Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Blühdorn gg. Deutschland, Urteil vom 18.2.2016, Bsw. 62054/12.
Art. 5 Abs. 1 EMRK - Fortdauernde Anhaltung eines Sexualstraftäters in psychiatrischem Krankenhaus.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. wird zur Zeit im psychiatrischen Krankenhaus Riedstadt angehalten.
Am 14.1.2002 verurteilte ihn das Landgericht Darmstadt wegen Vergewaltigung und Körperverletzung zu vier Jahren und sechs Monaten Haft. Zugleich ordnete es nach § 63 StGB (Anm: Dieser lautet: » Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit [...] oder der verminderten Schuldfähigkeit [...] begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist«.) die Unterbringung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Es stellte fest, dass der Bf. an einer Störung seiner sexuellen Neigungen in der Form von Sadismus litt und die Begehung weiterer Verbrechen zu erwarten war. Das Urteil stützte sich hauptsächlich auf die Schlussfolgerungen eines psychiatrischen Gutachtens, berücksichtigte aber auch eine frühere Verurteilung des Bf. wegen sexueller Nötigung. Zudem hätte der Bf. eine Psychotherapie bislang verweigert und wäre laut dem Expertengutachten nicht in der Lage, seinem Drang zu widerstehen, zur Befriedigung seiner sexuellen Triebe Frauen zu erniedrigen und zu missbrauchen. Der Bf. wurde am selben Tag inhaftiert und in einer psychiatrischen Klinik untergebracht.
Die Unterbringung des Bf. wurde regelmäßig überprüft und jährlich auf Basis von Gutachten, die es für wahrscheinlich erachteten, dass der Bf. erneut straffällig werden würde, verlängert. Mehrere Gutachten während seiner Anhaltung zogen die Diagnose eines sexuellen Sadismus jedoch in Zweifel und kamen zum Schluss, dass die Einweisung des Bf. ins Krankenhaus fälschlich erfolgt war.
Am 30.9.2008 gestattete das Berufungsgericht Frankfurt am Main die Wiederaufnahme des Strafverfahrens. 2010 bestellte das Landgericht Kassel einen neuen externen Gutachter, der zum Schluss kam, dass der Bf. an sexuellem Sadismus litt, wenngleich er den Bf. nicht persönlich untersucht, sondern seine Beurteilung lediglich auf die medizinische Akte gestützt hätte. Das Landgericht wies den Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens daher ab. Die Berufung des Bf. dagegen wurde ebenfalls abgewiesen. Das BVerfG nahm die folgende Beschwerde des Bf. nicht zur Prüfung an.
Am 15.3.2011 erstellte die psychiatrische Klinik, in der der Bf. untergebracht war, ein Gutachten zur Notwendigkeit seiner weiteren Anhaltung im Krankenhaus und diagnostizierte eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, Alkoholmissbrauch und vermuteten sexuellen Sadismus. Obwohl eine hohe Gefahr gesehen wurde, dass der Bf. erneut straffällig würde, wurde in dem Gutachten befunden, dass der Bf. ein klassischer Fall von fälschlicher Anordnung zur Behandlung im Krankenhaus wäre.
Am 29.5.2011 verweigerte der Bf. gegenüber dem Landgericht Darmstadt, sich von einem externen Gutachter untersuchen zu lassen. Das Landgericht hörte den Bf. sowie einen Psychologen der psychiatrischen Klinik am 26.7.2011 an und weigerte sich zwei Tage später, die Unterbringung des Bf. für erledigt zu erklären und ihn auf Bewährung zu entlassen, da die Erfordernisse von § 67d Abs. 2 und Abs. 6 StGB nicht erfüllt wären. Die Haft in einem psychiatrischen Krankenhaus könne wegen einer fälschlichen Behandlungsanordnung nur für erledigt erklärt werden, wenn mit Sicherheit festgestellt wurde, dass der Bf. nicht an einer geistigen Krankheit litt, die seine Anhaltung nach § 63 StGB wegen einer verminderten strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Beginn an rechtfertigte. In diesem Zusammenhang beobachtete das Landgericht, dass weder die Aussage des Psychologen bei der Verhandlung noch das aktuelle oder die früheren Gutachten die Möglichkeit ausgeschlossen hätten, dass der Bf. an sexuellem Sadismus litt, auch wenn diese Diagnose für eher unwahrscheinlich befunden worden war. Eine irrtümliche Einweisung ins Krankenhaus hätte daher nicht über jeden Zweifel hinaus festgestellt werden können und die Voraussetzungen für die Anwendung von § 67d Abs. 6 StGB wären nicht gegeben. Es sah auch eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Bf. erneut straffällig würde.
