Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Identoba u.a. gg. Georgien, Urteil vom 12.5.2015, Bsw. 73235/12.
Art. 3 EMRK iVm. Art. 14 EMRK, Art. 11 EMRK iVm. Art. 14 EMRK - Unzureichender Polizeischutz für Teilnehmer eines Marsches zum Internationalen Tag gegen Homophobie.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 3 EMRK iVm. Art. 14 EMRK (6:1 Stimmen).
Verletzung von Art. 11 EMRK iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.500,– an die ErstBf., jeweils € 4.000,– an den Dritt- und den SechstBf., jeweils € 3.000,– an die Siebent- und die ZehntBf., jeweils € 2.000,– an den Zweit-, die Viert-, die Fünft-, die Acht-, die Neunt-, die Elft-, die Zwölft-, die Dreizehnt- und die VierzehntBf. für immateriellen Schaden (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Bei der ErstBf. handelt es sich um eine NGO, welche die Rechte von homosexuellen, lesbischen, bi- und transsexuellen Personen in Georgien fördern und schützen möchte. Die übrigen 14 Bf. sind ihre Mitglieder.
Am 8.5.2012 kündigte die ErstBf. der Stadtverwaltung und dem Innenministerium ihre Absicht an, am 17.5.2012, 13:00 Uhr, eine Demonstration in Tiflis abhalten zu wollen, um auf den »Internationalen Tag gegen Homophobie« aufmerksam zu machen. Die ErstBf. informierte die Behörden nicht nur über die geplante Route des Marsches, sondern ersuchte sie auch um ausreichenden Schutz gegen mögliche Gewaltakte.
Am Marsch nahmen ca. 30 Personen, darunter 13 Bf., teil. Wie vereinbart war eine motorisierte Polizeipatrouille anwesend. Kurz vor Beginn des Marsches trafen Mitglieder zweier religiöser Gruppierungen ein, die die Teilnehmer des Marsches anhielten und mit ihnen zu diskutieren begannen. In der Rustaveli-Straße blockierten mehr als 100 Gegendemonstranten den Weg, umkreisten die Bf. und beschimpften sie unter anderem als »Perverslinge«, auch Gewalt wurde ihnen angedroht. Die Polizeipatrouille schritt jedoch nicht ein, sondern zog sich unversehens zurück. Da sich die Demonstranten bedroht fühlten, riefen sie mit dem Handy die Polizei zu Hilfe, um Verstärkung anzufordern. Sie bemerkten einige Polizeibeamte auf der Straße, die ein Einschreiten jedoch mit der Begründung verweigerten, nicht Teil der zum Schutz der Demonstranten abgestellten Polizeipatrouille zu sein. Nach etwa 20 Minuten begann die Gewalt gegen die Teilnehmer des Marsches zu eskalieren. Die von ihnen mitgeführten Fahnen wurden zerrissen, ferner kam es zu physischen Angriffen auf sie. So wurde etwa der SechstBf., der sich an der Spitze des Marsches befand, niedergeschlagen und mit den Füßen getreten. Kurz darauf trafen mehrere Einsatzwägen der Polizei ein. Die Polizisten kamen dem SechstBf. zu Hilfe und stellten sich schützend vor die Demonstranten. Zu diesem Zeitpunkt stießen die aufgeheizten Gegendemonstranten Drohungen wie etwa »Euch sollte man alle lebendig verbrennen« aus. Der ebenfalls von Gegendemonstranten attackierte DrittBf. forderte die Polizei zu aktiveren Schutzmaßnahmen auf, woraufhin diese ihn mit einem Einsatzwagen zu einem Polizeiposten bringen ließ, wo er für ca. 20 Minuten angehalten wurde. Ähnliche Maßnahmen wurden auch gegen drei weitere Bf. gesetzt.
Am selben Tag suchten der Dritt- und der SechstBf. einen Arzt auf. Dieser stellte bei ersterem ein Hämatom am linken Knie und Abschürfungen an den Händen und Armen fest, während er bei zweiterem ein Kopftrauma und eine Gehirnerschütterung diagnostizierte. Auch die VierzehntBf. konsultierte einen Arzt – sie hatte eine Verstauchung des linken Handgelenks erlitten.
