Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Raviv gg. Österreich, Urteil vom 13.3.2012, Bsw. 26266/05.
Art. 14 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK - System der freiwilligen Pensionsversicherung für Opfer von NS-Verfolgung nicht diskriminierend.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK bezüglich der Kindererziehungszeiten im Ausland (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK (4:3 Stimmen).
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. wurde 1936 in Wien als Kind jüdischer Eltern geboren. 1943 wurde sie mit ihrer Mutter in das KZ Bergen-Belsen deportiert, 1944 kam sie in das KZ Vittel, wo sie im selben Jahr befreit wurde. Nachdem sie vier Jahre in Lagern für »displaced persons« verbracht hatte, emigrierte sie 1948 nach Israel, wo sie bis heute lebt. Sie hat drei Kinder, die 1961, 1965 und 1971 geboren wurden.
Mit einer im März 2002 in Kraft getretenen Änderung des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) wurden Möglichkeiten zur Erlangung eines Pensionsanspruchs für Personen geschaffen, die aufgrund ihrer Verfolgung durch das NS-Regime daran gehindert worden sind, Versicherungszeiten zu erwerben. Nachdem die Bf. einen entsprechenden Antrag gestellt hatte, wurde sie von der Pensionsversicherungsanstalt für berechtigt erklärt, für die Zeit der Auswanderung von 20.1.1951 (der Tag, an dem die Bf. das 15. Lebensjahr vollendete) bis 31.12.1965 gemäß § 502 Abs. 4 iVm. § 502 Abs. 6 ASVG Beiträge zu entrichten. Zudem wurden Zeiten des Besuchs einer mittleren oder höheren Schule oder einer Universität im Ausland als Ersatzzeiten anerkannt. Der Bf. wurde mitgeteilt, dass sie durch die Einzahlung von € 4.354,20 (€ 24,19 für jeden der 180 Versicherungsmonate) einen Anspruch auf eine monatliche Pension in der Höhe von € 277,25 erwerben würde.
In ihrem gegen diesen Bescheid erhobenen Einspruch machte die Bf. geltend, die Zeiten der Kindererziehung im Ausland müssten bei der Berechnung ihrer Pension als Ersatzzeiten angerechnet werden. Sie würde ansonsten gegenüber Frauen benachteiligt, deren Erziehungszeiten im Inland nach § 227a ASVG angerechnet werden. Der Landeshauptmann von Wien wies diesen Einspruch am 6.5.2003 mit der Begründung ab, die §§ 500?ff. ASVG würden eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten iSv. § 227a ASVG als Ersatzzeiten nicht vorsehen.
Die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde wurde vom VfGH am 23.9.2003 abgelehnt. Der VwGH wies die an ihn abgetretene Beschwerde am 22.12.2004 als unbegründet ab. Begründend führte der VwGH aus, die Bestimmungen der §§ 500?ff. ASVG zielten darauf ab, Versicherungszeiten für jene Zeiträume anzurechnen, in denen verfolgungsbedingt keine Versicherungszeiten erworben werden konnten. § 227a ASVG habe insofern eine gleichartige Ersatzfunktion, als auch nach dieser Bestimmung Zeiten als Versicherungszeiten angerechnet werden, während derer die betreffende Person (hier aus Gründen der Kindererziehung) am Erwerb von Versicherungszeiten gehindert worden sei. Soweit der Gesetzgeber das Fehlen von Versicherungszeiten aus Gründen der Verfolgung ohnehin ausgleicht, bedürfe es keines weiteren Ausgleichs für Zeiten, während derer die betreffende Person aus Gründen der Kindererziehung am Erwerb von Versicherungszeiten gehindert worden sei. An diesem Ergebnis ändere auch die in § 502 Abs. 7 ASVG vorgesehene Anrechnung von Schulzeiten im Ausland nichts, die im Ermessen des Gesetzgebers liege.
