Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Patalakh gg. Deutschland, Urteil vom 8.3.2018, Bsw. 22692/15.
-SPRUCH-
Art. 5 Abs. 4 EMRK - Übermäßige Dauer einer Haftprüfung während der Untersuchungshaft.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Der Bf. hat keinen Antrag auf Entschädigung gestellt. Zurückweisung des Antrags auf Zuerkennung von Kosten und Auslagen als unzureichend substantiiert (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. ist russischer Staatsangehöriger. Am 30.10.2013 stellte das Amtsgericht Frankfurt am Main einen Haftbefehl gegen ihn aus, da er dringend verdächtigt wurde, die Delikte der schweren Unterschlagung, gewerbsmäßigen Korruption und schweren Steuerhinterziehung begangen zu haben. Der Bf. wurde noch am selben Tag festgenommen und über ihn die Untersuchungshaft verhängt.
Über Antrag der Staatsanwaltschaft ordnete das OLG Frankfurt am Main am 28.7.2014 die Verlängerung der Untersuchungshaft an. Es verfügte, dass ihm der Strafakt von der Staatsanwaltschaft bis spätestens 28.10.2014 zum Zweck der nächsten periodischen Haftprüfung übermittelt werden solle, bis dahin übertrug es die Kompetenz für weitere Haftprüfungen (Anm: Nach § 122 Abs. 3 StPO kann das OLG die Haftprüfung dem Gericht, das nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständig ist, für die Zeit von jeweils höchstens drei Monaten übertragen.) an das Amtsgericht Frankfurt am Main.
Im September 2014 erhob der Bf. gegen diesen Beschluss Beschwerde an das BVerfG, welche jedoch nicht zur Entscheidung angenommen wurde.
In der Folge erhob der Bf. erfolglos einen Befangenheitsantrag gegen den zuständigen Richter des Amtsgerichts Frankfurt am Main.
Am 24.10.2014 übermittelte die Staatsanwaltschaft den Strafakt zurück an das OLG und beantragte eine Verlängerung der Untersuchungshaft iSv. § 121 ff. StPO (Anm: § 121 Abs. 1 StPO lautet: »Solange kein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe [...] erkennt, darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen.« § 122 Abs. 4 StPO zufolge ist die Prüfung der Voraussetzungen nach § 121 Abs. 1 StPO auch im weiteren Verfahren dem OLG vorbehalten. Die Prüfung muss jeweils spätestens nach drei Monaten wiederholt werden.).
Am 25.11.2014 stellte der Bf. einen Befangenheitsantrag gegen zwei der drei Richter des OLG, die zur Entscheidung über die Fortsetzung der Untersuchungshaft berufen worden waren. Die betroffenen Richter gaben dazu eine Stellungnahme ab. In der Folge stellte der Bf. erneut einen Ablehnungsantrag gegen die beiden Richter. Mit Beschluss vom 30.12.2014 bzw. 22.1.2015 wies das OLG die Ablehnungsanträge als unbegründet ab.
Am 19.12.2014 erhob die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main in acht Punkten Anklage gegen den Bf.
Ende Jänner 2015 holte das OLG beim Landgericht Frankfurt am Main Erkundigungen zum Stand des Strafverfahrens ein. Von der Staatsanwaltschaft wurde ihm mitgeteilt, dass dieses mittlerweile dem Landgericht Darmstadt übertragen worden sei, woraufhin sich das OLG mit einem ähnlichen Anliegen an dieses wandte.
Mit Eingabe vom 27.3. bzw. 10.4.2015 ersuchte der Bf. das OLG um eine zügige Entscheidung im anhängigen Haftprüfungsverfahren.
Am 21.4.2015 erhob der Bf. eine weitere Beschwerde an das BVerfG, in der er eine Verletzung seines Rechts auf persönliche Freiheit wegen Versäumnisses des OLG, eine Entscheidung im Haftprüfungsverfahren zu treffen, behauptete. Das BVerfG lehnte eine Behandlung der Beschwerde erneut ohne Angabe von Gründen ab.
Am 15.5.2015 wurde der Bf. über die am 15.4.2015 getroffene Entscheidung des OLG informiert, die Untersuchungshaft wegen anhaltender Fluchtgefahr zu verlängern. Im Lichte insbesondere des Umfangs des zu untersuchenden Beweismaterials, der an mehrere Länder gestellten Rechtshilfeersuchen und des Umfangs und der Komplexität des Falles seien keine Hinweise auf eine ungebührliche Verzögerung des Strafverfahrens hervorgekommen. Auf die Dauer des Haftprüfungsverfahrens ging das OLG mit keinem Wort ein.
Am 14.7.2016 wurde der Bf. vom Landgericht Frankfurt am Main in fünf Anklagepunkten schuldig gesprochen und zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.
