Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Marc Brauer gg. Deutschland, Urteil vom 1.9.2016, Bsw. 24062/13.
Art. 6 Abs. 1 EMRK - Zurückweisung der Revision eines psychisch Kranken gegen seine Einweisung wegen Verfristung.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Der Bf. hat keine Entschädigung beantragt.
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. wurde nach der Begehung von Sachbeschädigungen und Widerstand gegen einen Gerichtsbediensteten im Juni 2012 vorläufig in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert.
Am 18.12.2012 hielt das LG Münster in seinem Urteil fest, dass der Bf. psychisch krank und strafrechtlich nicht für seine Handlungen verantwortlich sei. Es ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Bei Verkündung des Urteils erklärte der Bf., dass er seinen Pflichtverteidiger wechseln und daher selbst gegen das Urteil berufen wolle. Da das an Ort und Stelle nicht möglich war, wurde er vom vorsitzenden Richter über Zeit und Form der Erhebung einer Revision instruiert. Der Bf. wurde sodann zurück ins Krankenhaus geführt.
Am Freitag, dem 21.12.2012, erhielt der Bf. einen Brief seines Pflichtverteidigers, mit dem dieser bezugnehmend auf den vom Bf. diesbezüglich ausdrücklich geäußerten Wunsch sein Mandat für beendet erklärte und ihn noch einmal mit Informationen zur Erhebung der Revision versorgte. Noch am selben Tag verfasste der Bf. eine solche, die er an das Amtsgericht Rheine richtete, und übergab sie dem Klinikpersonal. Dieses brachte sie am nächsten Tag zur Post.
Das Schreiben erreichte am 28.12.2012 das Amtsgericht Rheine, das es an das LG Münster weiterleitete. Dieses erhielt es am 3.1.2013. Das LG informierte den Bf. am 8.1.2013, dass die Revision verspätet erfolgt sei.
Der Anwalt des Bf., der seine Tätigkeit wiederaufgenommen hatte, beantragte am 14.1.2013 eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 44 StPO und erhob damit zusammen Revision. Er wies darauf hin, dass der Bf. seinen Rat missverstanden und fälschlich angenommen hätte, dass er sowohl selber entscheiden konnte, ob er die Revision beim Amtsgericht oder beim LG einbrachte, als auch, ob er dies schriftlich oder mündlich tat.
Der BGH wies den Antrag des Bf. auf Wiedereinsetzung am 24.4.2013 ebenso zurück wie die Revision, die damit verspätet erfolgt war. Er befand, dass der Bf. bei Verkündung des Urteils ausdrücklich belehrt worden sei, dass eine Revision an das Amtsgericht Rheine nur mündlich zu Protokoll gegeben, dort aber nicht schriftlich eingebracht werden könne. Es gebe keine Hinweise darauf, dass der Bf. diese Belehrung nicht verstanden habe. Auch sei der Brief seines Verteidigers an ihn nicht missverständlich gewesen.
Am 29.6.2013 lehnte das BVerfG die vom Bf. erhobene Verfassungsbeschwerde ab (2 BvR 1243/13).
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) durch die Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch den BGH.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
Zulässigkeit
(22) Die Regierung erhob Einreden betreffend die Erschöpfung des Instanzenzugs.
(23) Sie wies darauf hin, dass sich der Bf. im Verfahren über die Wiedereinsetzung nie darüber beschwert hätte, dass sich sein [...] Anwalt geweigert habe, eine Revision zu erheben, oder dass er am Tag der Urteilsverkündung an einer besonderen Krankheit gelitten habe. [...]
(24) Zudem hätte der Bf. – soweit er rügen würde, dass der BGH sein Vorbringen im Hinblick auf seine Krankheit nicht berücksichtigt hätte –, vor Letzterem eine Anhörungsrüge erheben müssen.
(25) Zuletzt betonte die Regierung, dass der Bf. seine vollständige Verfassungsbeschwerde [...] beim BVerfG nicht in der gesetzlichen einmonatigen Frist eingereicht hätte. [...] Dieses hätte daher keine Gelegenheit gehabt, die Verfassungsbeschwerde in der Sache zu prüfen.
(27) Der GH nimmt zur Kenntnis, dass die Regierung ihre erste Einrede auf den Umstand beschränkt, dass einige der vom Bf. aufgeworfenen Argumente im Verfahren über die Wiedereinsetzung nicht oder nicht ausreichend vorgebracht worden wären. [...] Diese Einrede bezieht sich auf den Inhalt des Falles und sollte nicht unter dem Aspekt der Zulässigkeit der Beschwerde behandelt werden.
(28) Der Bf. hat nicht gerügt, dass der BGH sein Vorbringen im Hinblick auf seine Krankheit übersehen hätte. Der GH kann daher die Ansicht der Regierung nicht teilen, dass der Bf. zur Erschöpfung des Instanzenzugs eine Anhörungsrüge erheben hätte sollen.