Am 18.5.2012 wandten sich die ErstBf. und dreizehn weitere Bf. an das Innenministerium bzw. die Oberstaatsanwaltschaft und beantragten die Einleitung einer Untersuchung hinsichtlich der Gewaltakte und wegen unterlassener Hilfeleistung seitens der Polizeibeamten.
Im Mai bzw. Oktober 2012 leitete die Staatsanwaltschaft eine strafrechtliche Untersuchung gegen unbekannt wegen des Verdachts der vorsätzlichen Körperverletzung, begangen an der Vierzehnt- und dem SechstBf., ein. Im Zuge der Ermittlungen wurden einige der Bf. zu den Vorfällen befragt.
Am 26.6.2012 erhielt die ErstBf. Nachricht vom stv.Polizeidirektor beim Bundesministerium für Inneres. Demnach wären die Aktionen der Polizei während der Demonstration gesetzeskonform gewesen, sodass kein Anlass bestanden hätte, eine Untersuchung wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs einzuleiten. Was das Verhalten der Gegendemonstranten betreffe, sei über zwei von ihnen eine Geldstrafe von jeweils umgerechnet € 45,– wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung iSv. § 166 Verwaltungsstrafgesetz verhängt worden.
Am 3. bzw. 5.7.2012 erstatteten die ErstBf. und dreizehn weitere Bf. erneut Strafanzeige bei den Behörden. Sie wiesen unter anderem auf § 53 StGB hin, demzufolge auf Homophobie gegründete Absichten bei der Begehung einer Straftat einen Strafverschärfungsgrund darstellen. Mit Schreiben vom 17.7.2012 teilte ihnen das Innenministerium mit, dass die Polizei am 17.5.2012 lediglich versucht habe, den Demonstranten und Gegendemonstranten die Ausübung ihres Versammlungsrechts zu ermöglichen. Zudem seien über zwei Gegendemonstranten Verwaltungsstrafen verhängt worden.
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) und von Art. 11 EMRK (hier: Versammlungsfreiheit), jeweils alleine und iVm. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot). Sie rügen ferner eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) iVm. Art. 3 und Art. 8 EMRK.
Zum Opferstatus der Erst- und des FünfzehntBf.
Zur ErstBf.
(41) Die Regierung wendet ein, der ErstBf. komme nach der Konvention keine Legitimation zu, sich über eine Verletzung ihrer Rechte aufgrund von Tatsachen zu beschweren, die manche ihrer Mitglieder betroffen hätten. Eine juristische Person könne weder in eigenem Namen noch im Namen ihrer Mitglieder geltend machen, Opfer von Misshandlung iSv. Art. 3 EMRK oder einer Verletzung von Art. 8 und Art. 11 EMRK zu sein.
(43) Der GH erinnert daran, dass der in Art. 34 EMRK verwendete Begriff »Opfer« eine Person [...] bezeichnet, die von der behaupteten Verletzung direkt oder indirekt betroffen ist. [...]
(44) Aus dem Vorbringen der ErstBf. wird nicht klar ersichtlich, ob sie sich über die Vorfälle vom 17.5.2012 in eigenem Namen oder im Namen ihrer Mitglieder beschweren wollte.
(45) Der GH stellt fest, dass die Umstände, welche den behaupteten Verletzungen sowohl von Art. 3 EMRK als auch von Art. 8 EMRK zugrunde lagen, auf vorsätzlichen Angriffen auf die physische und psychische Integrität von Individuen beruhten [...]. Es ist undenkbar, dass die physische Integrität, welche nur von Menschen genossen werden kann, einer juristischen Person wie der ErstBf. zugeschrieben wird. Auch gesetzt den Fall, diese hätte beabsichtigt, sich im Namen ihrer Mitglieder zu beschweren, vermag der GH eine Beschwerdelegitimation nicht auszumachen, ist es doch so, dass Vereinigungen unter Art. 34 EMRK nicht behaupten können, Opfer von Handlungen oder Unterlassungen zu sein, welche die Rechte und Freiheiten ihrer Mitglieder betreffen, die ihrerseits erwachsene Personen mit voller Rechts- und Handlungsfähigkeit sind und sich daher beim GH in eigenem Namen beschweren können.
