Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Guseva gg. Bulgarien, Urteil vom 17.2.2015, Bsw. 6987/07.
Art. 10 EMRK, Art. 13 EMRK - Kein Zugang einer Tierschutzorganisation zu Informationen betreffend die Behandlung von streunenden Hunden.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (mehrstimmig).
Verletzung von Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen).
Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden, € 1.520,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. ist Mitglied und Repräsentantin des »Vereins für Tierschutz« in Vidin. Am 11.4.2002 ersuchte sie den Bürgermeister um Übermittlung von Informationen betreffend einen Vertrag der Gemeinde mit der Firma EOOD über das Einfangen von streunenden Hunden auf Gemeindegebiet. Der Bürgermeister kontaktierte daraufhin den Geschäftsführer von EOOD, da er die Einholung von dessen Zustimmung als erforderlich iSv. § 31 Abs. 2 des »Gesetzes zum Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen« erachtete. Letzterer weigerte sich, seine Zustimmung zur Herausgabe von Informationen zu erteilen. Am 4.6.2002 erließ der Bürgermeister einen Bescheid, womit der Bf. die gewünschten Informationen gemäß § 37 Abs. 1 Z. 2 des »Gesetzes zum Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen« verweigert wurden.
Die Bf. erhob gegen den ablehnenden Bescheid Klage vor den Gerichten. Das Landesgericht Vidin gab dieser mit dem Hinweis statt, die gewünschten Informationen würden die Rechte von EOOD nicht berühren, was zur Folge habe, dass § 37 Abs. 1 Z. 2 des »Gesetzes zum Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen« nicht anwendbar sei. Dem Bürgermeister wurde aufgetragen, dem Begehren der Bf. zu entsprechen.
Am 25.5.2004 bestätigte der Oberste Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Erstgerichts mit der Begründung, im vorliegenden Fall handle es sich um eine Information von öffentlichem Interesse. Die Entscheidung des Bürgermeisters, der Bf. den Zugang zu den Dokumenten zu verwehren, sei daher verfehlt gewesen.
In der Folge wandte sich die Bf. zwei weitere Male mit Fragen betreffend die Behandlung von Tieren an den Bürgermeister. Letzerer verweigerte jedes Mal die Herausgabe von Informationen, indem er sich auf von ihm einzuhaltende gesetzliche Vorschriften berief. Mit Urteilen vom 25.5.2004 und 20.10.2004 trug der Oberste Verwaltungsgerichtshof dem Bürgermeister auf, der Bf. die bzw. Teile der gewünschten Informationen auszuhändigen. Sie suchte hierauf beim Bürgermeister erfolglos um Herausgabe von Informationen unter Berufung auf die Urteile des Obersten Verwaltungsgerichtshofs an.
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptet Verletzungen von Art. 10 EMRK (hier: Informationsfreiheit), alleine und in Verbindung mit Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) sowie von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 10 EMRK, da die Verweigerung der Herausgabe von Informationen durch den Bürgermeister ihr Recht auf den Empfang und die Weitergabe von Informationen verletzt habe.
Zur Zulässigkeit
(32) Die Regierung wendet ein, die Bf. habe den nationalen Instanzenzug nicht erschöpft, weil sie weder die Verhängung einer Ordnungsstrafe über den Bürgermeister gemäß den einschlägigen Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes 1997 noch Schadenersatz nach dem Organhaftpflichtgesetz 1988 beantragt habe.
Ist Art. 10 EMRK auf den vorliegenden Fall anwendbar?
(36) Art. 10 EMRK kann nicht derart verstanden werden, dass er ein allgemeines Recht auf Zugang zu Informationen garantiert. Andererseits hat der GH stets betont, dass diese Bestimmung nicht nur ein Recht auf die Weitergabe von Informationen, sondern auch ein Recht der Öffentlichkeit auf den Erhalt solcher gewährleistet. Für die Beschneidung von Informationen, auf welche die Öffentlichkeit ein Anrecht hat, müssen daher besonders triftige Gründe vorliegen.
