Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Sommer gg. Deutschland, Urteil vom 27.4.2017, Bsw. 73607/13.
Art. 8 EMRK - Einsichtnahme in Konten eines Rechtsanwalts im Zuge von Ermittlungen gegen seinen Mandanten.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Im Zuge von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bochum wegen gewerbsmäßigem Betrug wurden 2010 und 2011 einige Bankkonten untersucht. Bei einem der Verdächtigen handelte es sich um einen früheren Mandanten des Bf., der als Strafverteidiger tätig ist. Die Durchsicht der Konten zeigte auch eine Überweisung des Betrags von € 1.500,– vom Konto der Verlobten des Mandanten des Bf. auf dessen Geschäftskonto mit dem Vermerk »Honorar«.
Aufgrund dieser Überweisung ersuchte die Staatsanwaltschaft am 1.3. bzw. 1.4.2011 die Bank des Bf. um Übermittlung von Informationen unter anderem über sämtliche bestehenden und früheren Konten des Bf., diesbezügliche Verfügungsberechtigungen, internationale Geldtransfers über diese Konten sowie um eine Liste mit allen seit 1.1.2009 erfolgten Transaktionen. Die Staatsanwaltschaft forderte die Bank auf, den Bf. nicht von diesen Auskunftsersuchen in Kenntnis zu setzen. Das Geldinstitut entsprach dieser Bitte und übermittelte die gewünschten Informationen. Nach einer Analyse durch Polizei und Staatsanwaltschaft wurden 53 Transaktionen als relevant erachtet und zum Ermittlungsakt gegeben. Dadurch wurden die Informationen über die Konten des Bf., einschließlich der Namen seiner Klienten, die Honorare überwiesen hatten, für alle Personen zugänglich, die Akteneinsicht hatten. Der Bf. erfuhr erst am 31.12.2012 von den seine Bankkonten betreffenden Ermittlungsmaßnahmen, nachdem es ihm gelungen war, Zugang zu den Ermittlungsakten zu erhalten.
Der Bf. beantragte daraufhin bei der Staatsanwaltschaft die Aushändigung aller von der Bank erhaltenen Informationen und die Vernichtung der sich darauf beziehenden Daten. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgewiesen, es bestünde der Verdacht, das von der Verlobten seines Mandanten überwiesene Geld stamme aus strafbaren Aktivitäten, weshalb es legitim wäre zu ermitteln, ob es weitere Geldtransfers zwischen dem Bf. und seinem Mandanten bzw. dessen Verlobter gegeben hatte.
Nachdem der Akt anlässlich der Eröffnung des Strafverfahrens gegen seinen Mandanten an das Landgericht Bochum übermittelt worden war, ersuchte der Bf. dieses um Herausgabe der Daten. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt. Allerdings entschied das Gericht, die fraglichen Dokumente vom Rest des Akts abzusondern und den Zugang dazu auf jene zu beschränken, die ein rechtliches Interesse daran nachweisen konnten.
Das gegen diese Entscheidung erhobene Rechtsmittel des Bf. wurde am 13.9.2012 vom OLG Hamm abgewiesen. Das BVerfG nahm die Beschwerde des Bf. am 19.9.2013 nicht zur Entscheidung an.
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK
(35) Der Bf. brachte vor, die deutschen Behörden hätten ohne Rechtfertigung sein Geschäftskonto betreffende Daten gesammelt, gespeichert und weitergegeben und dadurch auch Informationen über seine Klienten enthüllt. [...]
Zulässigkeit
(36) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] ist. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(48) Der GH [...] stellt fest, dass die Sammlung, Speicherung und Weitergabe der Daten über die geschäftlichen Banktransaktionen des Bf. einen Eingriff in sein Recht auf Achtung der beruflichen Vertraulichkeit und seines Privatlebens begründete.
(51) Wie der GH feststellt, nannte die Regierung § 161 StPO (Anm: Nach § 161 StPO ist die Staatsanwaltschaft zum Zweck der Erforschung des Sachverhalts befugt, »von allen Behörden Auskunft zu verlangen und Ermittlungen jeder Art [...] vorzunehmen [...] soweit nicht andere gesetzliche Vorschriften ihre Befugnisse besonders regeln.«) als rechtliche Grundlage für die Auskunftsersuchen [...]. Er stellt weiters fest, dass es keine spezifische Rechtsgrundlage für die Einholung von Bankinformationen gab und die Regierung § 161 StPO als »Generalklausel« beschrieb, die Ermittlungsmaßnahmen mit relativ geringfügigen Eingriffen gestatten würde.
