Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache H. W. gg. Deutschland, Urteil vom 19.9.2013, Bsw. 17167/11.
Art. 5 Abs. 1 EMRK - Mangelhafte Überprüfung einer Sicherungsverwahrung.
Zulässigkeit der Beschwerde nach Art. 5 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Überschreitung der Frist zur Überprüfung der Sicherungsverwahrung und hinsichtlich des fehlenden aktuellen Sachverständigengutachtens (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Überschreitung der Frist zur Überprüfung der Sicherungsverwahrung und hinsichtlich des fehlenden aktuellen Sachverständigengutachtens(einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,- für immateriellen Schaden (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Am 26.11.1997 verurteilte das Landgericht Berlin den Bf. unter anderem wegen Vergewaltigung einer Frau, sexuellen Missbrauchs von drei neun- und zehnjährigen Mädchen und Raubes zu neun Jahren und sechs Monaten Haft und ordnete seine Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB an. Das Gericht stellte nach der Konsultierung eines neurologischen und psychiatrischen Sachverständigen fest, dass der geständige Bf. zwar mit voller Schuldfähigkeit gehandelt habe, jedoch unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sowie einer sexuellen Störung leide, die eine psycho-therapeutische Behandlung erforderten. Es bestehe die Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Taten, insbesondere von Sexualdelikten, was ihn zu einer Gefahr für die Öffentlichkeit mache.
Am 1.11.2007 ordnete das Landgericht Berlin die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung an. Im Hinblick auf die andauernde Gefährlichkeit des Bf. bezog sich das Gericht auf das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen vom 29.5.1997, welches es als nach wie vor zutreffend beurteilte, da keine signifikanten Änderungen im Verhalten des Bf. feststellbar seien und er sich weigere, sich einer Therapie zu unterziehen. Da die Anordnung der Sicherungsverwahrung unter diesen Umständen keinesfalls aufgeschoben werden könne, sei es nicht notwendig, ein neues Sachverständigengutachten einzuholen. Das Kammergericht Berlin bestätigte diese Entscheidung am 21.12.2007. Der Bf., der seine volle Haftstrafe am 24.12.2007 verbüßt hat, befindet sich seither in der Haftanstalt Berlin-Tegel in Sicherungsverwahrung.
Am 29.9.2009 und 7.11.2009 erkundigte sich der Bf. sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch beim Landgericht Berlin über die Überprüfungsverfahren nach § 67e StGB zur weiteren Vollstreckung seiner Sicherungsverwahrung. Er beantragte außerdem die Bereitstellung eines Anwalts sowie die Befragung eines Sachverständigen bezüglich seiner Gefährlichkeit. Am 11.11.2009 forderte die Staatsanwaltschaft Berlin die Haftanstalt Berlin-Tegel auf, eine Stellungnahme zur Entwicklung des Bf. abzugeben. Dieser Antrag wurde jedoch nicht zugestellt. Am 2.12.2009 stellte die Staatsanwaltschaft einen erneuten Antrag, der der Anstaltsleitung am 17.12.2009 zuging, und sandte die Akte nach Anfertigung einer Kopie zurück an das Landgericht, welches diese am 29.12.2009 an die zuständige Kammer weiterleitete. In der Zwischenzeit wies das Kammergericht Berlin am 23.12.2009 einen Antrag des Bf. auf Entlassung ab.
Am 28.12.2009 übermittelte die Haftanstalt Berlin-Tegel der Staatsanwaltschaft ihre Stellungnahme, in der sie die Fortdauer der Sicherungsverwahrung und die Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens empfahl.
Am 30.12.2009 ordnete das Landgericht die Weiterleitung der Akte an den Verfassungsgerichtshof Berlin an, da der Bf. vorläufigen Rechtsschutz beantragt hatte.