(37) In Fällen, in denen der Bf. ein einzelner Journalist und »Verteidiger der Menschenrechte« war, hat der GH festgehalten, dass das Sammeln von Informationen ein essentieller Vorbereitungsschritt ist und als inhärenter und geschützter Teil der Pressefreiheit angesehen werden muss. Die Aufstellung von Hürden zwecks Verhinderung des Zugangs zu im öffentlichen Interesse stehenden Informationen kann Personen, welche für die Medien und verwandte Bereiche arbeiten, daran hindern, solchen Angelegenheiten nachzugehen. Dies hat zur Folge, dass sie ihrer zentralen Rolle als »öffentlicher Wachhund« nicht mehr nachgehen können und nur mehr eingeschränkt in der Lage sein werden, akkurate und verlässliche Informationen zu liefern.
(38) Für den Fall, dass es sich bei dem Bf. um eine Organisation handelte, hat der GH regelmäßig festgestellt, dass im öffentlichen Interesse handelnde NGOs eine ähnliche Rolle wie die Presse ausüben und daher einen vergleichbaren Schutz genießen sollten.
(41) Im vorliegenden Fall suchte die Bf. in ihrer Eigenschaft als Mitglied einer Tierschutzorganisation um Zugang zu Informationen betreffend die Behandlung von Tieren in Vidin an. Sie wurde damit ihrer Rolle gerecht, die Öffentlichkeit über eine Angelegenheit von allgemeinem Interesse zu informieren und zu einer öffentlichen Debatte beizutragen. Die Existenz eines Rechts auf Zugang zu Informationen wurde sowohl vom innerstaatlichen Recht als auch durch drei rechtskräftige Urteile des Obersten Verwaltungsgerichtshofs anerkannt. Darüber hinaus hat die Regierung die Anwendbarkeit von Art. 10 EMRK auf den gegenständlichen Fall nicht in Frage gestellt. Mit Rücksicht auf das vorhin Gesagte ist daher festzustellen, dass das Sammeln von Informationen zwecks Inkenntnissetzung der Öffentlichkeit in die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. fiel.
Wurde der innerstaatliche Instanzenzug ausgeschöpft?
(44) Den ersten Einwand betreffend hat die Regierung [...] dem GH als Beispiel der Verhängung von Sanktionen wegen Nichtvollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen einen Beschluss des Obersten Verwaltungsgerichtshofs aus 2008 vorgelegt, womit einem Minister wegen Nichtvollstreckung einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung eine Geldstrafe auferlegt worden war.
(45) Die Regierung vermochte jedoch keine Beispiele aufzuzeigen, wonach eine über einen Beamten verhängte Ordnungsstrafe diesen dazu bewogen hätte, eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung vollstrecken zu lassen. [...] Aber auch gesetzt den Fall, dass die betreffende Vorschrift – Art. 304 Verwaltungsverfahrensgesetz 1997 – im gegenständlichen Fall zur Anwendung gekommen wäre, ist festzuhalten, dass der GH diese Gesetzesbestimmung im Fall Stoyanov und Tabakov/BG nicht als effektiven Rechtsbehelf angesehen hat, da die Bf. weder am Verfahren teilnehmen noch gegen die Weigerung der Verhängung einer Sanktion Einspruch erheben konnten.
