Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Servulo Associados - Sociedade de Advogados, RL u.a. gg. Portugal, Urteil vom 3.9.2015, Bsw. 27013/10.
Art. 8 EMRK - Beschlagnahme elektronischer Daten einer Anwaltskanzlei.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).
Begründung:
Sachverhalt:
Bei den Bf. handelt es sich um eine Anwaltsgemeinschaft mit Sitz in Lissabon (ErstBf.) und vier Privatpersonen (Zweit- bis FünftBf.), welche als Anwälte bzw. als Kompagnon fungieren.
Im August 2006 eröffnete die »Zentralstelle für strafrechtliche Untersuchungen und Strafverfolgung« (im Folgenden: ZUS) eine strafrechtliche Untersuchung gegen mehrere portugiesische und deutsche Staatsangehörige wegen des Verdachts der Bestechung, illegaler Wahrnehmung von Interessen und Geldwäsche im Zusammenhang mit dem von der portugiesischen Regierung getätigten Erwerb zweier Unterseeboote von einem deutschen Konsortium. Die ErstBf. war bei den Kaufverhandlungen durch ihren damaligen Anwalt B. A. vertreten. Es wurden zwei Strafverfahren eingeleitet – eines den Erwerb der Unterseeboote betreffend, das andere hinsichtlich der von besagtem Konsortium angeblich in Aussicht gestellten Gegenleistungen. Beide Verfahren unterlagen der Aufsicht durch C. A., den Untersuchungsrichter des »Zentralgerichts für strafrechtliche Untersuchungen«.
Am 24.9.2009 suchte die ZUS beim genannten Untersuchungsrichter um Genehmigung zur Durchsuchung unter anderem der Geschäftslokale der ErstBf. und Beschlagnahme aller dort befindlichen einschlägigen Dokumente und Datenträger an. Mit Beschlüssen vom 25. und 29.9.2009 gab dieser dem Ansuchen statt und erließ zwei Durchsuchungsbefehle betreffend zwei an unterschiedlichen Adressen befindliche Geschäftslokale der ErstBf. Ferner verfügte er, dass alle Computerdatenbänke anhand einer von der ZUS zur Verfügung gestellten Liste von 35 Schlüsselwörtern, darin enthalten die Namen der in die Vorfälle mutmaßlich verwickelten Firmen und Banken und Begriffe wie beispielsweise »Finanzierung« und »Gegenleistung«, abzurufen seien.
Am 29.9.2009 wurden gegen B. A. im Rahmen des ersten Strafverfahrens Ermittlungen wegen des Verdachts der »Prävarikation« (Anm: Auch Parteiverrat genannt. Es handelt sich hierbei um eine zum Nachteil des Mandanten begangene Dienstpflichtenverletzung, nämlich wenn ein Anwalt bei den ihm in dieser Eigenschaft anvertrauten Angelegenheiten in derselben Rechtssache beiden Parteien durch Rat oder Beistand dient.) eingeleitet.
Die Durchsuchung der Geschäftslokale der ErstBf. fand am selben Tag in Beisein jeweils eines Untersuchungsrichters des Strafgerichts Lissabon, des Anklagevertreters und eines Vertreters der Anwaltskammer statt. Die Bf. erhoben dagegen unverzüglich Einspruch beim Präsidenten des Strafgerichts zweiter Instanz. Sie beriefen sich auf das anwaltliche Berufsgeheimnis und brachten vor, die routinemäßige Verwendung obiger Schlüsselwörter durch Mitarbeiter ihrer Kanzlei würde zu einer unverhältnismäßig großen Zahl von beschlagnahmten Dokumenten führen. Untersuchungsrichter C. A. ordnete hierauf die sofortige Versiegelung aller beschlagnahmten Datenträger bis zu einer Entscheidung des Präsidenten des Gerichts zweiter Instanz über die Zulässigkeit des Einspruchs der Bf. betreffend den Verstoß gegen die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht an.
