Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Schönbrod gg. Deutschland, Urteil vom 24.11.2011, Bsw. 48038/06.
Art. 5 Abs. 1 EMRK - Sicherungsverwahrung ohne Vollstreckungsanordnung.
Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden, € 1.015,96 für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der 1933 geborene Bf. ist mehrfach vorbestraft. 1978 verurteilte ihn das Landgericht Köln wegen bewaffneten Raubes zu einer 13-jährigen Freiheitsstrafe und ordnete gleichzeitig gemäß § 66 Abs. 1 StGB seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an. Kurz bevor er diese am 26.4.1993 verbüßt hatte, wurde die Sicherungsverwahrung zur Bewährung ausgesetzt und er unter vierjähriger Führungsaufsicht aus der Haft entlassen.
1997 wurde der Bf. vom Landgericht Koblenz wegen 1995 gemeinschaftlich begangenen bewaffneten Raubes zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt.
1998 widerrief das Strafvollzugsgericht Bonn gemäß § 67g Abs. 1 Z. 1 StGB die zur Bewährung ausgesetzte Sicherungsverwahrung angesichts der 1997 erfolgten neuerlichen Verurteilung wegen schweren Raubes. Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde vom BVerfG am 25.2.1999 nicht zur Entscheidung angenommen.
Im September 2004 leitete das Landgericht Aachen ein Verfahren zur Prüfung der Frage ein, ob der Bf. nach der vollständigen Verbüßung seiner Haftstrafe im Juni 2005 in der Sicherungsverwahrung verbleiben solle.
Am 7.6.2005 hatte der Bf. seine Haftstrafe vollständig verbüßt. Mit Beschluss vom 30.3.2006 ordnete das Landgericht Aachen nach Einholung von Stellungnahmen des Gefängnisdirektors bzw. zweier Psychiater die Vollstreckung der vom Landgericht Köln 1978 angeordneten Sicherungsverwahrung an. Begründend führte es aus, die gegenständliche Maßnahme sei iSv. § 67c Abs. 1 StGB erforderlich. Der Bf. habe ungeachtet seines fortgeschrittenen Alters und einer Gehbehinderung einen Hang zur Begehung weiterer Straftaten. Er stelle daher nach wie vor eine Gefahr für die Öffentlichkeit dar.
Am 26.6.2006 wies das OLG Köln die dagegen erhobene Berufung des Bf. ab. Es widersprach der vom BVerfG in seinem Beschluss vom 25.2.1999 vertretenen Ansicht, wonach der Widerruf der Aussetzung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zum damaligen Zeitpunkt nicht länger möglich gewesen sei. Laut § 67g Abs. 5 StGB sei die Maßregel mit dem Ende der Führungsaufsicht erledigt, sofern das Gericht die Aussetzung der Unterbringung nicht widerrufe. Im gegenständlichen Fall habe die vierjährige Führungsaufsicht jedoch nicht geendet, da der Bf. seit Juni 1995 wieder in Haft gewesen und die darin verbrachte Zeit gemäß § 68c Abs. 3 2. Satz StGB in der damals geltenden Fassung nicht in die Dauer der Führungsaufsicht einzurechnen gewesen sei.
Der Bf. erhob daraufhin beim BVerfG Verfassungsbeschwerde, welches deren Behandlung jedoch wegen fehlender Aussicht auf Erfolg ablehnte. Es vertrat die Ansicht, dass auch unter der Annahme, die Gerichte hätten es gemäß § 67c Abs. 1 StGB verabsäumt, fristgerecht eine Entscheidung über die Notwendigkeit des Verbleibs in der Sicherungsverwahrung zu treffen, der Bf. in seinem Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt worden sei. Die Vollstreckung der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sei zulässig, sofern mit der Prüfung gemäß § 67c Abs. 1 StGB begonnen worden sei, bevor die betroffene Person ihre Haft vollständig verbüßt habe, möge zu diesem Zeitpunkt auch noch keine Entscheidung in der Sache erfolgt sein.