Am 8.1.2010 wies die Staatsanwaltschaft einen Antrag des Bf. auf Entlassung nach § 458 StPO ab. Er hatte vorgebracht, dass die Gerichte es versäumt hätten, die Notwendigkeit der weiteren Vollstreckung innerhalb der gesetzlichen Frist nach § 67e StGB (Anm: Der vorliegende Fall bezieht sich auf § 67e Abs. 2 StGB aF, wonach die Frist zur Überprüfung einer Sicherungsverwahrung zwei Jahre betrug. Durch das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5.12.2012 wurde die Frist mit Wirkung zum 1.6.2013 auf ein Jahr reduziert.) zu überprüfen. Die Staatsanwaltschaft hielt fest, dass eine Entlassung nur möglich sei, wenn die Verzögerung der Überprüfungsverfahren dem Rechtsstaatsprinzip widersprechen oder das öffentliche Interesse gegenüber dem des Bf. nicht überwiegen würde, was im Hinblick auf die begangenen Delikte nicht gegeben sei.
In der Verhandlung zur Überprüfung der weiteren Vollstreckung am 20.1.2010 ordnete das Landgericht die Fortdauer der Sicherungsverwahrung an, da nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Bf. keine weiteren rechtswidrigen Taten begehe. Angesichts seines Verhaltens in Haft und vor Gericht, insbesondere seiner anhaltenden Weigerung, sich mit seinen Taten auseinanderzusetzen, hielt es das Gericht nicht für notwendig, einen Sachverständigen zu konsultieren.
Gegen diese Entscheidung legte der Bf. am 1.2.2010 Berufung ein, die am 17.6.2010 vom Kammergericht Berlin aufgrund des weiteren Risikos der Begehung von Delikten abgewiesen wurde. Auch weise das durch die verspätete Zustellung der Stellungnahme verzögerte Verfahren keine »offenkundige Unregelmäßigkeit« auf. Die Verfassungsbeschwerde des Bf., in der er unter anderem die fehlende Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens rügte, wurde am 16.9.2010 ohne Angabe von Gründen nicht angenommen. Am 22.3.2012 wurde die Fortdauer der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) durch das Überschreiten der zweijährigen Frist zur Überprüfung seiner Sicherungsverwahrung nach § 67e StGB sowie durch die fehlende Einholung eines aktuellen Sachverständigengutachtens bei der Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK
Zur Überschreitung der Überprüfungsfrist
Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Bei der Beurteilung, ob dem Bf. die Freiheit iSd. Art. 5 Abs. 1 EMRK entzogen wurde, stellt der GH fest, dass die Sicherungsverwahrung bei seiner Verurteilung wegen Vergewaltigung und Kindesmissbrauchs am 26.11.1997 angeordnet wurde und daher in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK fällt.
Im Bezug auf das Vorbringen des Bf., dass eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK vorliege, da die nationalen Gerichte die zweijährige Frist zur Überprüfung nach § 67e StGB nicht eingehalten hätten, muss der GH zunächst feststellen, ob die Verwahrung »rechtmäßig« war und »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise« erfolgte. Als am 24.12.2009 die Frist zur Überprüfung der Sicherungsverwahrung des Bf. endete, hatte das Landgericht Berlin noch keine Entscheidung nach § 67d Abs. 2 StGB getroffen. Es ordnete erst 27 Tage später, am 20.1.2010, die Fortdauer der Sicherungsverwahrung an; diese Entscheidung wurde vom Kammergericht Berlin am 17.6.2010 bestätigt.
Nach dem Wortlaut des § 67e StGB kommt den nationalen Gerichten kein Ermessen im Hinblick auf die Einhaltung der zweijährigen Frist zu. Während sie zu jeder Zeit überprüfen können, ob die weitere Vollstreckung einer Sicherungsverwahrung notwendig ist, sind sie spätestens alle zwei Jahre zu einer diesbezüglichen Entscheidung verpflichtet. Der GH stellt jedoch auch fest, dass die Gerichte trotz der Nichteinhaltung der gesetzlichen Frist aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung darin übereinstimmten, dass die Verwahrung des Bf. seit 24.12.2009 oder zumindest im Zeitraum zwischen 24.12.2009 und 20.1.2010 nicht rechtswidrig war. Im letztgenannten Zeitraum habe sie auf dem Urteil des Landgerichts Berlin von November 1997, in welchem sie verhängt wurde, sowie auf der Entscheidung desselben von November 2007, mit welcher die Vollstreckung angeordnet wurde, basiert. Darüber hinaus waren sie angesichts der Rechtsprechung des BVerfG der Ansicht, dass die Verwahrung des Bf. in der Zeit von 24.12.2009 bis 20.1.2010 nicht dessen Recht auf persönliche Freiheit verletzte, da die Überschreitung der Frist um nur wenige Tage im Hinblick auf das darauffolgende Verfahren keine ungerechtfertigte Missachtung von § 67e StGB dargestellt habe.