(46) Zum zweiten Einwand der Regierung ist zu sagen, dass beginnend mit Juli 2006 Schadenersatzklage nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen die zuständige Gemeinde (§ 1 Organhaftpflichtgesetz 1988) erhoben werden kann. Der GH hat bereits festgestellt, dass im Fall der Nichtvollstreckung von rechtskräftigen Verwaltungsgerichtsentscheidungen eine Klage auf Schadenersatz im Prinzip als effektiver Rechtsbehelf betrachtet werden muss. Andererseits hat er in Fällen, in denen von den Behörden die Setzung spezieller Vollstreckungsmaßnahmen – und nicht einfach die Leistung von Schadenersatz – erwartet wurde, eine auf der Möglichkeit der Erhebung einer Schadenersatzklage gegen den Staat fußende Einrede der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges wiederholt verworfen. Er begründete dies damit, dass Schadenersatzklagen in Situationen, in denen die Behörden zur Ergreifung von speziellen – keinen Aufschub duldenden – Maßnahmen aufgerufen waren (etwa wenn es um die Beschleunigung und den Abschluss von Verfahren betreffend die Rückgabe von Ackerflächen ging), keine angemessene Form der Wiedergutmachung darstellen würden. Im gegenständlichen Fall vermochte die Regierung keine zwingenden Argumente vorzubringen, die den GH dazu bewegen könnten, von diesem Ansatz Abstand zu nehmen.
(47) Die Regierung hat auch keinerlei Beispiele aus der innerstaatlichen Judikatur geliefert, die belegen würden, dass wegen Nichtvollstreckung von rechtskräftigen Gerichtsurteilen Schadenersatz gemäß dem Verwaltungsverfahrensgesetz 1997 geleistet worden wäre. Dem GH liegen zwar zwei Gerichtsurteile vor, in denen die bulgarischen Gerichte tatsächlich Schadenersatz zugesprochen haben, jedoch wurde in einer Reihe von weiteren Entscheidungen ein solcher verwehrt [...]. Er hält die innerstaatliche Rechtspraxis daher nicht für ausreichend gefestigt, um darauf schließen zu können, dass der vom Verwaltungsverfahrensgesetz 1997 vorgesehene Rechtsbehelf effektiv ist.
(48) Dazu kommt, dass die drei zu Gunsten der Bf. ergangenen Urteile des Obersten Verwaltungsgerichtshofs auf Mai und Oktober 2004 zurückdatieren, während die Möglichkeit der Erhebung einer Schadenersatzklage gegen Gemeinden vom bulgarischen Gesetzgeber im Juli 2006 eingeführt wurde. Der Zeitraum von zwei Jahren, während dem die Bf. keinen Schadenersatzanspruch geltend machen konnte, ist ausreichend lang, um als unter der Konvention problematisch eingestuft zu werden.
(49) Schließlich hat die Regierung auch nicht geltend gemacht, dass die Bf. die Vollstreckung der Gerichtsentscheidungen nach Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes 2006 am 1.3.2007 erreichen hätte können. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehr als zweieinhalb Jahre seit der Erlassung der Vollstreckungsurteile vergangen. Der GH ist der Ansicht, dass die Nützlichkeit der Informationen, welche die Bf. begehrte, mit dem Verstreichen der Zeit stark abgenommen hatte. Er erinnert daran, dass Neuigkeiten ein »verderbliches Gut« sind und dass deren verzögerte Veröffentlichung sie ihres Werts und Interesses berauben können. [...] Die Bf. bat um Informationen inklusive statistischer Daten, um die Öffentlichkeit über eine Frage von allgemeinem Interesse zu unterrichten, die für bestimmte Zeit relevant war, nämlich für mehr als zwei Jahre, bevor ein Rechtsmittel unter Art. 290 des Verwaltungsverfahrensgesetzes 2006 eingeführt wurde. Es konnte daher von ihr nicht verlangt werden, diesen Rechtsbehelf auszuschöpfen.
Ergebnis
(50) Der GH kommt zu dem Schluss, dass Art. 10 EMRK auf den vorliegenden Fall anwendbar ist und dass die Einwände der Regierung gegen die Zulässigkeit der vorliegenden Beschwerde wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges zurückzuweisen sind. Letztere ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss folglich für zulässig erklärt werden (mehrstimmig).
In der Sache
(54) Der GH hat bereits festgehalten, dass die Schaffung verschiedenster Plattformen für die öffentliche Debatte nicht auf die Presse beschränkt ist. Diese Funktion kann auch von NGOs ausgeübt werden, deren Aktivitäten als essentielles Element einer informierten Öffentlichkeit anzusehen sind [...].