Am 20.12.2007 entschied das Landgericht Aachen, die vom Landgericht Köln angeordnete Sicherungsverwahrung gemäß § 67d Abs. 2 StGB zur Bewährung auszusetzen und den Bf. unter Führungsaufsicht zu stellen. Er wurde am 1.3.2008 aus der Haft entlassen.
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) .
Zur Zulässigkeit
Die Regierung wendet ein, der Bf. habe den innerstaatlichen Instanzenzug nicht ausgeschöpft, da er bei den Gerichten nicht um eine Unterbrechung der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung gemäß § 458 Abs. 1 und Abs. 3 StPO iVm. § 463 StPO angesucht habe.
Der Bf. hat sowohl vor dem OLG Köln als auch vor dem BVerfG Einwände gegen die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung ab dem 8.6.2005 erhoben. Beide Gerichte nahmen eine materielle Prüfung vor und befanden die Sicherungsverwahrung als mit dem grundgesetzlich garantierten Freiheitsrecht vereinbar. Dieser Teil der Beschwerde kann daher nicht wegen fehlender Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs zurückgewiesen werden.
Die Regierung wendet auch fehlende Erschöpfung des Rechtswegs angesichts des mittlerweile ergangenen Grundsatzurteils des BVerfG zur Sicherungsverwahrung ein. Demnach hätten angesichts der Verfassungswidrigkeit der Regelungen über die Sicherungsverwahrung die Vollstreckungsgerichte bei allen Betroffenen unverzüglich zu prüfen, ob die engen Voraussetzungen der Fortdauer einer Sicherungsverwahrung vorlägen.
Im vorliegenden Fall wurde der Bf. am 1.3.2008 entlassen. Der vom BVerfG nachträglich eingeführte Rechtsbehelf vermochte ihm somit keine Abhilfe für die von ihm behauptete Konventionsverletzung zu verschaffen. Der Einwand der Regierung ist insofern zurückzuweisen.
Die Regierung wendet ferner ein, der Bf. könne nicht länger behaupten, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein, da das BVerfG mit besagtem Grundsatzurteil die von ihm behaupteten Konventionsverletzungen insbesondere im Wege einer Verpflichtung des Gesetzgebers, längstens bis zum 31.5.2013 eine Reform durchzuführen, abgestellt habe.
In seinem Grundsatzurteil stützte sich das BVerfG auf die vom GH im Fall M./D und in Folgefällen vorgenommene Auslegung von Art. 5 und Art. 7 EMRK. Der GH stimmt mit der Regierung überein, dass das BVerfG mit diesem Urteil seine in den genannten Fällen getätigten Schlussfolgerungen umgesetzt hat. Es ist jedoch zweifelhaft, ob damit eine Anerkennung der hier gerügten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK beabsichtigt war. Dem Bf. wurde auch nicht Wiedergutmachung für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung für den fraglichen Zeitraum geleistet. Der Einwand bezüglich des fehlenden Opferstatus ist daher zurückzuweisen.
Die Beschwerde ist somit weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK
Der Bf. behauptet, seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sei weder von Art. 5 Abs. 1 lit. a bis lit. f EMRK gedeckt noch sei sie rechtmäßig gewesen.
Lag ein Grund für die Freiheitsentziehung vor?
Die über den Bf. verhängte Sicherungsverwahrung gründete sich auf die 1978 erfolgte »Verurteilung« iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK durch das Landgericht Köln. Zu prüfen ist, ob zwischen Verurteilung und Freiheitsentziehung ein ausreichender Kausalzusammenhang bestand.