Unter Berücksichtigung der vorangegangenen Feststellungen akzeptiert der GH, dass die Sicherungsverwahrung des Bf. sowohl zwischen 24.12.2009 und 20.1.2010 als auch danach nach nationalem Recht rechtmäßig war. Er wiederholt jedoch, dass das nationale Recht bestimmte Erfordernisse erfüllen muss: Es muss ausreichend bestimmt, vorhersehbar und zugänglich festlegen, unter welchen Umständen ein Freiheitsentzug möglich ist. Der GH ist der Ansicht, dass die Rechtsprechung der nationalen Gerichte, die eine Prüfung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung innerhalb eines gewissen, nicht klar definierten Zeitraumes nach Ablauf der gesetzlich vorgegebenen Frist gemäß § 67e StGB ermöglicht, ein Element der Unbestimmtheit in der Anwendung dieser Norm beinhaltet. Diese Rechtsprechung wirft daher ein Problem im Bezug auf die Vorhersehbarkeit der Anwendung nationalen Rechts auf.
Die Frage der Vorhersehbarkeit kann der GH im vorliegenden Fall jedoch offen lassen. Nach seiner gefestigten Rechtsprechung kann kein Freiheitsentzug mit Art. 5 Abs. 1 EMRK vereinbar sein, wenn er als willkürlich anzusehen ist. Bei der Beurteilung, ob es sich um einen willkürlichen Freiheitsentzug handelt, ist relevant, wie zügig die nationalen Gerichte eine neue Haftan ordnung treffen, wenn die bisherige abgelaufen ist. Außerdem müssen die Existenz hinreichender Schutzmechanismen gegen unbegründete Verzögerungen, die Komplexität der Verfahren und das Verhalten des Bf. berücksichtigt werden.
Der GH stellt fest, dass sich der Bf. für 27 Tage in Sicherungsverwahrung befand, ohne dass die erforderliche Entscheidung über deren Fortdauer vorlag, was eine nicht unerhebliche Zeitspanne darstellt. Hinsichtlich der strengen Anforderungen, die sich in der Rechtsprechung des GH finden, wonach Staaten abgelaufene Haftanordnungen zügig zu ersetzen haben, ist dieser der Meinung, dass sich eine Verzögerung von fast einem Monat an der äußersten Grenze dessen befindet, was unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles noch als begründet angesehen werden kann.
Die Regierung bringt vor, dass eine Verzögerung von einem Monat zwischen dem Ablauf der Überprüfungsfrist und einer neuen Haftanordnung eine Verwahrung nicht willkürlich mache, und verweist auf den Fall Rutten/NL. Der GH stellt jedoch fest, dass sich dieser Fall von dem vorliegenden insofern unterscheidet, als der Bf. im Fall Rutten die vorhersehbare Verzögerung der Überprüfung durch die nationalen Gerichte akzeptierte (diese beruhte auf der Tatsache, dass der Termin seiner mündlichen Verhandlung etwa zwei Monate nach der Ladung lag).
Als weiteren Anhaltspunkt für die Beurteilung, ob die Sicherungsverwahrung in der Übergangsphase als willkürlich iSd. Art. 5 Abs. 1 EMRK zu bezeichnen ist, beobachtet der GH, dass der Bf. nicht zu den Verzögerungen beigetragen hat. Er erkundigte sich sogar zu einem früheren Zeitpunkt nach dem Fortschritt der Überprüfungsverfahren und akzeptierte ausdrücklich nicht, dass diese die zweijährige Frist nach § 67e StGB überschreiten würden. Der Bf. beantragte in zwei parallelen Verfahren vor dem Kammergericht und vor dem Verfassungsgerichtshof Berlin seine Entlassung. Die aufgetretene Verzögerung kann dadurch entstanden sein, dass vor der Weiterleitung der Akte an das andere Gericht zunächst Kopien angefertigt wurden. In jedem Fall wurden die Anträge des Bf. bei oder nach Erlöschen der Frist des § 67e StGB behandelt.
