strafverfahren, auf die sich die bf Regierung bezog, versuchten die Strafverfolgungsbehörden der Krim, die gegen die betroffenen Personen erhobenen Vorwürfe in einen Zusammenhang zu ihren politischen Ansichten oder ihren (tatsächlichen oder vermuteten) Verbindungen zu verschiedenen verbotenen Organisationen mit mutmaßlichen anti-russischen Ansichten zu bringen [...].
(1373) Zudem bemerkt der GH, dass [...] mehrere auf der Krim lebende Personen in Verletzung des Legalitätsprinzips nach russischen Gesetzen verurteilt wurden, die auf vor der Herstellung effektiver Kontrolle Russlands über die Krim begangene Taten angewendet wurden [...].
(1375) Die oben genannten Faktoren reichen aus, um dem GH den Schluss zu erlauben, dass die von der bf Regierung angeführte Strafverfolgung und Verurteilung von Personen durch einen versteckten politischen Zweck ausgelöst wurde, der letztendlich darin bestand, jede politische Opposition zu bestrafen und zum Schweigen zu bringen.
(1376) Der GH muss nun bestimmen, ob der [...] versteckte Zweck der vorherrschende Zweck der [...] Einschränkungen war. Welcher Zweck genau in einem bestimmten Fall der vorherrschende ist, hängt von allen relevanten Umständen ab. Bei der Beurteilung dieses Punkts wird der GH die Art und den Grad der Verwerflichkeit des behaupteten versteckten Zwecks berücksichtigen und sich der Tatsache bewusst sein, dass die EMRK dazu geschaffen wurde, die Ideale und Werte einer demokratischen, von der Rechtsstaatlichkeit beherrschten Gesellschaft zu bewahren und zu schützen.
(1377) [...] Diese Angelegenheit ist vor dem generellen Hintergrund des Falls zu betrachten. Die Verwerflichkeit des versteckten Zwecks wird durch die Tatsache untermauert, dass eine Reihe von Resolutionen des Europarats und der EU ergangen sind, mit denen Russland zur Freilassung politischer Gefangener [...] aufgefordert wurde [...]. Das Europäische Parlament stellte fest, dass »das Gerichtssystem als politisches Werkzeug zur Unterdrückung der Gegner der russischen Annexion der Krim« instrumentalisiert wird. Die Fälle der »ukrainischen politischen Gefangenen« sind daher nach Ansicht des GH typisch für ein Muster der vergeltenden Strafverfolgung und des Missbrauchs des Strafrechts und sie zeigen eine generelle Niederschlagung der politischen Opposition gegen die Vorgangsweise Russlands auf der Krim.
(1379) [...] Die russischen Behörden versuchten letztendlich, den politischen Pluralismus zu unterdrücken, der Teil der von der »Rechtsstaatlichkeit« beherrschten »effektiven politischen Demokratie« ist – beides Konzepte, auf die sich die Präambel der Konvention bezieht. Aus diesem Grund misst der GH den abschreckenden Effekten der umstrittenen Einschränkungen die größte Bedeutung zu.
(1380) Angesichts des Vorstehenden ist der GH davon überzeugt, dass der versteckte Zweck der Einschränkung der Rechte von »ukrainischen politischen Gefangenen« den vorherrschenden Zweck darstellte.
(1381) [...] Der GH ist überzeugt davon, dass der Sachverhalt nicht nur ein regelmäßiges Muster der Begehung, sondern auch das Bestehen einer anhaltenden staatlichen Strategie der Unterdrückung jeder Opposition gegen die russische Politik zeigt. Diese Vorgehensweise wurde von prominenten Vertretern wichtiger russischer Behörden entwickelt und öffentlich gefördert, womit das Element der »offiziellen Duldung« erfüllt ist.
(1382) Folglich kommt der GH zu dem Schluss, dass eine Verletzung von Art 18 iVm Art 5, 6, 8, 10 und 11 EMRK durch eine anhaltende Verwaltungspraxis der Einschränkung der in der EMRK verankerten Rechte und Freiheiten von »ukrainischen politischen Gefangenen« auf der Krim für einen versteckten, von der Konvention nicht vorgesehenen Zweck begründet wurde (einstimmig). Da sich an diesem versteckten Zweck der Einschränkungen nichts geändert hat, besteht [...] kein Problem hinsichtlich der Frist von sechs Monaten.
Zur Anwendung von Art 46 EMRK
(1387) [...] Der belangte Staat muss jede Maßnahme ergreifen, um so schnell wie möglich die sichere Rückkehr der betroffenen Gefangenen, die von der Krim in Strafanstalten im Gebiet Russlands verlegt wurden, sicherzustellen.
Entschädigung nach Art 41 EMRK
(1390) Die Frage der Anwendung von Art 41 EMRK ist [...] nicht entscheidungsreif (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Loizidou/TR, 18.12.1996, 15318/89 = EuGRZ 1997, 555 = ÖJZ 1997, 793
Ilaşcu ua/MD und RU, 8.7.2004, 48787/99 (GK) = NL 2004, 174
Hizb Ut-Tahrir ua/DE, 12.6.2012, 31098/08 (ZE) = EuGRZ 2013, 114
Catan ua/MD und RU, 19.10.2012, 43370/04 ua (GK)= NLMR 2012, 335
Hassan/GB, 16.9.2014, 29750/09 (GK) = NLMR 2014, 389
Chiragov ua/AM, 16.6.2015, 13216/05 (GK) = NLMR 2015, 263
Mozer/MD und RU, 23.2.2016, 11138/10 (GK) = NLMR 2016, 13
Polyakova ua/RU, 7.3.2017, 35090/09 ua
Merabishvili/GE, 28.11.2017, 72508/13 (GK) = NLMR 2017, 561
Navalnyy/RU, 15.11.2018, 29580/12 ua (GK) = NLMR 2018, 543
Ukraine/RU (Krim), 16.12.2020, 20958/14, 38334/18 (ZE der GK) = NLMR 2021, 13
Georgien/RU (II), 21.1.2021, 38263/08 (GK) = NLMR 2021, 20
Ukraine und Niederlande/RU, 30.11.2022, 8019/16 ua (ZE der GK) = NLMR 2023, 13
Fedotova ua/RU, 17.1.2023, 40792/10 ua (GK) = NLMR 2023, 45
Pivkina ua/RU, 6.6.2023, 2134/23 ua (ZE) = NLMR 2023, 391
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.6.2024, Bsw. 20958/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 289) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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