Mit Beschluss vom 29.10.2009 wies der Vizepräsident des Strafgerichts zweiter Instanz den Einspruch der Bf. als unbegründet ab und verfügte die Weiterleitung der versiegelten Dokumente an den Untersuchungsrichter. Begründend führte er aus, die verwendeten Schlüsselwörter stünden alle in engem Zusammenhang mit der strafrechtlichen Untersuchung bzw. sei es Sache des Untersuchungsrichters zu prüfen, ob sich diese auf andere Gebiete erstrecken könnten. Ferner sei angesichts der auf dem Spiel stehenden Interessen auch kein Verstoß gegen die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht auszumachen. Eine dagegen erhobene Beschwerde an den VfGH blieb erfolglos.
Am 10.11.2010 begann Untersuchungsrichter C. A. mit der Öffnung und Sichtung der versiegelten Dokumente im Beisein von drei Bf., zwei Staatsanwälten, einem Protokollbeamten der ZUS und drei Informatikexperten. Er ordnete die Anfertigung von Kopien von der Festplatte und der DVDs an und verfügte, dass die Originale alle an die ErstBf. zu retournieren seien. Ferner wurden von ihm insgesamt 850 Dateien mit persönlichen oder der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegenden Daten identifiziert, deren Vernichtung er entsprechend dem einschlägigen nationalen Recht befahl.
Am 17.5.2012 schloss die ZUS die Analyse von 89.000 Dateien und 29.000 E-Mails, die bei der ErstBf. und B. A. beschlagnahmt worden waren, ab. Mit Beschluss vom 4.6.2012 stellte sie das bezüglich Letzteren geführte Strafverfahren aus Mangel an Beweisen ein. Am 17.12.2014 wurde von ihr auch das erste Strafverfahren eingestellt. Betreffend das zweite Strafverfahren erfolgte am 19.3.2015 der rechtskräftige Freispruch aller Beschuldigten, darunter die individuellen Bf., von der Anklage.
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens, der Wohnung und der Korrespondenz) aufgrund der Durchsuchung ihrer Kanzlei und der Beschlagnahme von Datenträgern und elektronischen Nachrichten.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK
Zur Zulässigkeit
Die Regierung erhob zwei Einreden zur Frage der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs und zur Opfereigenschaft der Bf.
Zur behaupteten Nichterschöpfung des Instanzenzugs
(65) Die Regierung bringt vor, die vom VfGH ausgeübte Kontrolle richte sich auf die Art und Weise, wie eine gewisse Norm im konkreten Fall angewendet wurde. Die Bf. hätten daher vor dem Strafgericht zweiter Instanz die Frage der Verfassungswidrigkeit [der einschlägigen Normen] aufwerfen sollen. [...]
(69) Vorab ist festzustellen, dass unbestritten ist, dass der verfassungsgerichtliche Beschwerdeweg in Portugal nur eine »normative Disposition« – und nicht eine gerichtliche Entscheidung – betreffen kann. In seinem Urteil vom 14.7.2010 hat der VfGH, insoweit es um die Beschlagnahme von Dokumenten und Datenträgern ging, hervorgehoben, dass die Bf. im Wesentlichen die dahinter stehenden Gerichtsentscheidungen angefochten hatten und dass er nicht zuständig sei, ihre diesbezüglich vorgebrachten Rügen zu prüfen.
(70) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass die von den Bf. eingebrachte Verfassungsbeschwerde von vornherein ungeeignet war, ihren Rügen hinsichtlich der Beschlagnahme Abhilfe zu verschaffen. Die Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen.
Zur Opfereigenschaft der individuellen Bf.
(71) Die Regierung bestreitet die Opfereigenschaft der individuellen Bf. Die Zweit-, der Dritt- und der FünftBf. hätten keinerlei sie persönlich betreffenden Fakten angegeben, wären ihre Rechte doch mit denen der ErstBf. weitgehend identisch. Dem ViertBf. sei die ihm gehörende »Korrespondenz« zurückgegeben worden, nachdem das Strafgericht zweiter Instanz am 15.4.2010 das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt hatte. [...]