Rechtsausführungen:
Der Bf. beklagt sich, dass es das zuständige innerstaatliche Gericht verabsäumt habe, die Rechtmäßigkeit seiner Untersuchungshaft zu überprüfen bzw. die genannte Überprüfung erst nach einer signifikanten Verzögerung vorgenommen habe. Dies habe zu einer automatischen und willkürlichen Fortsetzung seiner Haft entgegen den Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) und Art. 5 Abs. 4 EMRK (Recht auf Haftprüfung) geführt.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK
(26) Der vorliegende Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
(33) Der GH möchte eingangs vermerken, dass der Begriff »innerhalb kurzer Frist« nicht abstrakt definiert werden kann, sondern im Lichte der Umstände jedes einzelnen Falls, einschließlich der Komplexität des Verfahrens, des Verhaltens der innerstaatlichen Behörden und des Bf. sowie dessen, was für Letzteren auf dem Spiel steht, bestimmt werden muss. [...] Nichtsdestotrotz besteht in Fällen, bei denen eine Hauptverhandlung ansteht, ein besonderes Bedürfnis für eine schnelle Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Haft, da der Beschuldigte in den vollen Genuss des Prinzips der Unschuldsvermutung kommen sollte. Zu prüfen ist stets, welche Sorgfalt die Behörden an den Tag gelegt haben.
(34) Das Vorbringen des Bf. kann aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden: erstens aus dem Blickwinkel der zeitlichen Intervalle zwischen den vom OLG getroffenen Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft, zweitens aus dem Blickwinkel einer fehlenden zügigen Entscheidung nach der Einleitung des Haftprüfungsverfahrens vor dem OLG.
(35) Ausgehend zunächst von letzterem Blickwinkel weist der GH darauf hin, dass die relevante Periode von der Einleitung des Haftprüfungsverfahrens bis zur Zustellung der Entscheidung an den Bf. zu bemessen ist, also im vorliegenden Fall vom 24.10.2014 bis zum 15.5.2015. Die Dauer von sechseinhalb Monaten scheint auf den ersten Blick mit dem Prinzip der Zügigkeit unvereinbar zu sein – dies umso mehr, wenn es zu einer Überprüfung der Untersuchungshaft kommt, für die der GH in seiner Rechtsprechung relativ strikte Standards festgelegt hat.
(36) Unter solchen Umständen hat der belangte Staat eine Erklärung für den Grund der Verzögerung abzugeben und muss außergewöhnliche Gründe vorbringen, welche die verstrichene Zeit zu rechtfertigen vermögen.
(37) Der GH akzeptiert zunächst, dass die zwischen dem 24.10.2014 und dem 22.1.2015 aufgetretenen Verzögerungen mit [von den Gerichten] zu beachtenden verfahrensrechtlichen Garantien und in erster Linie durch das Verhalten des Bf. in Form von zwei eingebrachten Befangenheitsanzeigen erklärt werden können.
(38) Was den Zeitraum zwischen dem 22.1.2015 und dem 15.5.2015 angeht, ist zu vermerken, dass zu dessen Beginn nach Einleitung des Haftprüfungsverfahrens [...] bereits drei Monate vergangen waren und beinahe sechs Monate seit der letzten Entscheidung über die Inhaftierung des Bf. Der GH ist daher der Ansicht, dass der Rest des Haftprüfungsverfahrens mit besonderer Sorgfalt abgeführt hätte werden müssen. Er akzeptiert, dass das gegen den Bf. angestrengte Strafverfahren komplex war, sich die verfahrensrechtliche Situation nach der Anklageerhebung am 19.12.2014 massiv geändert und das OLG eine umfangreiche Einschätzung vorzunehmen hatte – inklusive des bisherigen Verlaufs des Strafverfahrens und dahingehend, ob es ungebührliche Verzögerungen gab, welche die Untersuchungshaft des Bf. unverhältnismäßig erscheinen lassen würden.
(39) Nichtsdestotrotz ist festzuhalten, dass das OLG, nachdem es anfänglich das falsche Gericht kontaktiert hatte, am 3.2.2015 nur Erkundigungen beim Landgericht Darmstadt zum Stand des Verfahrens und den neuesten Entwicklungen [...] einholte. Es entschied am 15.4.2015 über die Fortsetzung der Untersuchungshaft des Bf., nachdem es beinahe drei Monate zuvor seine zweite Befangenheitsrüge abgewiesen hatte. Es brauchte dann einen weiteren Monat – bis zum 15.5.2015 – für die Zustellung einer zehn Seiten umfassenden Entscheidung an den Bf., der in der Zwischenzeit eine Verfassungsbeschwerde [...] und die gegenständliche Beschwerde an den GH erhoben hatte. In Summe verstrichen fast vier Monate – vom 22.1.2015 bis zum 15.5.2015 – zwischen der Abweisung seiner zweiten Befangenheitsrüge und der Zustellung der Entscheidung des OLG auf Fortsetzung der Untersuchungshaft. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits fast sieben Monate nach Einleitung des Haftprüfungsverfahrens am 24.10.2014 vergangen.