Das OLG Frankfurt am Main bestätigte dieses Urteil am 29.9.2011. Es ergänzte, dass die Grundursache der schweren Sexualstraftaten des Bf. durch eine Therapie überpüft werden müsste, dieser sich aber weigere, sich einer Therapie zu unterziehen und die Konsequenzen daraus tragen müsse. Das BVerfG weigerte sich am 16.8.2012, die Beschwerde des Bf. zur Prüfung anzunehmen (2 BvR 2679/11).
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete, dass seine fortdauernde Anhaltung in einem psychiatrischen Krankenhaus Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) verletzte, da seine Anhaltung verlängert worden wäre, obwohl nicht festgestellt werden hätte können, dass er an der geistigen Störung litt, die bei ihm bei Anordnung der ursprünglichen Anhaltung diagnostiziert wurde. Er könne damit nicht als »psychisch Kranker« angehalten werden.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK
(36) Der GH bemerkt [...], dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (einstimmig).
(46) [...] Unter [Art. 5 Abs. 1] lit. a EMRK [...] muss eine ausreichende kausale Verbindung zwischen der Verurteilung und der betreffenden Freiheitsentziehung bestehen. Im Verlaufe der Zeit kann die Verbindung zwischen der ursprünglichen Verurteilung und einer weiteren Freiheitsentziehung allmählich weniger stark werden. Die von lit. a verlangte Verbindung kann getrennt sein, wenn [...] eine Entscheidung zur Nichtfreilassung oder erneuten Inhaftierung auf Gründe gestützt wurde, die nicht im Einklang mit den Zielen der ursprünglichen Entscheidung [...] standen, oder auf eine Beurteilung, die im Hinblick auf diese Ziele unangemessen war. Unter diesen Umständen würde aus einer anfänglich rechtmäßigen Haft eine willkürliche und somit mit Art. 5 EMRK unvereinbare Freiheitsentziehung.
(47) Jede Freiheitsentziehung muss unter eine der Ausnahmen nach den lit. a bis f. fallen und zusätzlich »rechtmäßig« sein. Wo die Rechtmäßigkeit von Haft in Frage steht, einschließlich der Frage, ob sie auf »die gesetzlich vorgeschriebene Weise« erfolgte, verweist die Konvention im Wesentlichen auf das nationale Recht [...].
(48) Der Einklang mit dem nationalen Recht ist jedoch nicht ausreichend. Art. 5 Abs. 1 erfordert zusätzlich, dass jede Freiheitsentziehung mit dem Ziel des Schutzes des Einzelnen vor Willkür im Einklang steht [...].
Grund für die Freiheitsentziehung
(50) Der GH bemerkt, dass die Anordnung der Anhaltung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus durch das Landgericht Darmstadt in dessen Urteil vom 14.1.2002 erfolgte, zusammen mit der Verurteilung des Bf. wegen Vergewaltigung iVm. Körperverletzung und der Verhängung einer Strafe von vier Jahren und sechs Monaten Haft. Er beabsichtigt daher zunächst zu untersuchen, ob die fortdauernde Anhaltung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus unter Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK als »Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht« gerechtfertigt werden kann.
(51) Der GH beobachtet, dass die Anhaltung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus durch das erkennende Gericht 2002 verhängt wurde, das ihn der Vergewaltigung iVm. Körperverletzung für schuldig befunden hatte. Dieses Urteil erfüllte daher die Erfordernisse einer »Verurteilung« iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK.
(52) Der GH muss weiter entscheiden, ob die fortdauernde Anhaltung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus »nach Verurteilung« erfolgte, ob also mit anderen Worten immer noch eine ausreichende kausale Verbindung zwischen der Verurteilung des Bf. durch das erkennende Gericht 2002 und seiner fortdauernden Freiheitsentziehung nach dem 28.7.2011 existierte.
(53) Der GH beobachtet, dass das Landgericht Darmstadt [...] die Anhaltung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB anordnete, weil es erwog, dass der Bf. aufgrund einer Störung seiner sexuellen Neigungen in der Form von Sadismus mit verminderter strafrechtlicher Verantwortlichkeit gehandelt hätte. [...] Es kam zum Schluss, dass [weitere] ähnliche Verbrechen zu erwarten wären und der Bf. daher eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellte.