Nach Ansicht des GH wurde die Verzögerung hauptsächlich dadurch hervorgerufen, dass das Landgericht und die Staatsanwaltschaft Berlin die Überprüfungsverfahren zu spät einleiteten, nämlich lediglich sechs Wochen vor dem Ablauf der gesetzlichen Frist. Unter diesen Umständen konnte die Verzögerung, die insbesondere durch die Tatsache entstand, dass ein Brief an die Haftanstalt Berlin-Tegel nicht zugestellt wurde, nicht ausgeglichen werden. Bedeutende Verfahrensschritte wie die Bereitstellung eines Anwalts für den Bf., die Gewährung von Akteneinsicht sowie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurden nach dem Ablauf der Frist ergriffen.
Der GH ist weiters nicht der Auffassung, dass die Verzögerung hauptsächlich durch eine unvorhersehbare Komplexität des Verfahrens auftrat. Darüber hinaus war der relevante Termin den Behörden spätestens seit Beginn der Sicherungsverwahrung des Bf. am 24.12.2007 und daher lange im Voraus bekannt. Der Bf. befand sich außerdem bereits eine lange Zeit in Haft und somit unter der Beobachtung der Behörden.
Schließlich erkennt der GH keine hinreichend bestimmten Schutzmechanismen, um zu gewährleisten, dass eine Entscheidung über die Entlassung des Bf. nicht unbegründet verzögert wird. Er nimmt in diesem Zusammenhang zur Kenntnis, dass die von den nationalen Gerichten gesetzte Grenze zur Beurteilung, ob das weitere Verfahren eine »offenkundige Unregelmäßigkeit« aufwies, zu hoch angesetzt war und dem Bf. somit kein ausreichender Schutz gegen exzessive Verzögerungen geboten wurde. Das Recht des Bf. auf persönliche Freiheit würde nicht angemessen berücksichtigt, würde man eine solche ungerechtfertigte Missachtung seiner prozessrechtlichen Garantien als ausreichend für die Wahrung seiner individuellen Interessen betrachten, insbesondere weil er selbst nicht zu den Verzögerungen beigetragen hat. Der Mangel an ausreichenden Schutzmechanismen wurde auch dadurch deutlich, dass die Frist nach § 67e StGB in den weiteren, sich an die der vorliegenden Beschwerde anschließenden Überprüfungsverfahren erneut um etwa zwei Monate überschritten wurde. Dies ist zwischen den Parteien unstrittig.
Im Hinblick auf die bisherigen Ausführungen kommt der GH zum Ergebnis, dass die Sicherungsverwahrung des Bf. zwischen 24.12.2009 und 20.1.2010 als willkürlich bezeichnet werden muss und daher rechtswidrig iSd. Art. 5 Abs. 1 EMRK ist. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Zur fehlenden Einholung eines aktuellen Sachverständigengutachtens
Der Bf. bringt vor, dass die mündliche Verhandlung vor dem Landgericht, in der die Fortdauer seiner Verwahrung angeordnet wurde, fehlerhaft und unfair gewesen sei, insbesondere da die Entscheidung ohne ein erneutes Sachverständigengutachten und somit auf der Basis unzureichender Gründe erging.
Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
Die Sicherungsverwahrung des Bf. fällt unter Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK, wenn sie »nach einer Verurteilung« erfolgte. Das bedeutet, dass ein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Bf. durch das Landgericht Berlin 1997 und dem andauernden, durch dieses Gericht am 20.1.2010 angeordneten Freiheitsentzug in der Sicherungsverwahrung vorliegen muss. Im Hinblick auf seine Feststellungen im Fall M./D ist der GH der Ansicht, dass die Verwahrung des Bf., die die zum Zeitpunkt seiner Taten und Verurteilungen gesetzlich vorgesehene zeitliche Höchstgrenze nicht überstieg, grundsätzlich auf seine »Verurteilung« durch das Landgericht Berlin im November 1997 iSd. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK gestützt werden kann.
