Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Althoff u.a. gg. Deutschland, Urteil vom 8.12.2011, Bsw. 5631/05.
Art. 1 1. Prot. EMRK - Rückwirkende Aufhebung der Frist für die Anmeldung von Restitutionsansprüchen durch den Staat.
Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).
Keine gesonderte Behandlung der Beschwerde unter Art. 14 EMRK iVm Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).
Feststellung, dass die Frage der Entschädigung noch nicht entscheidungsreif ist und Vorbehalt der Entscheidung darüber für einen späteren Zeitpunkt (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Die vorliegende Beschwerde betrifft einen Rechtsstreit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Bf. über die Restitution von Liegenschaften.
Hintergrund des Falls vor der Wiedervereinigung
Die drei umstrittenen Grundstücke, die jeweils ca. 1.000 m2 groß sind, liegen in Babelsberg-Potsdam, im Gebiet der ehemaligen DDR. Die ursprünglichen Eigentümer, die der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörten, verkauften die Grundstücke 1938 an eine Berliner Firma. Sie kamen 1940 bzw. 1945 als Opfer der NS-Verfolgung ums Leben. Ihre Tochter, E. F., emigrierte 1939 in die USA und erlangte 1951 die US-Staatsbürgerschaft. Im Juli 1939 wurden die Liegenschaften von Herrn G. Althoff erworben, dessen Erben die nunmehrigen Bf. sind. 1953 wurden die Grundstücke enteignet und in das Volkseigentum überführt.
Frau E. F. beantragte in den USA gemäß einem US-Gesetz aus dem Jahr 1976 wegen des Verlusts der Grundstücke eine Entschädigung. Die Entschädigungskommission (Foreign Claims Settlement Commission) sprach ihr am 27.8.1980 eine Entschädigung von USD 5.500,– plus Zinsen zu.
Entwicklungen nach der Wiedervereinigung
Die Bf. beantragten am 10.10.1990 die Restitution der Grundstücke nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz – VermG).(Anm: Nach § 3 Abs. 1 VermG sind Vermögenswerte, die in der ehemaligen DDR oder während der NS-Herrschaft enteignet wurden, auf Antrag an die Berechtigten zurückzuübertragen.)
Am 13.5.1992 unterzeichneten Deutschland und die USA das Abkommen über die Regelung bestimmter Vermögensansprüche, das eine Beilegung der Entschädigungsansprüche von US-Staatsbürgern gegen die DDR vorsah. 1997 zahlte Deutschland aufgrund des Abkommens einen Abfindungsbetrag von über USD 102.000.000,– an die USA. Nach Art. 3 Abs. 9 des Abkommens gingen die Ansprüche jener US-Staatsbürger, die sich für eine Entschädigung aufgrund des Abkommens entschieden, auf die Bundesrepublik Deutschland über. Dies traf auch auf die Ansprüche an den umstrittenen Grundstücken zu, da Frau E. F. die Entschädigung akzeptiert hatte.
Mit Entscheidung vom 17.10.1997 stellte die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben gemäß dem Investitionsvorranggesetz fest, dass die Grundstücke zur Durchführung investiver Maßnahmen für einen Kaufpreis von DM 1.300.000,– verkauft worden waren. Eine Restitution war damit ausgeschlossen.(Anm: Nach § 16 Abs. 1 Investitionsvorranggesetz trat an die Stelle des Restitutionsanspruchs ein Anspruch des Berechtigten auf Zahlung eines Geldbetrages in Höhe des Kaufpreises.)
Am 20.10.1998 wurde mit dem Vermögensrechtsbereinigungsgesetz § 30a Abs. 1 VermG dahingehend rückwirkend geändert, dass die am 31.12.1992 abgelaufene Frist für die Anmeldung von Rückübertragungsansprüchen nicht für Ansprüche gelte, die aufgrund des Abkommens über die Regelung bestimmter Vermögensansprüche auf die BRD übergegangen seien.
Am 12.7.2001 lehnte das Landesamt für die Regelung offener Vermögensfragen Brandenburg den Restitutionsantrag der Bf. ab. Berechtigte im Sinne des VermG sei die BRD als Rechtsnachfolgerin von Frau E. F.(Anm: Werden von mehreren Personen Ansprüche auf Rückübertragung desselben Vermögenswertes geltend gemacht, so gilt nach § 3 Abs. 2 VermG derjenige als Berechtigter, der von der Enteignung als Erster betroffen war.) Der Erlös aus dem 1997 erfolgten Verkauf stehe daher der BRD zu. Die Bf. brachten daraufhin Klage beim Verwaltungsgericht Potsdam ein. Sie machten geltend, weder Frau E. F. noch die BRD hätten vor Ablauf der Ausschlussfrist am 31.12.1992 einen Restitutionsantrag gestellt, weshalb nur sie als Berechtigte anzusehen seien. Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab.