(55) Die Bf. brachte die vorliegende Beschwerde als Privatperson [...] ein. Zweck der von ihr begehrten Informationen war jedoch, die Öffentlichkeit über die Behandlung von streunenden Hunden durch die Stadtverwaltung zu informieren. Besagte Informationen waren daher direkt mit ihrer Tätigkeit als Mitglied und Repräsentantin des »Vereins für Tierschutz« verbunden. Folglich war die Bf. an der legitimen Sammlung von im öffentlichen Interesse liegenden Informationen beteiligt, um damit zu einer öffentlichen Debatte beizutragen. Da unstrittig ist, dass die drei Urteile des Obersten Verwaltungsgerichtshofs (noch) nicht vollstreckt wurden, [...] gelangt der GH zu dem Schluss, dass der Bürgermeister, indem er der Bf. nicht die gewünschten Informationen zukommen ließ, [...] in ihr Recht auf den Empfang und die Weitergabe von Mitteilungen eingegriffen hat.
(57) Zu prüfen ist, ob der Eingriff unter Art. 10 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt war, also auf einer Rechtsgrundlage beruhte, ein legitimes Ziel verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war [...].
(58) Der GH merkt an, dass sich das Versäumnis des Bürgermeisters, der Bf. die höchstgerichtlich aufgetragenen Informationen zu liefern, auf keinerlei rechtliche Grundlage zu stützen vermochte. Vielmehr war es so, dass rechtskräftige Verwaltungsgerichtsurteile laut dem Gesetz unverzüglich zu vollziehen waren. Zu diesem Punkt vermerkte der Oberste Verwaltungsgerichtshof, dass das bulgarische Recht keinerlei Fristen vorsehe, innerhalb derer ein Verwaltungsorgan ein rechtskräftiges Urteil zu befolgen habe. Die Entscheidung, wann ein solches umzusetzen sei, liege völlig in dessen Ermessen. Bleibt festzuhalten, dass die Information – ähnlich wie im Fall Társaság a Szabadságjogokért/H – im exklusiven Besitz des Bürgermeisters und jederzeit verfügbar war.
(59) Angesichts der Tatsache, dass eine Vollstreckung der besagten Urteile gesetzlich vorgeschrieben war, verstieß das Versäumnis des Bürgermeisters, entsprechende Maßnahmen zu treffen, gegen das Gesetz. Hinzu kommt noch, dass die nationale Rechtspraxis akzeptiert hatte, dass die Gesetze selbst keinen klaren Zeitrahmen für die Vollstreckung von Urteilen des Obersten Verwaltungsgerichtshofs vorgaben und diese Frage dem guten Willen des dafür verantwortlichen Verwaltungsorgans anheim gestellt wurde. Der GH findet, dass die fehlende Klarheit, was den Zeitrahmen für eine Vollstreckung angeht, den wahrscheinlichen Zeitpunkt der Urteilsvollstreckung – der im gegenständlichen Fall niemals eintrat – unberechenbar machte. Den einschlägigen innerstaatlichen Gesetzen mangelte daher die notwendige Vorhersehbarkeit.
(60) Der gegenständliche Eingriff war nicht »gesetzlich vorgesehen« iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK. Ein Eingehen auf die übrigen Elemente erübrigt sich daher.
(61) Verletzung von Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen; abweichende Sondervoten von Richter Mahoney und von Richter Wojtyczek).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
Die Bf. behauptet eine Verletzung ihres Rechts auf Zugang zu einem Gericht, da die Weigerung des Bürgermeisters, ihr Informationen zukommen zu lassen, gegen ihr Recht auf Vollstreckung zu ihren Gunsten ergangener rechtskräftiger Urteile verstoßen habe.