(79) Bei den individuellen Bf. handelt es sich um die Anwälte bzw. den Kompagnon der Kanzlei, die dort ihren Beruf ausüben. Sie beklagen sich lediglich über die Durchsuchung und die Beschlagnahme von Datenträgern im Computersystem ihres Arbeitsplatzes. Der GH sieht somit keinen Grund, warum er zwischen der Situation der individuellen Bf. und der ErstBf. einen Unterschied machen sollte, vermag doch die Zugehörigkeit eines Anwalts zu seiner Kanzlei ihn nicht seiner berufsethischen Rechte und Pflichten berauben, insbesondere was die Wahrung des Berufsgeheimnisses gegenüber seinen Klienten angeht.
(81) [...] Die Einrede [...] ist daher zurückzuweisen.
Ergebnis
(82) Der Beschwerdepunkt unter Art. 8 EMRK ist weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(84) Die Bf. beanstanden, dass die Hausdurchsuchung auf der Basis von [...] Schlüsselwörtern wie etwa »Gegenleistung«, »Banco Espírito Santo«, »swap«, »spread« und »Finanzierung« durchgeführt worden sei, was dazu geführt habe, dass auch Datenträger und elektronische Nachrichten ohne Bezug zur strafrechtlichen Untersuchung beschlagnahmt worden seien. [...]
(85) Sie bringen vor, dass es sich beim Untersuchungsrichter des »Zentralgerichts für strafrechtliche Untersuchungen« um einen Einzelrichter handle, der mit der Untersuchung von überaus komplexen Verbrechen betraut sei, von denen viele gewisse Klienten von ihnen beträfen. Als Untersuchungsbehörde, die von Gesetzes wegen (§ 179 Abs. 3 iVm. § 180 Abs. 3 StPO) als erste Kenntnis vom Inhalt von beschlagnahmten Dokumenten erlange, habe dieser unweigerlich Zugang zu [...] Dokumenten, die vom Berufsgeheimnis erfasst seien [...]. Ferner stelle die Möglichkeit eines Einspruchs beim Präsidenten des Strafgerichts erster Instanz keinen geeigneten Mechanismus gegen Missbrauch dar, da dadurch nicht verhindert werde, dass der Untersuchungsrichter Zugang zu den beschlagnahmten Dokumenten erlange. [...]
Zum Vorliegen eines Eingriffs
(92) [...] Die Durchsuchung und die Beschlagnahme von Datenträgern und elektronischen Nachrichten stellt einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihrer »Korrespondenz« iSv. Art. 8 EMRK dar. [...]
War der Eingriff gesetzlich vorgesehen?
(96) Der GH stellt fest, dass das portugiesische Recht zum Zeitpunkt der relevanten Ereignisse, also vor dem Inkrafttreten des [in Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2005/222/JI des Rates vom 24.2.2005 über Angriffe auf Informationssysteme ergangenen] Gesetzes über Cyberkriminalität am 15.10.2009, keine spezifischen Regelungen betreffend die Durchsuchung und die Beschlagnahme von elektronischen Datenträgern enthielt. Andererseits sehen die noch immer in Kraft stehenden §§ 174, 178 und 179 StPO die Durchsuchung und Beschlagnahme des Briefverkehrs vor. Dazu kommt, dass die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei und die Beschlagnahme des dort gelagerten Briefverkehrs in den §§ 177 Abs. 5 und 180 Abs. 2 StPO und in den §§ 70 und 71 Rechtsanwaltsordnung ausdrücklich geregelt sind. Schließlich sieht § 183 StPO die Möglichkeit der Aufnahme von Fotokopien der beschlagnahmten Dokumente in den Verfahrensakt vor [...]. Unter diesen Umständen war der Eingriff »gesetzlich vorgesehen«.
Verfolgte der Eingriff ein legitimes Ziel?
(97) Die Durchsuchung und Beschlagnahme von Informationen aus dem Computersystem der ErstBf. [...] verfolgte das legitime Ziel der Verhütung von Straftaten.
War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?
(101) Im vorliegenden Fall wurde die Durchsuchung und Beschlagnahme mit zwei Durchsuchungsbefehlen des Untersuchungsrichters vom 25. und 29.9.2009 angeordnet. Sie gründeten sich auf den gegen mehrere portugiesische und deutsche Staatsangehörige bestehenden Verdacht der Korruption, illegalen Interessenwahrnehmung und Geldwäsche betreffend den Erwerb zweier U-Boote seitens der portugiesischen Regierung von einem deutschen Konsortium. Gegen Anwalt B. A. bestand der Verdacht der »Prävarikation«. Unter diesen Umständen ist der GH davon überzeugt, dass die Durchsuchungsbefehle auf plausiblen Verdachtsgründen beruhten.