(46) Die ErstBf. kann daher nicht gültig behaupten, direktes oder indirektes Opfer einer Verletzung von Art. 3 und Art. 8 EMRK alleine oder iVm. Art. 13 und Art. 14 EMRK zu sein. Dieser Teil der Beschwerde ist daher mit der Konvention ratione personae unvereinbar [...] und muss gemäß Art. 35 Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).
(47) Was die Beschwerdepunkte unter Art. 10 und 11 EMRK, jeweils alleine und iVm. Art. 14 EMRK angeht, ist zu vermerken, dass juristische Personen prinzipiell an der Ausübung ihrer eigenen Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit gehindert werden können [...].
(48) In diesem Zusammenhang hebt der GH hervor, dass die Freiheit der friedlichen Versammlung nicht nur von den individuellen Teilnehmern, sondern auch von ihren Organisatoren – einschließlich juristischer Personen – ausgeübt werden kann. Er akzeptiert daher, dass die Angriffe auf den friedlichen Marsch vom 17.5.2012 – neben einer möglichen Beeinträchtigung der Konventionsrechte der individuellen Mitglieder der ErstBf. – letztlich auch die Zerstörung der Demonstration als solche zur Folge hatten. Davon war wiederum die ErstBf. als Organisatorin der Veranstaltung betroffen – und zwar in ihrem »statutengemäßen« Interesse, auf die Situation von homosexuellen, lesbischen, bi- und transsexuellen Personen im Wege eines öffentlichen Marsches aufmerksam zu machen.
(49) Der ErstBf. kommt daher die Legitimation zu, sich in eigenem Namen über eine Verletzung von Art. 11 EMRK zu beschweren. Mit Rücksicht auf das Zusammenspiel zwischen dieser Bestimmung und Art. 10 EMRK sowie der ergänzenden Rolle, die Art. 14 EMRK spielt, muss der Einwand der Regierung bezüglich all dieser Bestimmungen zurückgewiesen werden.
Zum FünfzehntBf.
(50) Der FünfzehntBf. beklagte sich wie die übrigen dreizehn individuellen Bf. über die im Zuge des Marsches erlittene Gewalt und über die Inaktivität der Polizei. [...]
(53) Im Gegensatz zu seinen MitBf. hat der FünfzehntBf. weder einen persönlichen Bericht über die beschwerdegegenständlichen Ereignisse [...] noch Strafanzeige bei den Behörden erstattet. Er hat auch den Einwand der Regierung nicht bestritten, wonach er am strittigen Marsch gar nicht teilgenommen habe.
(54) Unter diesen Umständen schließt sich der GH dem Einwand der Regierung an. [...]
(55) Dieser Teil der Beschwerde ist offensichtlich unbegründet und muss gemäß Art. 35 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 iVm. Art. 14 EMRK
Laut den dreizehn individuellen Bf. hätten die nationalen Behörden es verabsäumt, sie einerseits während ihres friedlichen Marsches vor den gewaltsamen Attacken der Gegendemonstranten zu schützen und andererseits eine effektive Untersuchung der Vorfälle vorzunehmen – und zwar insbesondere dahingehend, ob die Motive der Angreifer diskriminierender Natur waren.
(62) Die vorliegende Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss folglich für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Zum Schweregrad der Attacken
(68) Mit Rücksicht auf mehrere Berichte des Menschenrechtskommissars des Europarats über die Beschneidung von Rechten von homosexuellen, lesbischen, bi- und transsexuellen Personen in Georgien akzeptiert der GH, dass sich diese Gemeinschaft in einer prekären Situation befindet. Negative Haltungen ihr gegenüber sind in manchen Teilen der georgischen Gesellschaft weit verbreitet. Vor diesem Hintergrund werden die diskriminierenden Zwischentöne der Vorfälle vom 17.5.2012 und der Verwundbarkeitsgrad der Bf., die sich als Zielgruppe sexueller Voreingenommenheit in die Öffentlichkeit begaben, besonders augenscheinlich.