(54) Im Überprüfungsverfahren 2011 stützte sich das Landgericht Darmstadt auf ein Gutachten, das beim Bf. eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, Alkoholmissbrauch und vermuteten sexuellen Sadismus mit einer hohen Gefahr zur erneuten Straffälligkeit diagnostizierte. [...] Sowohl das Landgericht als auch das OLG Frankfurt am Main kamen zum Schluss, dass der Zustand des Bf. und seine Gefährlichkeit sich seit seiner Verurteilung nicht geändert hätten, da er sich geweigert hätte, sich einer Therapie zu unterziehen. Durch das Fehlen einer falschen Behandlungsanordnung auf Basis von inkorrekt festgestellten Fakten waren die Voraussetzungen für eine Beendigung der Anhaltung des Bf. gemäß § 67d (Anm: Dieser regelt die Dauer der Unterbringung.) Abs. 6 StGB nicht erfüllt.
(55) Bei der Beurteilung, ob die von den nationalen Gerichten im gegenständlichen Verfahren angeführten Gründe mit den Zielen des Urteils des erkennenden Gerichts im Einklang standen, bemerkt der GH, dass die nationalen Gerichte feststellten, dass der Zustand des Bf. sich seit seiner Verurteilung nicht geändert hätte und dass sie so mit dem erkennenden Gericht im Hinblick auf die tatsächliche Grundlage der Schlussfolgerung, dass der Bf. an einer geistigen Störung litt, übereinstimmten. Zudem stimmten sie dahingehend zu, dass der Bf. wegen seiner Gefährlichkeit angehalten werden musste. Sowohl das erkennende Gericht als auch die Gerichte in den fraglichen Verfahren hielten es für wahrscheinlich, dass der Bf. wieder straffällig werden würde, wenn seine Anhaltung beendet werden sollte.
(56) Es trifft zwar zu, dass die Vollstreckungsgerichte nur unter einigem Zweifel die Diagnose des erkennenden Gerichts bestätigten, dass der Bf. aufgrund einer Störung seiner sexuellen Neigungen in der Form von Sadismus eine verminderte strafrechtliche Verantwortlichkeit hätte. Sie wiederholten jedoch, dass die Experten festgehalten hätten, dass eine Diagnose von sexuellem Sadismus auch nicht ohne Zweifel ausgeschlossen werden könnte. Auf dieser Basis untersuchten sie, ob es Raum für die Anwendung von § 67d Abs. 6 StGB gab, der es einem Gericht erlaubt, eine Anhaltung für erledigt zu erklären, wenn die Voraussetzungen für die Maßnahme nicht länger gegeben sind, stellten aber aufgrund der Weigerung des Bf., sich untersuchen zu lassen, fest, dass sie nicht mit Gewissheit feststellen konnten, dass die Voraussetzungen für die Maßnahme nicht länger vorlagen. Weiters hätte sich die tatsächliche Grundlage für die ursprüngliche Diagnose nicht geändert. Zudem verneinten sie die Frage, ob die Haft des Bf. vorübergehend ausgesetzt werden konnte, da immer noch zu erwarten war, dass der Bf. weitere Straftaten begehen werde, wenn er freigelassen wird.
(57) Im Hinblick auf die von den Vollstreckungsgerichten betreffend die korrekte Einordnung der geistigen Krankheit des Bf. geäußerten Zweifel verweist der GH auf den Fall Radu/D, wo das erkennende Gericht und die Vollstreckungsgerichte übereinstimmten, dass der Bf. an einer geistigen Störung litt, die seine Anhaltung aufgrund seiner Gefährlichkeit rechtfertigte. Doch anders als das erkennende Gericht befanden die Vollstreckungsgerichte nicht, dass die geistige Störung des Bf. als eine solche eingestuft werden konnte, welche die strafrechtliche Verantwortlichkeit verminderte. Es gab daher eine Uneinigkeit über die korrekte rechtliche Einordnung der geistigen Störung des Bf. Wie im Fall Radu/D stimmten die Vollstreckungsgerichte mit dem erkennenden Gericht überein, dass der Bf. an einer geistigen Störung litt, die seine Anhaltung aufgrund seiner Gefährlichkeit rechtfertigte. Anders als im Fall Radu/D waren die Vollstreckungsgerichte nicht anderer Meinung als das erkennende Gericht, was die korrekte rechtliche Einordnung der geistigen Störung des Bf. anbelangt, sondern hatten nur Zweifel, ob die geistige Störung des Bf. als sexueller Sadismus eingestuft werden konnte, der seine strafrechtliche Verantwortlichkeit verminderte. Daher ist der GH der Ansicht, dass die im Fall Radu/D, in dem der GH zum Schluss kam, dass eine ausreichende kausale Verbindung zwischen der Verurteilung des Bf. und seiner fortdauernden Anhaltung in einem psychiatrischen Krankenhaus verblieb, dargelegten Gründe im vorliegenden Fall a fortiori anwendbar sind.