(102) Was den Inhalt und die Reichweite der Durchsuchungsbefehle anbelangt, beschränkten sich die Durchsuchungen und Beschlagnahmen auf das Computersystem der ErstBf. und auf Gegenstände der übrigen Bf., darunter insbesondere den Computer des ViertBf., die von B. A. genutzte Festplatte, eine externe Festplatte mit archivierten Akten und die Server der Anwaltskanzlei.
(74) Auch wenn die Untersuchungsbeamten nicht über unbeschränkte Prüfungsbefugnisse verfügten, ist zu konstatieren, dass die Suche im Computersystem der ErstBf. unter Heranziehung von 35 Schlüsselwörtern erfolgte, welche mit der strafrechtlichen Untersuchung in Verbindung standen. Unter ihnen waren allgemein gehaltene Begriffe wie »Gegenleistung« und »Finanzierung« und solche, welche üblicherweise von einer auf das Finanzrecht spezialisierten Anwaltskanzlei verwendet werden, wie etwa die englischen Begriffe »swap« und »spread«. Auf den ersten Blick scheint daher die Reichweite der Durchsuchungsbefehle groß gewesen zu sein.
(104) Der GH hält fest, dass die ZUS nach der Prüfung durch den Untersuchungsrichter und der danach erfolgten Löschung von 850 Dateien 89.000 Dateien und 29.000 elektronische Nachrichten, die im Computerspeicher der ErstBf. und in der Wohnung von B. A. vorgefunden worden waren, einer Analyse unterzog. Man muss sich daher fragen, ob die große Reichweite der Durchsuchungsbefehle durch adäquate und ausreichende Verfahrensgarantien ausgeglichen werden konnte, um Missbrauch oder Willkür zu verhindern und das anwaltliche Berufsgeheimnis zu schützen.
(105) Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es den §§ 70 Abs. 1 und 4 Rechtsanwaltsordnung zufolge verboten ist, der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegende Dokumente zu beschlagnahmen, außer gegen den betreffenden Anwalt läuft eine strafrechtliche Untersuchung. Die portugiesische StPO und die Rechtsanwaltsordnung sehen außerdem eine gewisse Zahl von Verfahrensgarantien für die Durchsuchung von Anwaltskanzleien [...] vor: (a) die Anwesenheit des betroffenen Anwalts [bei der Durchsuchung] ; (b) die Anwesenheit eines Vertreters der Rechtsanwaltskammer; (c) die persönliche Überwachung der Durchsuchung bzw. Beschlagnahme von Gegenständen durch den Untersuchungsrichter [...]; (d) die Möglichkeit der Erhebung eines Einspruchs beim Präsidenten des Strafgerichts zweiter Instanz durch den betroffenen Anwalt; (e) die Versiegelung der beschlagnahmten Gegenstände, sollte ein Einspruch erfolgen; (f) die Anlegung eines Protokolls am Schluss der Operation mit ausdrücklicher Erwähnung der anwesenden Personen und jedes im Zuge der Hausdurchsuchung auftretenden Ereignisses; (g) die Löschung von Daten persönlichen Charakters, die das Berufsgeheimnis oder »verfahrensfremde« Personen betreffen, auf Geheiß des Untersuchungsrichters.
(106) Zu prüfen bleibt, ob diese Garantien im gegenständlichen Fall in konkreter und effektiver Weise angewendet wurden [...], dies vor allem in Hinblick auf die große Zahl der beschlagnahmten Dateien und elektronischen Nachrichten sowie der Notwendigkeit des Schutzes der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Klient.