(52) Was den Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses betrifft, stellt der GH fest, dass § 160a Abs. 4 StPO nicht das Bestehen einer förmlichen Ermittlung gegen den betroffenen Anwalt erfordert, sondern das in § 160a Abs. 1 und Abs. 3 StPO geregelte Verbot von Ermittlungsmaßnahmen gegen Rechtsanwälte aufgehoben werden kann, wenn bestimmte Tatsachen einen Verdacht der Beteiligung an einer Straftat begründen.
(53) § 161 und § 160a StPO [...] sind eher allgemein formuliert. Im Kontext geheimer Ermittlungen ist es essentiell, klare, detaillierte Regeln über Umfang und Anwendbarkeit solcher Maßnahmen sowie gewisse Verfahrensgarantien zu haben [...], die ausreichenden Schutz vor der Gefahr des Missbrauchs und der Willkür bieten. Der GH ist allerdings der Ansicht, dass diese wichtigen Fragen im vorliegenden Fall eng mit der breiteren Frage der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft verbunden sind, weshalb er sie als Teil dieser Angelegenheit beurteilen wird.
(54) [...] Der GH akzeptiert, dass der Eingriff darauf abzielte, eine Straftat aufzuklären und damit den legitimen Zielen der Verhütung von Straftaten, dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer und auch dem wirtschaftlichen Wohl des Landes diente.
(57) Zum vorliegenden Fall bemerkt der GH zunächst den weiten Umfang der Auskunftsersuchen der Staatsanwaltschaft, die Informationen über alle Transaktionen des Geschäftskontos des Bf. für eine Zeit von über zwei Jahren sowie über weitere, möglicherweise private, Konten des Bf. betrafen. Er stimmt dem Bf. dahingehend zu, dass die von der Bank übermittelten Informationen der Staatsanwaltschaft und der Polizei ein vollständiges Bild seiner beruflichen Tätigkeiten im betroffenen Zeitraum und zudem Informationen über seine Klienten boten. Der Eingriff wurde dadurch noch verstärkt, dass Auszüge dem Akt beigegeben und damit anderen Personen zugänglich gemacht wurden. Die Tatsache, dass nur 53 Transaktionen als relevant eingestuft und dem Akt beigegeben wurden und dass der Zugang zu den relevanten Aktenbestandteilen später vom Landgericht eingeschränkt wurde, konnte den bereits stattfindenden Eingriff nicht wiedergutmachen, sondern nur verhindern, dass er noch schwerwiegender wurde. Zusammenfassend stellt der GH fest, dass die Auskunftsersuchen nur zeitlich beschränkt waren, sich aber ansonsten auf alle das Bankkonto und Banktransaktionen des Bf. betreffenden Informationen bezogen. Er wird daher prüfen, ob die Versäumnisse bei der Einschränkung der Auskunftsersuchen durch ausreichende Verfahrensgarantien ausgeglichen wurden, die geeignet waren, den Bf. vor Missbräuchen und Willkür zu schützen.
(58) [...] Der GH bemerkt, dass § 161 StPO relativ geringfügige Eingriffe erlaubt, sobald ein Verdacht der Begehung einer Straftat besteht [...]. Die Schwelle für einen Eingriff ist nach § 161 StPO relativ niedrig und die Bestimmung sieht keine besonderen Garantien vor.
(59) Die Regierung brachte auch vor, die Bank hätte die Informationen [...] freiwillig übermittelt [...]. Dazu stellt der GH fest, dass die Auskunftsersuchen Informationen enthielten, wonach eine Weigerung der Bank, die verlangten Daten zu übermitteln, den Erlass einer zwangsweisen Vorführung zur förmlichen Befragung als Zeugen nach sich ziehen könne. Folglich bezweifelt der GH, dass die Bank völlig freiwillig handelte. Außerdem erinnert der GH daran, dass die Speicherung oder Sammlung von sich auf das »Privatleben« einer Person beziehenden Daten unabhängig davon einen Eingriff iSv. Art. 8 EMRK begründet, wer Besitzer des Mediums ist, auf dem Daten enthalten sind.