(59) Der GH gibt sich weiters damit zufrieden, dass das Ziel hinter der Entscheidung der Vollstreckungsgerichte bei der Verlängerung der Anhaltung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus war, die Öffentlichkeit weiter zu schützen, solange er für sie gefährlich blieb, und eine Behandlung für seine geistige Störung zu bieten, um seine Gefährlichkeit zu verringern.
(60) Unter Berücksichtigung des Vorgesagten erwägt der GH, dass die Entscheidung der nationalen Gerichte in den fraglichen Überprüfungsverfahren, den Bf. nicht zu entlassen, auf Gründe gestützt war, die im Einklang mit den vom erkennenden Gericht verfolgten Zielen standen, als sie die Haft des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus anordneten.
(61) Der GH stellt auch fest, dass die Entscheidung der nationalen Gerichte, den Bf. nicht zu entlassen, nicht auf eine Beurteilung gestützt war, die im Hinblick auf dieses Ziel unangemessen war. Unter den Umständen des vorliegenden Falles kann man nicht sagen, dass die nationalen Gerichte ihre Entscheidung, die Haft des Bf. fortzusetzen, im Wesentlichen auf ein überholtes Gutachten stützten, wie es vom Bf. ziemlich allgemein behauptet wurde. Angesichts der Begründung der nationalen Gerichte ist klar, dass der Grund für die Unterlassung der Anordnung eines neuen externen Gutachtens die explizite Weigerung des Bf. zu dieser Zeit war zu erlauben, von einem Experten untersucht zu werden. Zudem beobachtet der GH, dass die nationalen Gerichte externe Gutachten im Kontext sowohl des Wiederaufnahmeverfahrens 2010 und der Überprüfungsverfahren 2014 einholten und dass sich der Bf. bei jeder Gelegenheit geweigert hatte, sich untersuchen zu lassen.
(62) Der GH bemerkt ferner, dass der Bf. zur Zeit der Entscheidungen der nationalen Gerichte im gegenständlichen Verfahren die volle Dauer seiner vier Jahre und sechs Monate dauernden Haft verbüßt und insgesamt ungefähr fünf Jahre in einem psychiatrischen Krankenhaus verbracht hatte. Trotz des Umstands, dass mit Ablauf der Zeit die Verbindung zwischen der ursprünglichen Verurteilung des Bf. und der weiteren Freiheitsentziehung weniger stark geworden sein mag, waren die Entscheidung der nationalen Gerichte, kein neues Gutachten einzuholen und ihre Beurteilung, dass der Bf. immer noch gefährlich war, da er sich keiner Behandlung unterzogen hatte, nicht willkürlich. Unter Berücksichtigung der obigen Erwägungen gilt dasselbe für die Beurteilung der nationalen Gerichte, dass die Anhaltung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus angesichts dessen, dass bei ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, Alkoholmissbrauch und vermuteter sexueller Sadismus mit einer hohen Gefahr, wieder straffällig zu werden, diagnostiziert worden war, immer noch gerechtfertigt war.
(63) Es verblieb daher eine ausreichende kausale Verbindung für die Zwecke von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK zwischen der Verurteilung des Bf. 2002 und seiner fortdauernden Anhaltung in einem psychiatrischen Krankenhaus als Ergebnis des gegenständlichen Verfahrens. Es ist daher [...] nicht notwendig zu entscheiden, ob die gegenständliche Haft (auch) unter Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK gerechtfertigt werden konnte.
»Rechtmäßige« Freiheitsentziehung »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise«
(65) Der GH bemerkt, dass der Bf. behauptete, dass seine Anhaltung nicht im Einklang mit den inhaltlichen und verfahrensrechtlichen Bestimmungen des nationalen Rechts angeordnet worden wäre. Zudem hätten die nationalen Gerichte seine Anhaltung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt erklären sollen, da eine fälschliche Behandlungsanordnung erfolgt sei, nachdem die Experten festgestellt hatten, dass er ein »gewöhnlicher« Vergewaltiger wäre, dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht vermindert war.