Mit Rücksicht auf die von den Gerichten für die Anordnung bzw. Vollstreckung der Sicherungsverwahrung gegebenen Gründe stand die Entscheidung der deutschen Vollstreckungsgerichte, den Bf. nicht zu entlassen, im Einklang mit den vom Landgericht Köln verfolgten Zielsetzungen, nämlich ihn von weiteren – einschlägigen – Straftaten abzuhalten. Zwar vergingen mehr als 26 Jahre zwischen der Anordnung der Sicherungsverwahrung und ihrer Vollstreckung. Ungeachtet dessen erwies sich die Sicherungsverwahrung jedoch nicht als unangemessen, wurde der Bf. doch vom Landgericht Koblenz wiederum wegen 1995 begangenen bewaffneten Raubes schuldig gesprochen, wobei in diesem Fall eine (zweite) Anordnung der Sicherungsverwahrung nur deshalb unterblieb, da man davon ausging, er werde nach Verbüßung seiner neuen Freiheitsstrafe auf Basis des Urteils von 1978 in Sicherungsverwahrung genommen werden.
Der Bf. war zum Zeitpunkt der Anordnung der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung 72 Jahre alt und somit bereits in einem fortgeschrittenen Alter. Er litt an Knie- und Hüftbeschwerden. Es stellt sich daher die Frage, ob die Gerichte davon ausgehen konnten, er werde noch eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen.
Im vorliegenden Fall wurde diese Frage von den deutschen Gerichten sorgfältig geprüft, indem sie den Gefängnisarzt und zwei psychiatrische Experten heranzogen. Im Zuge ihrer Schlussfolgerung, der Bf. sei physisch sehr wohl in der Lage, weitere bewaffnete Raubüberfälle zu begehen, berücksichtigten sie auch, dass die von ihm zuvor begangenen Delikte keine besondere Beweglichkeit erfordert hatten. Das OLG Köln vermerkte ferner, dass der Bf. angesichts der altersbedingten Abnahme seiner körperlichen Fitness in nicht zu ferner Zukunft aus der Sicherungsverwahrung auf Bewährung entlassen werde. Tatsächlich wurde er am 1.3.2008 entlassen. Die Entscheidung, die Sicherheitsverwahrung zu vollstrecken, war somit im Verhältnis zu dem damit verfolgten Ziel nicht unangemessen.
Zwischen der 1978 erfolgten Verurteilung und der Sicherungsverwahrung bestand somit ein ausreichender Kausalzusammenhang iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK.
War die Anhaltung rechtmäßig und gesetzlich vorgeschrieben?
Der Bf. machte die Unrechtmäßigkeit der Sicherheitsverwahrung aus zweierlei Gründen vor den Gerichten geltend, nämlich zum einen wegen des 1998 erfolgten Widerrufs der Aussetzung zur Bewährung, zum anderen hinsichtlich ihrer Dauer von 8.6.2005 bis 30.3.2006.
Angesichts der Schlussfolgerungen der Gerichte, der Widerruf der Aussetzung der Sicherungsverwahrung sei mit den §§ 67g Abs. 5 und 68c Abs. 3 StGB in Einklang gestanden, und mit Rücksicht auf den präzisen und vorhersehbaren Wortlaut dieser Bestimmungen gibt sich der GH damit zufrieden, dass der gegenständliche Widerruf mit dem innerstaatlichen Recht vereinbar war.
Die über den Bf. verhängte Sicherungsverwahrung war auch insofern rechtmäßig, als sie sich auf eine vorhersehbare Anwendung der §§ 66 Abs. 1 und 67c StGB stützte. Zwar änderte das BVerfG seine bislang zur Sicherungsverwahrung ergangene Rechtsprechung in seinem Grundsatzurteil vom 4.5.2011, indem es § 66 StGB in der ab 27.12.2003 geltenden Fassung als mit dem grundgesetzlichen Freiheitsrecht unvereinbar einstufte. Die hier in Frage stehende angeordnete und vollstreckte Sicherungsverwahrung basierte jedoch auf einer früheren Version des § 66 StGB. Abgesehen davon wurde § 66 StGB in der ab 27.12.2003 geltenden Fassung nicht rückwirkend für ungültig erklärt, sondern stellte eine gültige rechtliche Basis für die Zeit vor dem Grundsatzurteil dar.