(65) Mit Rücksicht auf die festgestellte Verletzung von Art. 10 EMRK wegen Nichtvollstreckung von rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen hält der GH es nicht für notwendig, denselben Beschwerdepunkt auch unter Art. 6 EMRK zu prüfen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Mahoney).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 10 EMRK
Laut der Bf. sei ihr im Zusammenhang mit ihrer Beschwerde unter Art. 10 EMRK kein effektives Rechtsmittel iSv. Art. 13 EMRK zur Verfügung gestanden.
(69) Angesichts seiner Schlussfolgerungen zu den verfügbaren Rechtsbehelfen zum Zeitpunkt der relevanten Ereignisse gelangt der GH zu dem Schluss, dass hinsichtlich der Beschwerde der Bf. keinerlei effektive Rechtsbehelfe zur Verfügung standen, welche ausreichende Aussichten auf Erfolg gehabt und ihr Wiedergutmachung verschafft hätten. Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen; abweichende Sondervoten von Richter Mahoney und von Richter Wojtyczek).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 5.000,– für immateriellen Schaden; € 1.520,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Mahoney) .
Entscheidungsanmerkung
Das vorliegende Urteil der IV. Kammer könnte – sofern es rechtskräftig, also nicht an die Große Kammer weiterverwiesen werden sollte – ein Meilenstein auf dem Gebiet der effektiven Gewährleistung des »Rechts auf Information« sein. Das Urteil ist aber vor allem deshalb bemerkenswert, weil darin der GH – ähnlich wie die EKMR in ihrem Bericht zum Fall Guerra u.a./I – aus Art. 10 EMRK erstmals ein Recht auf Zugang zu im Besitz einer staatlichen Behörde stehenden Informationen von öffentlichem Interesse (hier: Tierschutz) ableitet.
Diese durch und durch begrüßenswerte Auslegung hat bei zwei Richtern zu heftigen Protesten geführt. So wies Richter Mahoney mit Blick auf den oben genannten Fall Guerra u.a./I darauf hin, »dass eine klare und einheitliche Judikaturlinie [besteht], welche eine Auslegung von Art. 10 EMRK dahingehend ausschließt, dass von dieser Bestimmung ein Recht auf Zugang zu Informationen gegen den Willen eines ›Informationenbesitzers‹ geschützt wird, mit der eine positive Verpflichtung der staatlichen Behörden einhergeht, Informationen für die Allgemeinheit oder ›spezialisierte Öffentlichkeit‹ zu sammeln und weiterzugeben.« Richter Wojtyczek hingegen weist auf einschlägige Empfehlungen des Europarats hin, kommt dann aber zu dem Schluss, dass der im gegenständlichen Urteil gewählte Ansatz der IV. Kammer verfehlt sei: Die in Art. 10 EMRK verankerte Freiheit, Informationen ohne Intervention von außen zu empfangen, dürfe nicht mit dem einfachgesetzlichen Recht, Informationen von staatlichen Behörden zu beanspruchen, verwechselt werden. Eine positive Verpflichtung von Staaten, Informationen weiterzugeben, könne – wie die Große Kammer bereits im Fall Guerra u.a./I festgestellt habe, aus der Konvention nicht abgeleitet werden.
Beide Richter haben jedoch mit keinem Wort erwähnt, dass die Konvention als »living instrument« zeitgemäß auszulegen ist. In Zeiten, in denen Staaten regelmäßig durch Korruptionsskandale und andere – oft erst durch »whistleblower« aufgedeckte – Missstände erschüttert werden, kann das »Gegenmittel« gegen Korruption und staatliche Willkür nur in der Herstellung von Transparenz bestehen. Ein schlagkräftiges Instrument wäre hierbei die Gewährleistung einer umfassenden Informationsfreiheit gegenüber staatlichen Stellen, sofern dafür gewichtige Gründe im öffentlichen Interesse vorliegen. Insofern liegt der GH ganz richtig, indem er der Motivation der Bf., nämlich die Öffentlichkeit über den Umgang der bulgarischen Behörden mit streunenden Hunden zu informieren, besonderes Augenmerk geschenkt hat (vgl. Z. 54-55).