(66) Der GH bemerkt, dass die nationalen Gerichte die Fortdauer der Anhaltung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus im Einklang mit § 67d Abs. 2 StGB anordneten, aber erwogen, dass Abs. 6 dieser Bestimmung nicht anwendbar war. Die Anhaltung hatte daher eine rechtliche Grundlage im nationalen Recht.
(67) Bei der Beurteilung, ob das innerstaatliche Recht auch die im Einklang mit der Rechtsstaatlichkeit stehende Qualität besaß, muss der GH insbesondere prüfen, ob die (Nicht-)Anwendbarkeit des – zugänglichen und präzise formulierten – § 67d Abs. 6 StGB im Fall des Bf. vorhersehbar war.
(68) Der GH bemerkt, dass nach dem Wortlaut dieser Bestimmung ein Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt erklären muss, wenn die Voraussetzungen für die Rechtfertigung der Maßnahme nicht länger vorliegen oder wenn eine solche Voraussetzung von Beginn an nicht bestand.
(69) Der GH hält fest, dass die nationalen Gerichte darin übereinstimmten, dass die Bedingungen für die Anwendung von § 67d Abs. 6 StGB nur erfüllt wären, wenn mit Gewissheit festgestellt wurde, dass die Umstände, welche die Maßnahme rechtfertigten, nicht länger bestanden, das heißt, dass der Bf. nicht länger an einer geistigen Krankheit litt, die seine Anhaltung rechtfertigte. In diesem Zusammenhang beobachteten die Vollstreckungsgerichte, dass weder die Erklärung des Psychologen in der Verhandlung noch die aktuellen oder vorherigen Expertengutachten die Möglichkeit ausschlossen, dass der Bf. an sexuellem Sadismus litt, obwohl diese Diagnose für eher unwahrscheinlich befunden worden war. Als Folge waren die Voraussetzungen für die Anwendung von § 67d Abs. 6 StGB nicht gegeben. Unter Berücksichtigung der Begründung der nationalen Gerichte kann sich der GH der Ansicht des Bf. nicht anschließen, wonach die Gerichte im gegenständlichen Verfahren festgestellt hätten, dass er nie an einer geistigen Krankheit gelitten hätte, die als sexueller Sadismus eingestuft werden konnte, weil sie eine solche Diagnose explizit nicht ausschlossen. Unter diesen Umständen stellt der GH fest, dass der Bf. – wenn nötig mit rechtlicher Unterstützung – vorhersehen konnte, dass die nationalen Gerichte § 67d Abs. 6 StGB für nicht anwendbar halten würden.
(70) Zuletzt nimmt der GH die detaillierten Gründe zur Kenntnis, welche die nationalen Gerichte für ihre Entscheidungen anführten, sowie den Kontext, in dem sie erlangt wurden. Er beobachtet insbesondere, dass sie § 67d Abs. 6 StGB für unanwendbar hielten, da seine Voraussetzungen nicht gegeben waren. Zudem machten sie klar, dass der Bf. unter § 67d Abs. 2 StGB ein Recht auf Entlassung hatte, sobald erwartet werden konnte, dass er nach seiner Entlassung keine weiteren unrechtmäßigen Handlungen begehen werde. Die Anwendung des nationalen Rechts durch die nationalen Gerichte machte die Entlassung des Bf. somit nicht unmöglich. Im Lichte der vorangegangenen Ausführungen erwägt der GH, dass der Bf. unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht willkürlich seiner Freiheit beraubt wurde. Der GH gibt sich daher damit zufrieden, dass die Anordnung der fortdauernden Anhaltung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus als Ergebnis des gegenständlichen Überprüfungsverfahrens iSd. Art. 5 Abs. 1 EMRK »rechtmäßig« war und »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise« erfolgte.
(71) Es kam deshalb zu keiner Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Winterwerp/NL v. 24.10.1979 = EuGRZ 1979, 650
Van Droogenbroeck/B v. 24.6.1982 = EuGRZ 1984, 6
Kafkaris/CY v. 12.2.2008 (GK) = NL 2008, 24
Mooren/D v. 9.7.2009 (GK) = NL 2009, 205 = EuGRZ 2009, 566
Radu/D v. 16.5.2013 = NLMR 2013, 169 = EuGRZ 2013, 584
Constancia/NL v. 30.3.2015 (ZE)
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.2.2016, Bsw. 62054/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 37) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/16_1/Blühdorn.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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