(69) Tatsächlich war es so, dass im Zuge des Zusammenstoßes zwischen Demonstranten und Vertretern zweier religiöser Gruppierungen letztere besonders beleidigende Beschimpfungen mit homophobem Beigeschmack – wie »Perverslinge« und »Schwuchteln« – äußerten. [...] Die Gegendemonstranten zerstörten nicht nur die von den Teilnehmern des Marsches mitgeführten Fahnen und Tafeln, sondern drohten auch mit Gewaltanwendung – bis hin zum Mord [...]. Den Verbalattacken folgten dann Tätlichkeiten gegen einige der Bf.
(70) Unter diesen Umständen ist die Frage, ob manche Bf. körperliche Verletzungen davontrugen oder nicht, weniger relevant. Ausnahmslos alle Bf. wurden Zielscheibe von Hassrede und aggressivem Verhalten, was auch von der Regierung nicht bestritten wurde. Zieht man in Betracht, dass sie von einem zornigen Pöbel umkreist wurden, der sie an der Zahl bei weitem übertraf, der Todesdrohungen ausstieß und Tätlichkeiten beging, [...] war die Situation für die Bf. eine von immenser Furcht und Angst. Das Ziel der Verbalattacken und der sporadischen körperlichen Angriffe bestand offensichtlich darin, ihnen Angst einzuflößen, damit sie von ihrem Eintreten für die Homo-, Bi- und Transsexuellengemeinschaft in der Öffentlichkeit Abstand nehmen würden. Der von ihnen erlittene emotionale Stress steigerte sich noch dadurch, als der im Vorfeld zugesicherte Polizeischutz nicht rechtzeitig oder nicht in angemessener Form gewährt wurde.
(71) Im Lichte dessen musste die Behandlung der Bf. bei ihnen Gefühle von Furcht, Angst und Ausgeliefertsein auslösen, die mit ihrer Menschenwürde nicht vereinbar waren und den von Art. 3 iVm. Art. 14 EMRK verlangten Schweregrad erreichten.
Zu den behördlichen Schutzmaßnahmen
(72) Der GH merkt an, dass sowohl die Stadtverwaltung als auch die Polizeibehörden im Vorhinein über die Absicht der Bf., einen Marsch im Zentrum von Tiflis abhalten zu wollen, informiert worden waren. Die Organisatoren ersuchten die Polizei auch um Schutzmaßnahmen gegen – vorhersehbare – Proteste von Leuten mit homo- und transphoben Ansichten. Angesichts der Geschichte von öffentlichen Feindseligkeiten in Georgien gegenüber der Homo-, Bi- und Transsexuellengemeinschaft ist der GH der Ansicht, dass die innerstaatlichen Behörden um die Risiken wussten oder hätten wissen müssen, die mit diesem öffentlichen Ereignis aufgrund der Verwundbarkeit dieser Gemeinschaft verbunden waren. Sie wären folglich verpflichtet gewesen, ihr staatlichen Schutz angedeihen zu lassen.
(73) Ungeachtet der positiven Verpflichtung, friedlichen Demonstranten erhöhten Schutz gegen Attacken durch Privatpersonen zu gewähren, kann der GH nur Kenntnis von der begrenzten Zahl der zu Beginn der Demonstration anwesenden motorisierten Polizisten nehmen, die ohne vorherige Warnung plötzlich von der Bildfläche verschwanden, als die ersten Verbalattacken starteten, und damit den Wechsel von Spannungen zu körperlichen Übergriffen erst ermöglichten. Zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die Polizisten endlich entschieden zu intervenieren, waren die Bf. und andere Teilnehmer am Marsch bereits drangsaliert, beschimpft oder sogar tätlich angegriffen worden. Dazu kommt, dass die – ohnehin verspätet einlangenden – Polizeibeamten, anstatt die aggressivsten Gegendemonstranten an der Störung des friedlichen Marsches zu hindern und den Teilnehmern den Weiterzug zu ermöglichen, dazu übergingen, einige Bf. (zu deren Schutz sie gerade abgestellt worden waren) festzunehmen und zu evakuieren.
(74) Der GH ist daher der Ansicht, dass die innerstaatlichen Behörden es versäumt haben, den dreizehn individuellen Bf. angemessenen Schutz vor auf Vorurteilen basierenden Angriffen von Privatpersonen zu gewähren.