Die Revision der Bf. wurde vom BVerwG am 21.1.2004 zurückgewiesen. Das BVerwG stellte fest, dass weder Frau E. F. noch die BRD vor dem 31.12.1992 einen Restitutionsanspruch gestellt hatten, weshalb die Ansprüche zunächst erloschen waren. Dieses Fristversäumnis sei jedoch mit der Änderung des § 30a Abs. 1 VermG mit 20.10.1998 durch den Gesetzgeber geheilt worden, wodurch der Anspruch auf Rückübertragung der Grundstücke wieder aufgelebt sei. Rechte der Bf. würden dadurch nicht verletzt, da es sich um einen Fall unechter Rückwirkung handle, die der Klarstellung einer verworrenen Rechtslage gedient hätte, aufgrund derer sich bei den Bf. kein schutzwürdiges Vertrauen auf einen Restitutionsanspruch hätte bilden können.
Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde der Bf. am 14.8.2004 nicht zur Entscheidung an.
Das von den Bf. angestrengte Verfahren über eine Entschädigung ist noch anhängig. Es wurde bis zur Entscheidung des EGMR im vorliegenden Fall ausgesetzt.
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK
Die Bf. bringen vor, die Neuregelung von § 30a Abs. 1 VermG und seine Anwendung durch die Gerichte hätten ihr Recht auf Achtung des Eigentums verletzt.
Zur Anwendbarkeit von Art. 1 1. Prot. EMRK
Zunächst ist zu klären, ob die Bf. »Eigentum« iSv. Art. 1 1. Prot. EMRK hatten. Dieser Begriff erstreckt sich auch auf Ansprüche, in Bezug auf die zumindest eine berechtigte Erwartung besteht, in den effektiven Genuss eines Eigentumsrechts zu gelangen.
Im vorliegenden Fall muss unterschieden werden zwischen der Situation vor Ablauf der Frist zur Geltendmachung von Restitutionsansprüchen und jener danach.
Vor Ablauf der Frist am 31.12.1992 hatten die Bf. als Erben von in der DDR enteigneten Eigentümern keine berechtigte Erwartung, dass die Grundstücke an sie rückübereignet würden, da die Erben der ursprünglichen jüdischen Eigentümer – der Erstgeschädigten – ebenfalls berechtigt waren, einen Restitutionsanspruch geltend zu machen und deren Recht Vorrang hatte.
Da die BRD als Rechtsnachfolgerin der Erbin der ursprünglichen Eigentümer bis zum Ablauf der Frist keinen Restitutionsanspruch gestellt hatte, hatten die Bf., obwohl sie die Erben der in der ehemaligen DDR enteigneten Eigentümer und damit der Zweitgeschädigten waren, dennoch eine berechtigte Erwartung, einen Restitutionsanspruch durchsetzen zu können. Diese Erwartung konnte sich auch auf die Entscheidungen des BVerw G und des BVerfG stützen.
Angesichts der sehr besonderen Umstände des vorliegenden Falls hatten die Bf. daher »Eigentum« iSv. Art. 1 1. Prot. EMRK, der daher anwendbar ist.
Zur Vereinbarkeit mit Art. 1 1. Prot. EMRK
Die rückwirkende Änderung von § 30a Abs. 1 VermG, wonach die Ausschlussfrist nicht auf Ansprüche anwendbar sei, die aus dem Abkommen mit den USA resultierten, führte zum Verlust jeglichen Anspruchs der Bf. auf Restitution der Vermögenswerte oder die Zahlung des Verkaufserlöses. Diese Maßnahme begründete somit einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Eigentums.
Die umstrittene Maßnahme beruhte auf dem Vermögensrechtsbereinigungsgesetz vom 20.10.1998, dessen Zugänglichkeit, Deutlichkeit und Vorhersehbarkeit außer Zweifel stehen. Der Eigentumsentzug war somit gesetzlich vorgesehen.
Es gibt keinen Grund zu bezweifeln, dass das Ziel des Vermögensrechtsbereinigungsgesetzes, das darin bestand, die nach Ansicht des Gesetzgebers undeutliche Rechtslage zu bereinigen und die aus dem Abkommen mit den USA resultierenden Vermögensrechte des Staates zu sichern, im öffentlichen Interesse lag.