(29) Schließlich bemerkt der GH, dass das BVerfG in seiner Entscheidung vom 29.6.2013 keine Gründe für die Verweigerung der Annahme der Beschwerde des Bf. zur Entscheidung anführte. Es gibt keine Hinweise darauf, dass das BVerfG erwog, dass der Bf. formale Anforderungen nicht eingehalten hätte. Unter diesen Umständen sieht sich der GH nicht in der Lage, die Stelle des BVerfG einzunehmen und Spekulationen anzustellen, warum dieses Gericht sich entschied, die Beschwerde nicht anzunehmen. [...]
(30) Im Ergebnis weist der GH die weiteren Einreden der Regierung [...] zurück. Da die Beschwerde zudem weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, ist sie für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
(34) [...] Das »Recht auf ein Gericht« [...] ist nicht absolut, sondern implizit erlaubten Einschränkungen unterworfen, vor allem, wenn die Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Berufung betroffen sind. [...] Beschränkungen des Zugangs einer Person zu einem Gericht müssen aber ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sein und dürfen den Zugang zum Gericht nicht auf eine Weise oder in einem Ausmaß beschränken, dass das Wesen dieses Rechts verletzt wird. Das gilt insbesondere für die gerichtliche Auslegung von verfahrensrechtlichen Bestimmungen wie Fristen für die Einreichung von Dokumenten oder für das Erheben von Berufungen [...].
(35) Zu den Tatsachen des vorliegenden Falles bemerkt der GH, dass der BGH es ablehnte, die Revision des Bf. in der Sache zu prüfen, weil dieser es verabsäumt hatte, seine Beschwerde innerhalb der gesetzlich vorgesehenen einwöchigen Frist zu erheben, und gleichzeitig seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückwies. Er bemerkt, dass die Festlegung einer gesetzlichen Frist zur Erhebung einer Rechtsberufung zentral ist, um die ordentliche Rechtspflege und insbesondere die Beachtung der Rechtssicherheit sicherzustellen.
(36) Der GH beobachtet, dass die einwöchige Frist des § 341 Abs. 1 StPO angesichts des Umstands, dass der Bf. inhaftiert war, ziemlich kurz war. Er bemerkt aber auch, dass diese Frist nicht die Begründung der Revision betrifft, die einer anderen, allgemein mit Erhalt des begründeten Urteils in Gang gesetzten Frist unterliegt. Für die Erhebung einer Revision reicht eine einzige geschriebene Zeile aus. Zudem hatte der Bf. das Recht, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen, und machte von dieser Möglichkeit auch tatsächlich Gebrauch. Daher wirft die kurze Frist für sich keine Frage unter Art. 6 Abs. 1 EMRK auf [...].
(37) Der GH beobachtet weiters, dass der BGH feststellte, dass der Bf. nach innerstaatlichem Recht keine gültige schriftliche Revision beim Amtsgericht Rheine erheben konnte. § 341 Abs. 1 StPO bestimmt, dass eine – schriftliche oder zu Protokoll gegebene – Revision allgemein bei dem Gericht eingelegt werden muss, dessen Urteil angefochten wird. Im vorliegenden Fall war das das LG Münster. § 299 Abs. 1 StPO gestattet eine Ausnahme nur für den Fall, dass die verurteilte Person inhaftiert ist und es vorzieht, eine mündliche Erklärung zu Protokoll zu geben. In diesem Fall ist das Amtsgericht am Haftort ebenfalls zuständig. Im Fall des Bf. war dies das Amtsgericht Rheine. Der Bf. erhob bei letzterem Gericht, das nur zuständig war, eine mündliche Aussage zu Protokoll zu nehmen, jedoch eine schriftliche Revision. Deshalb war die Feststellung des BGH, dass die Revision verspätet erhoben worden war, primär auf den Umstand gestützt, dass der Bf. seine schriftliche Revision an das falsche Gericht adressierte.
(38) Es ist zu entscheiden, ob die Weigerung des BGH, eine Wiedereinsetzung zu gewähren, den Zugang des Bf. zu einem Gericht unter den besonderen Umständen des Falles auf eine solche Weise oder in einem solchen Ausmaß beschränkte, dass das Wesen dieses Rechts verletzt wurde. Zu diesem Zweck hält es der GH für entscheidend, ob der Fehler des Bf., die Revision beim falschen Gericht zu erheben, und der dem Bf. diesbezüglich zukommende Grad an Fahrlässigkeit es rechtfertigten, ihm den Zugang zu einem zweitinstanzlichen Gericht zu verwehren.
(39) In diesem Zusammenhang beobachtet der GH, dass der Bf. zur fraglichen Zeit besonders verwundbar war, da er in einem psychiatrischen Krankenhaus seiner Freiheit beraubt und als geistig kranke Person angesehen wurde, die psychiatrische Behandlung benötigte und daher für die Handlungen, derer sie beschuldigt wurde, nicht verantwortlich war. Obwohl der Anwalt des Bf. die geistigen Gesundheitsprobleme des Bf. nur kurz in seiner Stellungnahme vom 9.4.2013 erwähnt hatte, waren die Umstände seiner Krankheit in den dem BGH zur Verfügung stehenden Akten gut dokumentiert.