Zum Vorliegen einer effektiven Untersuchung
(75) Vorab ist festzustellen, dass von den Teilnehmern des Marsches, einschließlich der dreizehn Bf., unverzüglich Strafanzeigen wegen Misshandlung durch Gegendemonstranten bzw. wegen Inaktivität der Polizei erstattet worden waren. Im Juli 2012 erneuerten die Bf. ihre Anträge auf Durchführung einer strafrechtlichen Untersuchung. Anstatt jedoch eine umfassende und sinnvolle Untersuchung der Vorfälle rund um alle Bf. zu betreiben, engten die innerstaatlichen Behörden den Untersuchungsrahmen ein und eröffneten lediglich zwei getrennte Verfahren betreffend an zwei Bf. begangenen Tätlichkeiten. Sogar in diesen beiden Fällen wurden in zwei Jahren keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Die diesbezüglichen Untersuchungen befinden sich noch im Anfangsstadium und keinem der Bf. wurde »Opferstatus« gewährt. Das einzig greifbare Resultat bestand in der Verhängung von Geldstrafen in der Höhe von jeweils umgerechnet € 45,– wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung. Angesichts des Ausmaßes der ungerechtfertigten Gewalt und der Aggressionen gegen die Bf. hält der GH eine derart milde Verwaltungssanktion nicht für ausreichend, um den Staat von seinen verfahrensrechtlichen Verpflichtungen unter Art. 3 EMRK entbinden zu können.
(76) Mit Rücksicht auf die faktischen Umstände der gegen die Bf. gerichteten Gewalthandlungen findet der GH, dass einige Bestimmungen des georgischen Strafrechts einen besseren Ausgangspunkt für die Eröffnung einer strafrechtlichen Untersuchung gegeben hätten, wie beispielsweise tätlicher Angriff (§ 125 StGB), gefährliche Drohung (§ 151 StGB) oder Störung einer friedlichen Versammlung (§ 161 StGB). Weiters hätte es im Rahmen des Möglichen sein müssen, die Untersuchung auf den Kreis der in Frage kommenden »Übeltäter« einzuschränken, war den Behörden doch bekannt, dass Vertreter zweier religiöser Organisationen [...] an der Gegendemonstration teilgenommen hatten und wussten sie, dass Videoaufnahmen von den Zusammenstößen scharfe Bilder von den aggressivsten Gegendemonstranten geliefert hatten.
(77) Hinzu kommt, dass das georgische Strafrecht selbst vorsieht, dass Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität als Voreingenommenheitsgrund und als erschwerender Faktor bei der Begehung einer Straftat gewertet werden soll. Der GH ist der Ansicht, dass die Behörden die Untersuchung in diesem speziellen Zusammenhang führen und alle vernünftigen Schritte unternehmen hätten sollen, um sich zu vergewissern, ob bei den fraglichen Ereignissen mögliche homophobe Motive eine Rolle gespielt hatten. Eine derartige Vorgangsweise [...] wäre nicht nur vor dem Hintergrund der in Georgien bestehenden Feindseligkeit gegenüber der Homo-, Bi- und Transsexuellengemeinschaft, sondern auch aufgrund der während der Vorfälle von den Angreifern geäußerten homophoben Hasstiraden unerlässlich gewesen. Der GH ist der Meinung, dass ohne einen derartigen strikten Ansatz seitens der Strafverfolgungsbehörden auf Voreingenommenheit basierende Delikte unvermeidlich auf gleicher Basis wie gewöhnliche Straftaten ohne derartige Zwischentöne behandelt werden würden – die daraus resultierende Gleichgültigkeit [auf offizieller Ebene] wäre gleichbedeutend mit einer öffentlichen Inkaufnahme, wenn nicht sogar Gutheißung von »Hassverbrechen«.
(78) Der GH findet daher, dass die nationalen Behörden es verabsäumt haben, die Misshandlungsvorwürfe der Bf. in angemessener Art und Weise zu untersuchen.