Der Grund der nationalen Gerichte für die Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung im Jahre 2010 war die Verhinderung der Begehung weiterer Sexualdelikte durch den Bf. Die Gründe der Entscheidung gegen die Entlassung des Bf. stimmten daher mit denen des Landgerichts Berlin überein, das die Sicherungsverwahrung 1997 aufgrund der bestehenden Gefahr für die Öffentlichkeit bei einer Begehung weiterer Delikte angeordnet hatte.
Bei der Beurteilung, ob die Entscheidung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung im Hinblick auf die für deren Anordnung genannten Gründe nachvollziehbar ist, nimmt der GH das Argument des Bf. zur Kenntnis, dass die Gerichte die Fortdauer ohne ein erneutes Sachverständigengutachten anordneten. Der GH hat bereits festgestellt, dass eine anhaltende Sicherungsverwahrung auf Grundlage eines nicht aktuellen Sachverständigengutachtens ein Problem unter Art. 5 Abs. 1 EMRK aufwirft. Die Angemessenheit einer solchen Entscheidung ist fraglich, wenn die nationalen Gerichte offensichtlich keine hinreichenden Gründe für die Annahme bieten, dass die betreffende Person noch eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt.
In den Überprüfungsverfahren im vorliegenden Fall sahen sich die nationalen Gerichte einer Reihe von Aspekten gegenüber, um zu dem Schluss zu kommen, dass der Bf. erneut straffällig werden würde und eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstelle. Der Sachverständige, der den Bf. in den Verfahren 1997 untersucht hatte, diagnostizierte sowohl eine narzisstische Persönlichkeitsstörung als auch eine sexuelle Störung, was eine psycho-therapeutische Behandlung erforderte. Darüber hinaus ist unbestritten, dass der Bf. sich nicht der empfohlenen Therapie unterzog. Weiters steht fest, dass er die Taten zwar bereits in den Strafverfahren gestand, sich jedoch nicht mit diesen oder seinen Persönlichkeitsdefiziten auseinandersetzte.
Das einzige – während der Strafverfahren gegen den Bf. angefertigte – Sachverständigengutachten, das den Gerichten zur Beurteilung seiner Gefährlichkeit vorlag, war zum Zeitpunkt der Entscheidung mehr als zwölfeinhalb Jahre alt. Im Laufe seiner Haft wurde der Bf. nicht nochmals von einem externen Sachverständigen untersucht. Die Gerichte beurteilten die in dem 1997 erstellten Gutachten enthaltenen Feststellungen bezüglich der Gefährlichkeit des Bf. als immer noch zutreffend, da der Bf. keine Therapie abgeschlossen hatte. Der GH nimmt zur Kenntnis, dass sich der Bf. laut des Berichts der Anstaltsleitung nicht vollständig weigerte, sich einer Therapie zu unterziehen, sondern erklärt hatte, mit einem Therapeuten seines Vertrauens zusammenarbeiten zu wollen. Dem Personal der Haftanstalt Berlin-Tegel, in der er sich in Verwahrung befand, vertraute er insgesamt nicht und führte lediglich regelmäßig Gespräche mit dem dortigen psychologischen Dienst, der unter Schweigepflicht stand. Unter diesen Umständen betrachteten die Gerichte und die Anstaltsleitung eine Sozialtherapie als nicht angebracht.
Nach Ansicht des GH stellen zwölfeinhalb Jahre seit der Beurteilung der Gefährlichkeit des Bf. durch das Gericht mithilfe des Sachverständigengutachtens eine beträchtliche Zeit dar. Unter derartigen Umständen erfordert die Einschätzung der anhaltenden Gefährlichkeit einer Person, die auf einer Persönlichkeitsstörung und einer sexuellen Störung und somit einer von Personen ohne medizinische Fachkenntnisse schwer einschätzbaren Voraussetzung basiert, grundsätzlich die erneute Einholung der Meinung eines Experten. Darüber hinaus sind weitere relevante Aspekte unklar, die die Entwicklung der Persönlichkeit des Bf. in Haft und somit seine Gefährlichkeit betreffen. Insbesondere wurde nicht der Frage nachgegangen, ob das fortgeschrittene Alter des Bf. oder dessen Gespräche mit dem psychologischen Dienst zu irgendwelchen, in einer neuen Therapie behandelbaren Veränderungen in seiner Persönlichkeit geführt haben.