(40) Der GH erkennt weiters an, dass der Bf. von einem Anwalt vertreten wurde. Er bemerkt allerdings, dass dieser sein »Mandat« gegenüber dem Bf. »beendete«, als der Bf. seine Revision erheben wollte. Nach deutschem Recht kann weder der Beschuldigte noch der gerichtlich bestellte Anwalt die Pflichtbestellung eines Verteidigers nach § 140 StPO beenden. Der Anwalt des Bf. war daher immer noch im Amt, als die Revision zu erheben war. Das bedeutet nicht, dass der Anwalt die Verpflichtung hatte, proprio motu eine Revision zu erheben. Der Anwalt kann nur ein Rechtsmittel erheben, wenn der Beschuldigte nicht dagegen ist (siehe § 297 StPO). Im vorliegenden Fall hatte der Bf. klargemacht, dass er nicht wollte, dass der Anwalt tätig wurde, sondern es vorzog, die Revision selber zu ergreifen. Trotz des Wissens um die Verwirrtheit des Bf. zur Zeit der Fällung des Urteils sowie seine psychische Krankheit und die Einweisung ins Krankenhaus stellte der Anwalt nicht sicher, dass der Bf. in der Tat in der Lage war, die Revision alleine zu erheben. Der Anwalt beschränkte sich auf schriftlichen Rat zu den Möglichkeiten, wie eine Revision erhoben werden konnte. Während der GH wie der BGH feststellt, dass der vom Anwalt erteilte Rat nicht falsch erscheint, ist er der Ansicht, dass er möglicherweise irreführend war. Der dritte Absatz des Briefes beginnt mit dem Satz »Die Revision kann entweder zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich eingelegt werden.« Er enthält zudem Bemerkungen zur Spezialbestimmung des § 299 StPO. Daran schließt sich der vierte Absatz, der besagt »Daher ist das Amtsgericht Rheine zuständig«. Ein rechtlicher Laie könnte daher daraus ableiten, dass eine Revision auch schriftlich an das Amtsgericht Rheine erhoben werden konnte.
(41) Der GH erwägt auch, dass der Brief, der vom Bf. am gleichen Tag verfasst wurde, an dem er den Rat des Anwalts bekam, durch seine Einweisung in das Krankenhaus einen Tag lang zurückgehalten wurde, bis das Krankenhauspersonal ihn am Samstag, dem 22.12. und damit fünf Tage vor Ablauf der Frist zur Post brachte. Zudem verspätete sich der Brief, da die während der Weihnachtszeit ohnehin bereits belastete Post die Feiertage einhielt. Schließlich erhielt das Amtsgericht Rheine die Revision und leitete sie an das LG Münster weiter, das sie fünf Tage später erhielt, während sie das LG am selben Tag erreichen hätte können, wäre sie per Fax nach Münster gesendet worden. Diese Form der Mitteilung ist nach deutschem Recht nicht nur akzeptabel, sondern scheint übliche Praxis zu sein.
(42) Während der GH betont, dass im innerstaatlichen Recht vorgeschriebene Fristen im Interesse der Rechtssicherheit und der ordentlichen Rechtspflege allgemein geachtet und vollzogen werden müssen, hebt er hervor, dass in außergewöhnlichen Fällen mit Flexibilität vorgegangen werden muss, um sicherzustellen, dass der Zugang zum Gericht nicht in Verletzung der Bestimmungen der Konvention beschränkt wird.
(43) Nach Ansicht des GH fallen die oben genannten besonderen Umstände nicht notwendigerweise in die Verantwortung des belangten Staates. Jedoch reduzieren sie das Maß an Fahrlässigkeit, das dem psychisch kranken Bf. zuzuerkennen ist, der nicht nur mit einer komplizierten rechtlichen und schwierigen persönlichen Situation, der Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus und praktischen Zustellungsschwierigkeiten konfrontiert war, sondern dem auch keine Unterstützung durch einen Anwalt zuteil wurde. Im Lichte der Anhäufung außergewöhnlicher Faktoren, die die Erhebung der Revision des Bf. beeinträchtigten, und unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Bf. im vorliegenden Fall bereits im Gerichtssaal verkündet hatte, dass er wünschte, eine Revision zu erheben, ist der GH der Ansicht, dass die Entscheidung des BGH zur Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht verhältnismäßig zum Ziel der fraglichen verfahrensrechtlichen Beschränkung war. Es anders zu sehen, wäre zu formalistisch und liefe dem Grundsatz der praktischen und wirksamen Anwendung der Konvention zuwider.
(44) Die vorangehenden Überlegungen sind ausreichend, um zum Schluss kommen zu können, dass das Recht des Bf. auf Zugang zu einem Gericht auf eine Weise und in einem Ausmaß beschränkt wurde, dass das Wesen dieses Rechts verletzt wurde.
(45) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Der Bf. hat keine Entschädigung beantragt.
Vom GH zitierte Judikatur:
Miragall Escolano u.a./E v. 25.5.2000
Tricard/F v. 10.7.2001
Homann/D v. 9.5.2007 (ZE)
Freitag/D v. 19.7.2007 = NL 2007, 191
Peretyaka und Sheremetyev/UA v. 21.12.2010
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 1.9.2016, Bsw. 24062/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2016, 420) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/16_5/Marc Brauer.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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