Im vorliegenden Fall hatte das Landgericht Aachen am 8.6.2005, also zu einem Zeitpunkt, zu dem sich der Bf. nach voller Verbüßung seiner Freiheitsstrafe unverändert in Sicherungsverwahrung befand, die von § 67c Abs. 1 StGB geforderte Entscheidung über die Notwendigkeit der Vollstreckung der Maßnahme noch immer nicht getroffen. Sie erfolgte erst neuneinhalb Monate später. In dieser Zeit wurde der Bf. ohne die gesetzlich vorgeschriebene gerichtliche Anordnung angehalten.
Die Gerichte erachteten die Anhaltung dennoch als zulässig unter deutschem Straf- bzw. Verfassungsrecht. Sie argumentierten, es reiche bereits aus, wenn das für die Strafvollstreckung zuständige Gericht mit der Prüfung dieser Frage gemäß § 67c Abs. 1 StGB bereits vor vollständiger Verbüßung der Haftstrafe begonnen habe.
Insofern ist der GH bereit anzuerkennen, dass die Anhaltung des Bf. von 8.6.2005 bis 30.3.2006 rechtmäßig gemäß innerstaatlichem Recht blieb. Er erinnert jedoch daran, dass das nationale Recht auch eine gewisse Qualität aufweisen muss: es sollte klare und zugängliche Regelungen hinsichtlich der Voraussetzungen enthalten, unter denen eine Freiheitsentziehung zulässig ist, und insbesondere den »Vorhersehbarkeitstest« erfüllen.
Der GH findet, dass die deutsche Rechtsprechung, indem sie den Strafvollzugsgerichten im Rahmen der Entscheidung über die Fortsetzung der Sicherungsverwahrung einen bestimmten, nicht klar definierten Zeitrahmen gestattet, ein Element der Unsicherheit bei der Anwendung von § 67c Abs. 1 StGB eingeführt hat. Die einschlägige Judikatur wirft somit Fragen hinsichtlich der Vorhersehbarkeit des nationalen Rechts auf.
Der GH kann diese Frage hier aber offen lassen. Der Bf. wurde nämlich für einen beträchtlichen Zeitraum ohne die erforderliche gerichtliche Anordnung in der Sicherungsverwahrung belassen. Nichts deutet darauf hin, dass er in irgendeiner Weise zu Verzögerungen beigetragen hat. Vielmehr ist es so, dass für diese ausschließlich das Landgericht Aachen und die Staatsanwaltschaft verantwortlich sind. Der Fall war auch nicht komplex.
Angesichts dieser Umstände sowie der vom GH festgelegten strikten Standards, was das Erfordernis der raschen Erneuerung von abgelaufenen Haftbefehlen anbelangt, muss die Anhaltung vom 8.6.2005 bis zum 30.3.2006 als willkürlich und unrechtmäßig betrachtet werden. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Angesichts der Feststellung einer Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK wird von einer Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK abgesehen.
Zu den anderen gerügten Konventionsverletzungen
Der Bf. behauptet, die angefochtene Sicherungsverwahrung habe auch die Art. 1, 3, 6 und 7 EMRK verletzt.
Diese Beschwerdepunkte lassen keinen Anschein einer Verletzung von Konventionsrechten erkennen. Sie sind daher als offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK zurückzuweisen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 5.000,– für immateriellen Schaden, € 1.015,96 für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Mooren/D v. 9.7.2009 (GK) = NL 2009, 205 = EuGRZ 2009, 566
M./D v. 17.12.2009 = NL 2009, 371 = EuGRZ 2010, 25
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 24.11.2011, Bsw. 48038/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 363) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/11_6/Schoenbrod.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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