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) alleine und iVm. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), weil Kindererziehungszeiten im Ausland im Gegensatz zu solchen in Österreich nicht als Ersatzzeiten angerechnet würden.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK
Erstens bringt die Bf. vor, sie sei aufgrund ihres Wohnsitzes im Ausland diskriminiert worden. Zweitens behauptet sie, diese Unterscheidung enthalte eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, da sie vor allem Frauen betreffe. Drittens sieht sie eine Diskriminierung darin, dass für die Pensionsberechnung Zeiten der Arbeitslosigkeit unabhängig davon, ob sie in Österreich oder im Ausland verbracht wurden, als Versicherungszeiten anerkannt würden, während nur im Inland verbrachte Zeiten der Kindererziehung als Ersatzzeiten angerechnet würden.
Zulässigkeit
Die Regierung wendet ein, die Bf. habe sich vor dem VfGH und dem VwGH nur auf den Gleichheitssatz gestützt, nicht aber auf ihr Recht auf Achtung des Eigentums. Sie habe es somit verabsäumt, den innerstaatlichen Instanzenzug zu erschöpfen.
Die Bf. beschwerte sich im innerstaatlichen Verfahren über eine Diskriminierung in Hinblick auf ihre Pensionsansprüche, weil die Zeiten der Kindererziehung im Ausland nicht im gleichen Maße als Ersatzzeiten anerkannt würden wie Kindererziehungszeiten in Österreich. Nach Ansicht des GH hat sie damit ihre Beschwerde unter Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK, soweit sie die Kindererziehungszeiten im Ausland betrifft, der Sache nach vor den innerstaatlichen Behörden und Gerichten vorgebracht. Da dieser Teil der Beschwerde auch nicht offensichtlich unbegründet oder aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Die Bf. beschwerte sich hingegen im innerstaatlichen Verfahren nicht über eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder über eine Diskriminierung hinsichtlich Zeiten der Arbeitslosigkeit im Ausland. Diese in der Beschwerde an den GH erstmals vorgebrachten Beschwerdepunkte sind daher wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).
In der Sache
Es ist unbestritten, dass Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK im vorliegenden Fall anwendbar ist. Der GH erinnert daran, dass Art. 1 1. Prot. EMRK kein Recht umfasst, irgendeine Sozialleistung zu erhalten. Wenn sich aber ein Staat entschließt, ein System der sozialen Sicherheit einzurichten, muss er dies in einer Art und Weise tun, die mit Art. 14 EMRK vereinbar ist.
Eine Diskriminierung iSv. Art. 14 EMRK kann nur in einer unterschiedlichen Behandlung bestehen, die auf einer bestimmbaren Eigenschaft oder einem »Status« beruht. Um eine Frage unter Art. 14 EMRK aufzuwerfen, muss eine unterschiedliche Behandlung von Personen in ähnlichen oder vergleichbaren Situationen vorliegen.
Der GH hat bereits festgestellt, dass der Wohnort ein Aspekt des persönlichen »Status« iSv. Art. 14 EMRK ist. Die §§ 500ff. ASVG schufen ein spezielles System für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Diese Bestimmungen zielen darauf ab, von dieser Gruppe erlittene Nachteile im Sozialversicherungsrecht zu beseitigen, indem ihnen Versicherungszeiten gutgeschrieben werden. Im Allgemeinen ist in Österreich die Zugehörigkeit zum Sozialversicherungssystem mit der Erwerbstätigkeit verbunden und beruht auf der verpflichtenden Leistung von Beiträgen. Im Gegensatz dazu können Opfer nationalsozialistischer Verfolgung, die entweder keine volle Erwerbslaufbahn mit Beitragszahlungen in Österreich absolviert oder die, wie die Bf., aufgrund ihres Alters zum Zeitpunkt der Emigration gar keine Versicherungsmonate im Inland angesammelt haben, einen Anspruch auf eine Alterspension erwerben, indem sie freiwillig rückwirkend Beiträge leisten. Diese begünstigten Beiträge beliefen sich im Fall der Bf. auf rund € 25,– pro Monat.