Von Relevanz ist ferner, dass ein – freilich nicht ungehinderter – Zugang zu Informationen vom bulgarischen Recht durch das »Gesetz zum Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen« anerkannt wird. Ähnlich wie im Fall Kenedi/H erlangte die Bf. einen »Exekutionstitel« für ihr Begehren, auch bei ihr stellte der GH fest, dass eine Urteilsvollstreckung gesetzlich vorgeschrieben gewesen wäre. Der gegenständliche Fall liegt daher durchaus auf einer Linie mit dem Fall Kenedi/H, wo der GH ebenfalls auf eine Verletzung von Art. 10 EMRK geschlossen hatte.
Das vorliegende Urteil ist auch für die österreichische Rechtspraxis von Bedeutung, was die Gewährleistung der Informationsfreiheit angeht: Die sogenannte Auskunftspflicht ist in Art. 20 Abs. 4 B-VG verankert, als Durchführungsgesetz ist das Bundesgesetz vom 15.5.1987 über die Auskunftspflicht der Verwaltung des Bundes und eine Änderung des Bundesministeriengesetzes 1986 (Auskunftspflichtgesetz) ergangen. Laut § 1 leg. cit. dürfen die Organe des Bundes sowie der Selbstverwaltung über Angelegenheiten ihres Wirkungsbereichs nur Auskunft erteilen, soweit dem nicht eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht (vgl. Art. 20 Abs. 3 B-VG) entgegensteht, während Auskünfte nur in einem Umfang erteilt werden dürfen, der die Besorgung der übrigen Aufgaben der Verwaltung nicht wesentlich beeinträchtigt. Ungeachtet des begrüßenswerten Ziels, mit dem Auskunftspflichtgesetz zu einer Öffnung der Verwaltung gegenüber dem Bürger beizutragen und für Verwaltungstransparenz zu sorgen, dürfte ein Manko in seiner Durchsetzbarkeit bestehen, hier ortet Schwaighofer »gravierende Mängel«. Als Spezialgesetz wäre noch das Bundesgesetz vom 27.7.1993 über den Zugang zu Informationen über die Umwelt (Umweltinformationsgesetz – UIG) idF. BGBl. I Nr. 6/2005 zu erwähnen. Es gewährleistet ein Recht auf freien Zugang zu Umweltinformationen (§ 4 UIG), enthält aber auch gewisse Mitteilungsschranken und Ablehnungsgründe (§ 6 UIG).
Einer 2013 erstellten Studie der Organisation »Access Info Europe« zufolge liegt Österreich die Umsetzung des Rechts auf Information betreffend an letzter Stelle von 95 untersuchten Staaten, wobei Grund für die schlechte Bewertung vor allem das verfassungsrechtlich verankerte Amtsgeheimnis gewesen sei. Die Behandlung eines am 27.2.2013 von den Grünen eingebrachten Entschließungsantrags betreffend Erarbeitung eines österreichischen Informationsfreiheitsgesetzes, in dem auf die Mängel des Auskunftspflichtgesetzes und auf die bereits 2008 vorgebrachte Kritik des Evaluierungsteams der Staatengruppe gegen Korruption des Europarats eingegangen wird, wurde am 28.6.2013 vertagt.
Seit März 2014 liegt ein Gesetzesentwurf (Einfügung eines neuen Art. 22a-B-VG) vor, der die Abschaffung der Amtsverschwiegenheit und die Schaffung einer Informationsverpflichtung sowie eines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Zugang zu Informationen vorsieht.
Vom GH zitierte Judikatur:
Társaság a Szabadságjogokért/H v. 14.4.2009
Kenedi/H v. 26.5.2009 = NL 2009, 141
Gillberg/S v. 3.4.2012 (GK) = NL 2012, 100
Animal Defenders International/GB v. 22.4.2013 (GK) = NL 2013, 128
Stoyanov und Tabakov/BG v. 26.11.2013
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.2.2015, Bsw. 6987/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 145) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/15_2/Guseva.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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