(107) Im vorliegenden Fall wurde gegen B. A., der früher für die ErstBf. tätig gewesen war, eine strafrechtliche Untersuchung wegen des Verdachts der »Prävarikation« geführt. Zum Ablauf der Operation ist Folgendes festzuhalten: nämlich dass die ZweitBf. sowie der Dritt- und FünftBf. bei der Durchsuchung zugegen waren; ebenfalls ein Vertreter der Rechtsanwaltskammer; die Durchsuchung und Beschlagnahme von einem Untersuchungsrichter überwacht wurde; die Bf. unverzüglich Einspruch beim Präsidenten des Strafgerichts zweiter Instanz erhoben, worauf die beschlagnahmten DVDs [...] und Festplatten sofort versiegelt wurden, ohne dass der Untersuchungsrichter sie zuvor [...] sichten konnte; am Ende der Operation ein Protokoll mit einer Auflistung der beschlagnahmten Dokumente angefertigt wurde; der Vizepräsident des Strafgerichts zweiter Instanz den Einspruch der Bf. prüfte, wobei er zu dem Ergebnis kam, dass es im vorliegenden Fall zu keinem gravierenden Verstoß gegen das anwaltliche Berufsgeheimnis gekommen war; Untersuchungsrichter C. A. die beschlagnahmten Gegenstände einer Prüfung unterzog und gemäß § 188 Abs. 6 lit. a bis c StPO die Vernichtung von rund 850 Daten mit der Begründung anordnete, dass die Informationen persönlichen Charakters waren, welche entweder vom Berufsgeheimnis erfasst wurden oder Personen betrafen, welche nicht Gegenstand der strafrechtlichen Untersuchung waren.
(108) Die Bf. sind der Ansicht, dass diese Garantien nicht ausreichend sind. Sie heben insbesondere das Interventionsrecht des Untersuchungsrichters des »Zentralgerichts für strafrechtliche Untersuchungen« und die Ineffektivität der Möglichkeit eines Einspruchs beim Präsidenten des Strafgerichts zweiter Instanz hervor. Darüber hinaus seien ihnen Datenträger, die im Zuge der gegen B. A. eröffneten strafrechtlichen Untersuchung beschlagnahmt worden seien, nicht zurückgegeben, sondern in die Untersuchungsakte betreffend die anderen Verdächtigen aufgenommen worden.
(110) Was die Durchsuchung von Anwaltskanzleien angeht, ist zu vermerken, dass der Untersuchungsrichter dabei eine Überwachungsfunktion vor, während und nach der Operation wahrnimmt. Betreffend die nachträgliche Kontrolle von im Verlauf einer Durchsuchung beschlagnahmten Gegenständen kann dieser gemäß § 188 Abs. 6 StPO die Vernichtung von jedweden Gegenständen anordnen, sofern (a) sie nicht den Verdächtigen, den Beschuldigten, einen Mittelsmann oder das Opfer betreffen; (b) sie sich auf Gebiete erstrecken, die vom Berufsgeheimnis [...] erfasst sind; (c) ihre Verbreitung einen schweren Verstoß gegen die Grund- und Freiheitsrechte bewirken könnte.
Im vorliegenden Fall ordnete Untersuchungsrichter C. A., nachdem er die beschlagnahmten Datenträger und elektronischen Nachrichten durchgesehen hatte, in mehreren Beschlüssen [...] die Vernichtung von 850 Dateien an, die er als privat, dem Berufsgeheimnis unterliegend oder B. A. nicht betreffend einstufte.
Der GH erinnert daran, dass es ihm nicht zukommt, sich an die Stelle der nationalen Behörden zu setzen, wenn es um die Bewertung der Relevanz von im Rahmen eines Strafverfahrens herangezogenen Beweisen geht. Was nun die Rüge der Bf. angeht, wonach Dokumente ohne Zusammenhang zur strafrechtlichen Untersuchung beschlagnahmt worden wären, [...] besteht kein Anlass, die vom Untersuchungsrichter vorgenommene Evaluierung gemäß § 188 Abs. 6 StPO in Zweifel zu ziehen. Der GH räumt zwar ein, dass dieser zum Zeitpunkt der relevanten Ereignisse tatsächlich der einzige Untersuchungsrichter in Portugal war, welcher sich mit überaus komplexen Angelegenheiten befassen musste. Es bleibt aber festzuhalten, dass dieser in seiner Eigenschaft als Untersuchungsrichter einschritt, um die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung und Beschlagnahmen zu überprüfen und vor allem für den Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses zu sorgen. Abgesehen davon verfügte er über keinerlei Befugnis zur Einleitung einer Strafverfolgung. Die auf ihn abzielenden Vorwürfe der Bf. sind hypothetisch und [...] vermögen keine Zweifel hinsichtlich der Effektivität der Kontrolle, die er bei den strittigen Maßnahmen ausübte, aufkommen zu lassen.