Wie der GH feststellt, macht das spezielle System für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung Ausnahmen von den Grundprinzipien des österreichischen Sozialversicherungsrechts. In Hinblick auf insbesondere die Möglichkeit der Ansammlung von Versicherungsmonaten ohne Beschäftigung in Österreich, die Freiwilligkeit der Versicherung und die Anwendung von ermäßigten Beiträgen sind Personen wie die Bf. nach Ansicht des GH nicht in einer vergleichbaren Situation wie Personen, die reguläre Beiträge zum Pensionssystem aufgrund ihrer Beschäftigung in Österreich geleistet haben. Daher wirft die Tatsache, dass Kindererziehungszeiten im Ausland nicht als Ersatzzeiten anerkannt werden, kein Problem einer Diskriminierung auf.
Zu prüfen bleibt die Behauptung der Bf., dass Zeiten des Besuchs einer höheren Schule oder einer Universität als Ersatzzeiten anerkannt werden, wenn sie im Ausland verbracht wurden, Kindererziehungszeiten jedoch nicht.
Der GH stimmt diesem Argument nicht zu. Hier werden Personen, die in das besondere System für NS-Opfer fallen und keine Anerkennung von Kindererziehungszeiten im Ausland erlangen können, mit Personen verglichen, die ebenfalls in dieses System fallen und deren Ausbildungszeiten im Ausland anerkannt werden. Der GH sieht darin keine unterschiedliche Behandlung zwischen diesen beiden Gruppen, die – wie von Art. 14 EMRK verlangt – auf einem Aspekt des persönlichen Status beruhen würde.
Tatsächlich wurden der Bf. Ausbildungszeiten im Ausland angerechnet, während Kinderziehungszeiten im Ausland nicht anerkannt wurden. Die Bf. beschwert sich damit im Kern darüber, dass das Gesetz unterschiedliche Voraussetzungen für die Anerkennung unterschiedlicher Arten von Ersatzzeiten in Hinblick auf dieselbe Personengruppe verlangt. Dies beinhaltet kein Element einer Diskriminierung.
Zusammenfassend stellt der GH fest, dass die Situation der von dem speziellen System für NS-Opfer erfassten Bf. nicht mit jener von Personen vergleichbar ist, die reguläre Beiträge zum Pensionssystem geleistet haben. Innerhalb der von dem speziellen System erfassten Personen gibt es nach Ansicht des GH keine unterschiedliche Behandlung, die auf einem Element des persönlichen Status beruhen würde.
Es hat daher keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK stattgefunden (4:3 Stimmen; Sondervotum der Richter Popovic, Sajó und Pinto de Albuquerque).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK
Die Bf. beschwert sich auch unter Art. 1 1. Prot. EMRK alleine über die Weigerung der österreichischen Gerichtshöfe, bei der Berechnung ihrer Pension ihre im Ausland verbrachten Kindererziehungszeiten als Ersatzzeiten anzuerkennen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des GH garantiert Art. 1 1. Prot. EMRK kein Recht, Sozialleistungen oder Pensionszahlungen irgendeiner Art oder Höhe zu erhalten, solange dies nicht im innerstaatlichen Recht vorgesehen ist. Im vorliegenden Fall sieht das österreichische Recht nicht vor, dass Kindererziehungszeiten im Ausland als Ersatzzeiten angerechnet werden. Daher kann aus einer Kindererziehung im Ausland kein Anspruch auf eine höhere Pension resultieren.
Dieser Teil der Beschwerde ist daher iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK unvereinbar mit der Konvention und muss daher zurückgewiesen werden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Stec u.a./GB v. 6.7.2005 (ZE der GK) = NL 2005, 223
Carson u.a./GB v. 16.3.2010 (GK) = NL 2010, 93
Stummer/A v. 7.7.2011 (GK) = NL 2011, 215 = ÖJZ 2012, 138
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.3.2012, Bsw. 26266/05 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 75) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/12_2/Raviv.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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