Der GH nimmt auch zur Kenntnis, dass sich der Bf. für eine beträchtliche Zeit in derselben Haftanstalt befand. Dadurch bestand insofern eine festgefahrene Situation, als es scheinbar keinerlei Zusammenarbeit zwischen dem Bf. und dem Gefängnispersonal gab, um seine Gefährlichkeit zu reduzieren und keine signifikanten Fortschritte gemacht wurden. In einer solchen Situation ist es besonders wichtig, einen externen Sachverständigen heranzuziehen, auch um neue Therapiemöglichkeiten zu erhalten. Der GH wiederholt, dass die Entscheidung, einen möglicherweise die Öffentlichkeit gefährdenden Verwahrten nicht zu entlassen, mit den Gründen des die Verwahrung ursprünglich anordnenden Gerichts unvereinbar sein kann, wenn der betroffenen Person keine Mittel, wie beispielsweise eine angemessene Therapie, zur Verfügung stehen, um zu zeigen, dass sie nicht länger gefährlich ist. In einem solchen Fall kann sich eine ursprünglich mit Art. 5 Abs. 1 EMRK vereinbare Verwahrung in einen willkürlichen und mit dieser Vorschrift unvereinbaren Freiheitsentzug wandeln.
Der GH kommt zu dem Ergebnis, dass die nationalen Gerichte durch die unterlassene Einholung eines erneuten Sachverständigengutachtens die relevanten Fakten nicht hinreichend untersuchten. Ihre Entscheidung, den Bf. nicht zu entlassen, stützte sich somit auf eine Beurteilung, die im Hinblick auf die Gründe des die Verwahrung ursprünglich anordnenden Landgerichts Berlin nicht nachvollziehbar ist. Folglich bestand kein ausreichender Kausalzusammenhang iSd. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK mehr zwischen der strafrechtlichen Verurteilung des Bf. 1997 und seinem anhaltenden, am 20.1.2010 angeordneten Freiheitsentzug in der Sicherungsverwahrung. Der GH ist weiters der Ansicht, dass die – in einer Haftanstalt vollstreckte – Sicherungsverwahrung nicht unter den lit. b bis f des Art. 5 Abs. 1 EMRK zu rechtfertigen ist. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Zu anderen behaupteten Verletzungen
Der Bf. rügt außerdem Verletzungen von Art. 7 EMRK und Art. 4 7. Prot. EMRK, da seine Sicherungsverwahrung eine »Strafe« darstelle, sowie von Art. 6 und 13 EMRK aufgrund des fehlerhaften und unfairen Verfahrens. Die Gerichte hätten ihre Entscheidung auf die schriftlichen Stellungnahmen von Personen des Gefängnispersonals und der Staatsanwaltschaft gestützt, die der Bf. in der mündlichen Verhandlung nicht ins Kreuzverhör nehmen konnte. Darüber hinaus stehe ihm kein Rechtsmittel gegen die unfairen Überprüfungsverfahren zur Verfügung, da die Fortdauer der Sicherungsverwahrung durch die Berufungsinstanz bestätigt wurde. Ein weiterer Grund für die Entscheidung der Gerichte seien kritische Äußerungen des Bf. in den vorherigen Verfahren gewesen, was eine Verletzung von Art. 9 und Art. 10 iVm. Art. 14 EMRK bedeute. Schließlich beschwert er sich unter Art. 6 und 13 EMRK, dass ihm Korrespondenz mit dem GH von der Gefängnisleitung erst mit einigen Wochen Verzögerung ausgehändigt worden sei, was sein Individualbeschwerderecht verletze.
Nach Prüfung der übrigen vom Bf. vorgebrachten Beschwerdepunkte kommt der GH anhand des ihm vorliegenden Materials zu dem Ergebnis, dass diesbezüglich kein Anschein für eine Verletzung der Rechte und Freiheiten der Konvention besteht. Dieser Teil der Beschwerde ist folglich offensichtlich unbegründet und als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 5.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Rutten/NL v. 24.7.2001
M./D v. 17.12.2009 = NL 2009, 371 = EuGRZ 2010, 25
Ostermünchner/D v. 22.3.2012
Dörr/D v. 22.1.2013 (ZE)
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.9.2013, Bsw. 17167/11
entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 324) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/13_5/H.W..pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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