Das VermG gewährt den Erben der ursprünglichen jüdischen Eigentümer, die die Erstgeschädigten waren, einen vorrangigen Restitutionsanspruch. Die Erben von Eigentümern, deren Besitz in der früheren DDR enteignet wurde und die damit die Zweitgeschädigten sind, haben Anspruch auf eine Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Entschädigungsgesetz). Dies trifft auch auf die Bf. zu.
Die Besonderheit des vorliegenden Falls besteht darin, das der Gesetzgeber acht Jahre nach der Wiedervereinigung und sechs Jahre nach Ablauf der gesetzlichen Frist für die Anmeldung von Restitutionsansprüchen § 30a VermG rückwirkend dahingehend änderte, dass die Frist nicht auf Ansprüche der BRD anwendbar ist, die aus dem mit den USA abgeschlossenen Abkommen über die Regelung bestimmter Vermögensansprüche resultieren. Diese Änderung schuf ein Ungleichgewicht zugunsten des Staates und zum Nachteil der Bf., denen dadurch jegliche Ansprüche auf Rückübereignung der umstrittenen Vermögenswerte oder auf Zahlung des Erlöses des nach der Wiedervereinigung erfolgten Verkaufs entzogen wurden.
Zwar ist es dem Gesetzgeber in zivilrechtlichen Angelegenheiten grundsätzlich nicht verwehrt, rückwirkende Bestimmungen zu erlassen, um auf bestehenden Gesetzen beruhende Rechte zu regeln, doch verbieten der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und das Recht auf ein faires Verfahren jeden auf eine Beeinflussung des Ausgangs eines Verfahrens abzielenden Eingriff des Gesetzgebers in die Gerichtsbarkeit, der nicht auf zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses beruht.
Im vorliegenden Fall ist nach Ansicht des GH entscheidend, dass die ursprüngliche Frist des § 30a VermG auf alle Ansprüche anwendbar war, einschließlich jener, die sich aus dem Abkommen mit den USA ergaben. Das Gesetz vom 21.12.1992, mit dem das Abkommen vom Bundestag beschlossen wurde, enthielt keine besonderen Bestimmungen, die die BRD von der Anmeldung solcher Restitutionsansprüche ausgenommen hätte. Es ist überdies nicht zu leugnen, dass dem deutschen Staat die Situation bekannt war, bevor die Frist ablief, da das Abkommen mit den USA am 13.5.1992 unterzeichnet wurde. Der Staat hatte daher mehr als sieben Monate Zeit, um einen Anspruch in der vorgeschriebenen Form anzumelden.
Der GH stellt weiters fest, dass die rückwirkende Änderung der ursprünglichen Fassung von § 30a Abs. 1 VermG mehr als acht Jahre nach der Wiedervereinigung und sechs Jahre nach Ablauf der Frist erfolgte.
Auch die Entscheidung des Landesamts für die Regelung offener Vermögensfragen vom 12.7.2001 erging erst zehn Jahre und sechs Monate nach Einbringung des Antrags der Bf., was ebenfalls unangemessen erscheint.
Ein wesentlicher Faktor bei der Beurteilung der Angemessenheit ist schließlich auch die den Bf. durch die Gesetzesänderung auferlegte Bürde. Das Entschädigungsgesetz sieht die Zahlung einer Entschädigung vor. Der Betrag erscheint jedoch nicht verhältnismäßig zur Schwere des Eingriffs, der in einer rückwirkenden Gesetzesänderung zugunsten des Staates besteht. Außerdem ist nicht gewiss, ob die Bf. überhaupt eine Entschädigung erlangen werden können.
Angesichts der sehr besonderen Umstände des vorliegenden Falls und trotz des weiten Ermessensspielraums, der dem Staat im Kontext der deutschen Wiedervereinigung zukommt, gelangt der GH zu dem Schluss, dass mit der Gesetzesänderung kein fairer Ausgleich getroffen wurde, weshalb eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK stattgefunden hat (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK
Angesichts der Feststellung einer Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK erübrigt sich eine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Die Frage der Anwendung von Art. 41 EMRK ist noch nicht entscheidungsreif. Der GH behält sich daher die Entscheidung für einen späteren Zeitpunkt vor (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Jahn u.a./D v. 30.6.2005 (GK) = NL 2005, 176
Von Maltzan u.a./D v. 2.3.2005 (ZE der GK) = NL 2005, 59 = EuGRZ 2005, 305
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.12.2011, Bsw. 5631/05 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 370) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/11_6/Althoff.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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