(111) Nachdem die Bf. Einspruch auf der Grundlage von § 72 Rechtsanwaltsordnung erhoben hatten, wurden die beschlagnahmten Datenträger und elektronischen Nachrichten versiegelt – noch bevor der Untersuchungsrichter von ihrem Inhalt Kenntnis nehmen konnte – und dem Präsidenten des Strafgerichts zweiter Instanz übermittelt (siehe § 72 Abs. 2 und 3 Rechtsanwaltsordnung). Die Versiegelungen wurden anschließend vom Vizepräsidenten aufgebrochen und ihr Inhalt wurde geprüft. Mit Beschluss vom 29.10.2009 wies er den Einspruch mit der Begründung ab, dass (a) die ausgewählten 35 Schlüsselwörter offensichtlich im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Untersuchung stünden und somit verhältnismäßig zum gesetzlich verfolgten Ziel wären; (b) die beschlagnahmten Gegenstände offenbar von direkter oder indirekter Bedeutung für die strafrechtliche Untersuchung seien; (c) kein krasser Verstoß gegen das anwaltliche Vertraulichkeitsprinzip festgestellt werden haben können und (d) es schlussendlich Aufgabe des Untersuchungsrichters sei, die beschlagnahmten Dokumente hinsichtlich ihrer Relevanz für die strafrechtliche Untersuchung zu beurteilen [...].
(112) Angesichts der Tatsache, dass die Prüfung durch den Vizepräsidenten darauf gerichtet war, die Existenz eines ernsten Risikos für eine Verletzung des anwaltlichen Berufsgeheimnisses zu ergründen (in dieser Hinsicht übte er eine zusätzliche Kontrollfunktion im Hinblick auf die durch den Untersuchungsrichter ausgeübte Kontrolle aus), ist der GH der Ansicht, dass dieser seine Entscheidung ausreichend begründet hat. Der Einspruch vor dem Präsidenten des Strafgerichts zweiter Instanz stellte somit einen adäquaten und effektiven Rechtsbehelf in Ergänzung zur vom Untersuchungsrichter ausgeübten Kontrolle dar, welcher die große Reichweite der strittigen Durchsuchungsbefehle auszugleichen und daher die Beschlagnahme von dem Berufsgeheimnis unterliegenden Gegenständen zu verhindern vermochte.
(113) Bleibt das letzte Argument der Bf. zu prüfen, das die Nichtrückgabe von Kopien der beschlagnahmten Datenträger und ihre Verwendung in einem nicht B. A. betreffenden Strafverfahren betrifft.
(115) Im vorliegenden Fall wurden der ErstBf. die vier Original-DVDs, auf denen sich Datenträger und vom Computer des ViertBf. und verschiedenen Servern der ErstBf. entnommene E-Mail-Boxen befanden, nach Maßgabe des § 183 StPO zurückgegeben. Andererseits scheint es so, dass den Bf. nach Sichtung durch den Untersuchungsrichter die kopierten Datenträger und elektronischen Nachrichten nicht retourniert wurden. In der Tat sieht das portugiesische Recht keine sofortige Rückgabe vor: Demzufolge kann bei der Einstellung der Strafverfolgung eine Strafakte innerhalb der für das betreffende Delikt vorgesehenen Verjährungsfrist aufbewahrt werden. Im vorliegenden Fall beträgt besagte Frist fünfzehn Jahre für das Verbrechen der Bestechung, illegalen Interessenwahrnehmung und Geldwäsche, während sich jene für »Prävarikation« auf zehn Jahre beläuft. In den Augen des GH vermag die Aufbewahrung einer Strafakte mit Beweisen für sich keine Fragen unter Art. 8 EMRK aufzuwerfen, es sei denn diese enthält Informationen persönlichen Charakters, was hier aber nicht der Fall gewesen zu sein scheint (vgl. Rn. 110 des vorliegenden Urteils).