(60) In diesem Zusammenhang bemerkt der GH auch, dass der Regierung und den innerstaatlichen Behörden zufolge Banken und Bankangestellte nicht als »Hilfspersonen« iSv. § 53a StPO angesehen werden und daher kein eigenes Zeugnisverweigerungsrecht haben. Da der Bf. und die Drittpartei [die Bundesrechtsanwaltskammer] diese Auslegung von § 53a StPO bestritten, hält es der GH für angezeigt zu bekräftigen, dass es in erster Linie Sache der innerstaatlichen [...] Gerichte ist, Probleme der Auslegung des innerstaatlichen Rechts zu lösen. Die Rolle des GH beschränkt sich darauf sich zu vergewissern, ob die Auswirkungen einer solchen Interpretation mit der EMRK vereinbar sind. Allerdings hatte die Auslegung von § 53a StPO im vorliegenden Fall keine Auswirkungen, weil die innerstaatlichen Behörden und Gerichte davon ausgingen, dass § 160a Abs. 4 StPO Ermittlungsmaßnahmen gegen den Bf. gestattete. Folglich wären mögliche Garantien nach § 53a StPO ebenfalls außer Kraft gesetzt gewesen.
(61) Der GH stellt fest, dass § 160a StPO besondere Garantien für Rechtsanwälte und das Anwaltsgeheimnis vorsieht. Er bemerkt aber auch, dass ein solcher Schutz nach § 160a Abs. 4 StPO aufgehoben werden kann, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht der Beteiligung an einer Straftat begründen. Der Regierung zufolge [...] erfordert § 160a Abs. 4 StPO nicht, dass eine förmliche Ermittlung gegen einen Rechtsanwalt stattfindet, damit der Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses aufgehoben werden kann. Nach Ansicht der innerstaatlichen Behörden und Gerichte boten die Überweisung des Honorars durch die Verlobte des Mandanten des Bf. an diesen und der Verdacht, dass aus strafbaren Aktivitäten stammendes Geld auf das Konto der Verlobten transferiert worden war, eine ausreichende Begründung eines Verdachts gegen den Bf. Aufgrund der von den Parteien vorgelegten Informationen und Dokumente findet der GH, dass der Verdacht gegen den Bf. eher vage und unbestimmt war.
(62) Zu guter Letzt bemerkt der GH, dass die Einsichtnahme in das Konto des Bf. nicht von einem Richter angeordnet wurde und keine besonderen Verfahrensgarantien angewendet wurden, um das Anwaltsgeheimnis zu schützen. Soweit die Regierung vorbrachte, dass der Bf. eine gerichtliche Überprüfung der Maßnahmen in analoger Anwendung von § 98 Abs. 2 StPO erlangen hätte können, erinnert der GH daran, dass eine nachträgliche gerichtliche Überprüfung ausreichenden Schutz bieten kann, wenn ein Prüfungsverfahren in einem früheren Stadium den Zweck der Ermittlungen oder der Überwachung gefährden würde. Die Effektivität einer nachträglichen gerichtlichen Überprüfung hängt jedoch untrennbar mit der Frage der nachfolgenden Benachrichtigung über die Überwachungsmaßnahmen zusammen. Grundsätzlich besteht wenig Raum für eine Anrufung der Gerichte durch eine Person, solange sie nicht auf die ohne ihr Wissen erfolgten Maßnahmen hingewiesen wird [...]. Dazu bemerkt der GH, dass die Staatsanwaltschaft die Bank aufforderte, den Bf. nicht über die Auskunftsersuchen zu informieren, der Bf. von der Staatsanwaltschaft nicht über die Einsichtnahme in sein Geschäftskonto informiert wurde und er erst aus dem Akt von der [...] Maßnahme erfuhr. Der GH schließt daraus, dass der Bf., auch wenn kein rechtliches Gebot bestand, ihn zu informieren, durch Zufall von den Ermittlungsmaßnahmen erfuhr und Zugang zu einer nachträglichen gerichtlichen Überprüfung der Auskunftsersuchen der Staatsanwaltschaft hatte.
(63) Angesichts der niedrigen Schwelle für eine Einsichtnahme in das Bankkonto des Bf., des großen Umfangs der Auskunftsersuchen, der folgenden Weitergabe und anhaltenden Aufbewahrung der persönlichen Daten des Bf. und der unzureichenden Verfahrensgarantien kommt der GH zum Schluss, dass der Eingriff nicht verhältnismäßig und damit nicht »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war. Folglich hat eine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 4.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
S. und Marper/GB v. 4.12.2008 (GK) = NL 2008, 356 = EuGRZ 2009, 299
Uzun/D v. 2.9.2010 = NLMR 2010, 271 = EuGRZ 2011, 115
Robathin/A v. 3.7.2012 = NLMR 2012, 229 = ÖJZ 2012, 1103
Michaud/F v. 6.12.2012 = NLMR 2012, 396
M. N. u.a./SM v. 7.7.2015 = NLMR 2015, 332
Roman Zakharov/RUS v. 4.12.2015 (GK) = NLMR 2015, 509
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.4.2017, Bsw. 73607/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2017, 159) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/17_2/Sommer.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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