Ergebnis
(80) Angesichts von Berichten über eine negative Haltung gegenüber sexuellen Minderheiten in manchen Teilen der georgischen Bevölkerung und mit Rücksicht darauf, dass die Organisatoren des Marsches die Polizei explizit vor der Gefahr von Übergriffen gewarnt hatten, wären die Sicherheitsbehörden unter einer zwingenden positiven Verpflichtung gestanden, die Demonstranten einschließlich der Bf. davor zu beschützen. Sie kamen auch ihrer verfahrensrechtlichen Verpflichtung nicht nach, zu untersuchen, was bei den Vorfällen vom 17.5.2012 »schief gelaufen« war, wobei es von besonderer Wichtigkeit gewesen wäre, die Voreingenomenheitsmotive zu entlarven und die homophoben Gewalttäter zu identifizieren. Ohne eine derartige sinnvolle Untersuchung wird es dem belangten Staat schwer fallen, erfolgreich Maßnahmen zu setzen, um ähnliche friedliche Versammlungen besser zu schützen. Dies hat zur Folge, dass das öffentliche Vertrauen in die staatliche Antidiskriminierungspolitik untergraben wird.
(81) [...] Verletzung von Art. 3 iVm. Art. 14 EMRK (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 und 11 iVm. Art. 14 EMRK
Die ErstBf. und die 13 individuellen Bf. beklagen sich darüber, dass sie ihren friedlichen Marsch aufgrund der auf Voreingenommenheit basierenden Angriffe und wegen der Inaktivität der Polizei nicht hätten fortsetzen können, was einen diskriminierenden Verstoß gegen ihre Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit darstelle.
Zur Zulässigkeit
(83) Laut der Regierung hätten die Bf. hinsichtlich dieses Beschwerdepunkts nicht den innerstaatlichen Instanzenzug ausgeschöpft. [...] Sie hätten nämlich vom Innenminister Schadenersatz gemäß § 1005 Abs. 1 ZGB verlangen sollen. [...]
(86) Der GH hält fest, dass der Beschwerdepunkt der individuellen Bf. nach Art. 10 und 11 EMRK auf denselben Fakten wie den unter Art. 3 EMRK vorgebrachten beruht. In diesem Zusammenhang ist auf sein einschlägiges Fallrecht zu verweisen, wonach gegen Handlungen, die ernste Eingriffe in die physische und psychische Integrität einer Person darstellen, nur das Strafrecht mit seiner abschreckenden Wirkung angemessenen Schutz bieten kann. Dies hat insbesondere für den vorliegenden Fall zu gelten, musste doch ans Tageslicht gebracht werden, ob hinter den Attacken auf die Bf. [...] voreingenommene Motive gestanden waren. Das georgische Strafrecht – in diesem Fall § 53 StPO – sah eine solche Möglichkeit vor.
(87) Angesichts dessen, dass die Bf. von den verfügbaren Mechanismen des Strafrechts Gebrauch machten, ist der GH der Ansicht, dass sie damit den innerstaatlichen Instanzenzug ausgeschöpft haben und folglich keine Notwendigkeit mehr für sie bestand, alternative Rechtsbehelfe zu ergreifen. Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen.
In der Sache
(91) Der GH stellt vorerst klar, dass [...] Art. 11 EMRK gegenüber Art. 10 EMRK als lex specialis anzusehen ist und daher eine gesonderte Prüfung von Art. 10 EMRK entbehrlich ist [...] (einstimmig).
(97) [...] Es liegt unbestritten ein Eingriff in Art. 11 EMRK, gelesen im Lichte von Art. 10 EMRK, vor. Der GH hat bereits im Fall Alekseyev/RUS festgehalten, dass die Konvention öffentliche Formen der Meinungsäußerung, einschließlich der Abhaltung einer friedlichen Versammlung, und die Äußerung von Meinungen schützt, mit denen für die Grundrechte verschiedener sexueller Minderheiten eingetreten und dafür ein Bewusstsein geschaffen werden soll.