(116) Bleibt zu klären, ob die Befürchtungen der Bf. hinsichtlich einer allfälligen missbräuchlichen Verwendung der beschlagnahmten Daten begründet waren. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass gemäß § 187 Abs. 1, 7 und 8 StPO iVm. § 189 StPO elektronische Nachrichten, die Bestandteil einer Strafakte sind, in einem anderen Strafverfahren unter bestimmten Voraussetzungen verwendet werden dürfen, so etwa wenn die betreffende Straftat mit einer Freiheitsentziehung von mehr als drei Jahren oder mit der Höchststrafe zu ahnden und wo eine derartige Maßnahme unerlässlich für die Auffindung der Wahrheit ist. Außerhalb derartiger Situationen dürfen elektronische Nachrichten nicht als Beweismittel im Rahmen eines anderen Strafverfahrens verwendet werden, jedoch können sie trotzdem Anlass zur Eröffnung einer neuen strafrechtlichen Untersuchung in Anwendung der §§ 187 Abs. 7 und 248 StPO geben [...]. In beiden – hypothetischen – Fällen ist laut § 187 Abs. 8 StPO die Zustimmung durch den Verhandlungsrichter erforderlich. In diesem Zusammenhang weist der GH darauf hin, dass die Bf. gegen den Beschluss von Untersuchungsrichter C. A. vom 24.6.2011 kein Rechtsmittel erhoben haben, obwohl § 399 StPO eine solche Möglichkeit vorsieht.
(117) Es hat deshalb den Anschein, dass diese Garantien im vorliegenden Fall beachtet wurden. In der Tat hat die ZUS, nachdem das Strafverfahren gegen B. A. getrennt fortgeführt wurde, bei obigem Untersuchungsrichter den Antrag gestellt, er möge seine Zustimmung erteilen, dass die Strafakte nebst diversen Anhängen kopiert und diese in die Strafakte betreffend das gegen die anderen Verdächtigen geführte Strafverfahren aufgenommen werde. Letzterer gab dem Antrag am 24.6.2011 statt.
(118) Der Antrag der ZUS auf Verwendung dieser Gegenstände war darauf ausgerichtet, die Ermittlungen hinsichtlich der übrigen Verdächtigen fortzuführen – und zwar nicht zum Nachteil von B. A., im Hinblick auf den das Strafverfahren eingestellt worden war. Der GH erachtet die angeführten Motive als legitim. Im gegenständlichen Fall wiesen die begehrten Kopien eine enge Verbindung zur strafrechtlichen Untersuchung, der die strittigen Beschlagnahmen zugrunde lagen, auf. Was die Argumente der Bf. hinsichtlich der Verwendung von privaten oder dem Berufsgeheimnis unterliegenden E-Mails angeht, verweist er auf seine Schlussfolgerungen unter Rn. 110 des vorliegenden Urteils.
Ergebnis
(119) Mit Rücksicht auf die vorangegangenen Überlegungen kommt der GH zu dem Schluss, dass ungeachtet der Reichweite der Durchsuchungsbefehle die den Bf. zur Verfügung stehenden Garantien gegen Missbrauch, Willkür und Verstöße gegen das anwaltliche Berufsgeheimnis, darunter insbesondere die vom Untersuchungsrichter ausgeübte Kontrolle, welche durch die in § 72 Rechtsanwaltsordnung vorgesehene Interventionsmöglichkeit des Präsidenten des Strafgerichts zweiter Instanz komplettiert wird, adäquat und ausreichend waren. Die von den Bf. angefochtene Durchsuchung und Beschlagnahme von Datenträgern und elektronischen Nachrichten stellte somit keinen gegenüber dem gesetzlich verfolgten Ziel unverhältnismäßigen Eingriff dar. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Saragoça da Matta).
Vom GH zitierte Judikatur:
Société Colas Est u.a./F v. 16.4.2002 = NL 2002, 88
Petri Sallinen u.a./FIN v. 27.9.2005 = NL 2005, 230
Wieser und Bicos Beteiligungen GmbH/A v. 16.10.2007 = NL 2007, 258 = ÖJZ 2008, 246
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.9.2015, Bsw. 27013/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2015, 426) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/15_5/Servulo.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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