(40) Während der GH durchaus akzeptiert, dass das Haftprüfungsverfahren vorwiegend wegen des Verhaltens des Bf. beinahe drei Monate verzögert wurde, die verfahrensrechtliche Situation sich inzwischen geändert hatte, das Strafverfahren komplex war und das OLG zwei umfangreiche Vorbringen des Anwalts im Hauptverfahren [...] in Betracht ziehen musste, wiederholt er dennoch, dass er in seinem Fallrecht betreffend die Frage der Befolgung des »Raschheitsgebots« durch den Staat relativ strikte Standards niedergelegt hat. So ist der GH beispielsweise im Fall Baranowski/PL zu einer Verletzung des Raschheitsgebots des Art. 5 Abs. 4 EMRK gelangt, wo die Haftprüfung eine Bewertung komplexer medizinischer Fragen miteinschloss und beinahe sechs Monate dauerte – also weniger Zeit als im vorliegenden Fall. Ebenso kam er zu dem Ergebnis, dass in Verfahren vor den ordentlichen Gerichten, denen ein gerichtlicher Haftbefehl zugrunde lag, Verzögerungen über drei bis vier Wochen hinaus, für welche die Behörden verantwortlich zeichneten, Fragen [betreffend eine Befolgung] des »Zügigkeitserfordernisses« des Art. 5 Abs. 4 EMRK aufwarfen (vgl. unter anderem die Fälle G. B./CH und Lebedev/RUS).
(41) Im Lichte des Vorgesagten kommt der GH zum Ergebnis, dass das OLG nicht die notwendige »spezielle Sorgfalt« an den Tag legte und über die Rechtmäßigkeit der Haft des Bf. in Befolgung des »Raschheitsgebots« des Art. 5 Abs. 4 EMRK entschied – sowohl was die Zeit angeht, die seit der Einleitung des Haftprüfungsverfahrens verstrich, als auch hinsichtlich der Zeitspanne nach Abweisung der zweiten Befangenheitsrüge am 22.1.2015.
(42) Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich im vorliegenden Fall um ein Haftprüfungsverfahren handelte, führt eine Analyse des Vorbringens des Bf. unter Art. 5 Abs. 4 EMRK aus einem anderen möglichen Blickwinkel, nämlich jenem der zwischen den Haftprüfungen liegenden Intervalle, [...] zu keinem anderen Ergebnis.
(43) Während das nationale Recht vorsah, dass eine automatische wiederkehrende Prüfung [der Haft] nicht später als alle drei Monate durchgeführt werden sollte, wurde das gegenständliche Haftprüfungsverfahren erst neuneinhalb Monate nach der vorhergehenden Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Bf. beendet. In Erinnerung rufend, dass die Untersuchungshaft bereits von ihrer Natur her eine periodische gerichtliche Prüfung in kurzen Intervallen erfordert, weil eine Vermutung besteht, dass eine solche Haftform von strikt begrenzter Dauer sein sollte, ist der GH der Ansicht, dass im Hinblick auf den Abstand zwischen diesen zwei Entscheidungen von einem »angemessenen Intervall« einer wiederkehrenden gerichtlichen Überprüfung der Untersuchungshaft des Bf. nicht die Rede sein kann.
(44) Folglich liegt eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK vor (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Ranzoni).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK
(45) Angesichts seiner Schlussfolgerungen zu Art. 5 Abs. 4 EMRK sieht der GH von einer gesonderten Prüfung des Beschwerdepunkts unter Art. 5 Abs. 1 EMRK ab (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Der Bf. hat keinen Antrag auf Entschädigung gestellt. Den Antrag des Bf. auf Zuerkennung von Kosten und Auslagen weist der GH zurück, da er nicht ausreichend spezifiert oder mit Dokumenten belegt wurde (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Musial/PL v. 25.3.1999 (GK) = NL 1999, 61 = EuGRZ 1999, 322
Baranowski/PL v. 28.3.2000
G. B./CH v. 30.11.2000
Lebedev/RUS v. 25.10.2007 = NL 2007, 264
Mooren/D v. 9.7.2009 (GK) = NL 2009, 205 = EuGRZ 2009, 566
Abdulkhakov/RUS v. 2.10.2012 = NLMR 2012, 322
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.3.2018, Bsw. 22692/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 111) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/18_2/Patalakh.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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