(99) Der GH hält fest, dass es die innerstaatlichen Behörden ungeachtet der Tatsache, dass sie am 8.5.2012 über die Absicht der Abhaltung eines für den 17.5.2012 geplanten friedlichen Marsches informiert worden waren, nicht zuwege brachten, diesen großzügig bemessenen Zeitraum von neun Tagen für sorgfältige Vorbereitungsarbeit zu nutzen. Angesichts der Haltung von Teilen der georgischen Gesellschaft gegenüber sexuellen Minderheiten wussten die Behörden um das Risiko bzw. hätten wissen müssen, dass der geplante Straßenmarsch [...] unweigerlich Spannungen nach sich ziehen würde. Sie wären folglich unter einer Verpflichtung gestanden, alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen, um einen friedlichen Ablauf zu gewährleisten, etwa indem sie sich im Vorfeld öffentlich zum geplanten Marsch äußerten, um einerseits eine versöhnliche und tolerante Einstellung der Bevölkerung zu fördern und andererseits potentielle Rechtsbrecher vor möglichen Sanktionen zu warnen. Ferner machte der Ausgang des Straßenmarsches klar, dass die Zahl der eingesetzten motorisierten Polizei nicht ausreichend war. Angesichts der Wahrscheinlichkeit von Zusammenstößen auf der Straße hätten die Behörden Weitsicht gezeigt, wenn sie für die Beaufsichtigung des Marsches mehr Polizeibeamte, etwa von einer Spezialeinheit für Straßenkrawalle, abgestellt hätten.
(100) Die innerstaatlichen Behörden haben es somit verabsäumt zu gewährleisten, dass der von der ErstBf. organisierte und von den dreizehn individuellen Bf. begleitete Marsch friedlich und unter ausreichender »Bändigung« von homophoben und gewalttätigen Gegendemonstranten ablaufen konnte. [...] Verletzung von Art. 11 iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).
Zu den weiteren gerügten Verletzungen der EMRK
(101) Der Dritt-, der Sechst-, die Siebent- und die ZehntBf. beklagen eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit), da sie von der Polizei gezwungen worden wären, in Einsatzwägen zu steigen und dann vom Demonstrationsort weggebracht wurden.
(102) Alle dreizehn Bf. wiederholten ihre Rügen über die Attacken gegen sie während des Marsches und wegen fehlenden Schutzes durch die Polizei, wobei sie sich auf Art. 8 EMRK alleine und iVm. Art. 13 und 14 EMRK stützten. Unter Art. 13 EMRK rügten sie noch einmal die Ineffektivität der strafrechtlichen Untersuchungen ihre Misshandlungsvorwürfe betreffend.
(104) Der GH hält vorerst fest, dass der Dritt-, der Sechst-, die Siebent- und die ZehntBf. die Eröffnung einer strafrechtlichen Untersuchung hinsichtlich des von ihnen behaupteten illegalen Freiheitsentzugs durch die Polizei [...] nicht begehrt haben. Tatsächlich waren ihre Strafanzeigen auf behauptete erlittene Misshandlungen durch Gegendemonstranten und die Inaktivität der Polizei beschränkt. Dazu kommt, dass keiner der vier Bf. hilfsweise versuchte, das Innenministerium auf Schadenersatz zu klagen [...].
(105) Der Beschwerdepunkt der vier Bf. unter Art. 5 Abs. 1 EMRK muss daher wegen fehlender Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges gemäß Art. 35 Abs. 1 und Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).
(106) Zu den Beschwerden der Bf. unter Art. 8 EMRK alleine und iVm. Art. 13 und 14 EMRK sowie gemäß Art. 13 EMRK alleine ist zu sagen, dass darin lediglich die Fragen wiederholt werden, die vom GH bereits unter den Art. 3 und 11 EMRK als lex specialis, gelesen iVm. Art. 14 EMRK, eingehend geprüft wurden. Dieser Teil der Beschwerde ist somit wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig zu erklären (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 1.500,– an die ErstBf., jeweils € 4.000,– an den Dritt- und den SechstBf., jeweils € 3.000,– an die Siebent- und die ZehntBf., jeweils € 2.000,– an den Zweit-, die Viert-, die Fünft-, die Acht-, die Neunt-, die Elft-, die Zwölft-, die Dreizehnt- und die VierzehntBf. für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Christen gegen Rassismus und Faschismus/GB v. 16.7.1980 (ZE der EKMR)
Alekseyev/RUS v. 21.10.2010
Kakabadze u.a./GE v. 2.10.2012
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.5.2015, Bsw. 73235/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 242) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/15_3/Identoba.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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