Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Haidn gegen Deutschland, Urteil vom 13.1.2011, Bsw. 6587/04.Art. 3, 5 Abs. 1 EMRK - Nachträgliche Unterbringung zu Präventivzwecken.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der 1934 geborene Bf. befindet sich derzeit in einem psychiatrischen Krankenhaus in Bayreuth. Am 16.3.1999 wurde er vom Landgericht Passau wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Laut einer psychiatrischen Expertise litt der Bf. an einer angeborenen Persönlichkeitsstörung, durch die seine Fähigkeit, das Unrecht seiner Tat einzusehen, eingeschränkt war.
Am 10.4.2002 – drei Tage vor Verbüßung der Haft – ordnete die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bayreuth die Unterbringung des Bf. in einem Gefängnis auf unbestimmte Zeit gemäß dem am 1.1.2002 in Kraft getretenen Bayerischen Gesetz zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern (im Folgenden: BayStrUBG) an. Beim Bf. seien die Voraussetzungen für eine Unterbringung im Gefängnis iSv. § 1 BayStrUBG erfüllt, da er eine Strafe verbüßt habe, bei der Sicherungsverwahrung iSv. § 66 Abs. 3 StGB in Frage komme. Sie schließe sich außerdem der Meinung eines von ihr herangezogenen Psychiaters bzw. Psychologen an, wonach nach der Verurteilung des Bf. neue Tatsachen ans Licht gelangt wären, die den Schluss nahe legten, er stelle gegenwärtig eine ernste Gefahr für Leib und Leben bzw. die sexuelle Selbstbestimmung anderer dar. Zudem habe er sich während der Haft einer Therapie widersetzt. Aufgrund seines fortschreitenden Persönlichkeitsabbaus sei er nicht in der Lage, sein abweichendes sexuelles Verhalten sowie Grenzen zu erkennen. Das OLG Bamberg bestätigte diese Entscheidung.
Dagegen erhob der Bf. Beschwerde beim BVerfG, das dieser am 10.2.2004 teilweise stattgab. Es befand, dass das BayStrUBG verfassungswidrig sei, da die Länder keine Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Straftäterunterbringung hätten. Das überragende Interesse der Allgemeinheit an einem effektiven Schutz vor hochgefährlichen Straftätern könne jedoch in Ausnahmefällen das Freiheitsinteresse des von der Fortgeltung der Regelung Betroffenen überwiegen. Im Falle der Nichtigerklärung des Gesetzes wäre die Entlassung aller auf Grundlage des BayStrUBG Untergebrachten unvermeidlich. Damit müsse eine Person in die Freiheit entlassen werden, von der eine erhebliche Gefahr für die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung anderer ausgehe. Das BayStrUBG sei daher bis 30.9.2004 weiter anzuwenden, um dem Bundesgesetzgeber Gelegenheit zum Erlass einer gesetzlichen Regelung zu geben.
In der Zwischenzeit hatte das Landgericht Bayreuth die Unterbringung des Bf. im Gefängnis mit Beschluss vom 16.12.2003 für ein Jahr zur Bewährung ausgesetzt und diesen angewiesen, in der psychiatrischen Abteilung eines Seniorenheims Wohnung zu nehmen. Im März 2004 wurde die Anordnung jedoch widerrufen, da es seitens des Bf. zu sexuellen Übergriffen gekommen war. Am 28.7.2004 wurde er vom Gefängnis in ein psychiatrisches Krankenhaus überstellt.
Im Juni 2005 ordnete das Landgericht Passau gemäß § 66b StGB (Anm.: Diese Bestimmung wurde mit dem »Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung« eingeführt. Sie trat am 29.7.2004 in Kraft.) die nachträgliche Unterbringung des Bf. in Sicherungsverwahrung an. Der Beschluss wurde vom BGH aufgehoben und der Fall zur neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen. Das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt, nachdem das Landgericht Hof am 14.6.2007 unter Berufung auf § 63 StGB die Unterbringung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen (§ 179 StGB) angeordnet hatte.
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit).
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK
Der Bf. beklagt sich über seine nach vollständiger Verbüßung seiner Freiheitsstrafe erfolgte Unterbringung im Gefängnis zu Präventionszwecken auf Grundlage des später für verfassungswidrig erklärten BayStrUBG.
1. Zur Zulässigkeit
Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet nach Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
2. In der Sache
Laut der Regierung sei die nachträgliche Unterbringung des Bf. im Gefängnis zu Präventivzwecken als rechtmäßiger Freiheitsentzug nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK zu werten.
Der GH hat bereits im Fall M./D klargestellt, dass nur die Verurteilung wegen einer Straftat durch ein Strafgericht als »Verurteilung« im Sinne des oben genannten Artikels zu werten ist. Die Entscheidung eines Strafvollzugsgerichts, eine Person weiter in Haft zu behalten, genügt den Anforderungen an eine »Verurteilung« nicht, da sie keine neue Feststellung, die betreffende Person sei einer Straftat schuldig, beinhaltet. Im vorliegenden Fall kann folglich nur das Urteil des Landgerichts Passau vom 16.3.1999 als »Verurteilung« gelten. Die Präventivhaft des Bf. nach Verbüßung der Haft mit Ablauf des 13.4.2002 wäre nur dann unter Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK gerechtfertigt gewesen, wenn sie unmittelbar nach seiner Verurteilung erfolgt wäre, also mit anderen Worten ein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung und dem Freiheitsentzug bestanden hätte. Vom Landgericht Passau war aber die Anhaltung des Bf. zu Präventivzwecken – zusätzlich zu der verhängten Haftstrafe – nicht angeordnet worden. Das besagte Gericht wäre zu einer solchen Maßnahme auch nicht befugt gewesen, da die rechtlichen Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StGB im speziellen Fall des Bf. nicht vorgelegen wären. Da somit eine präventive Anhaltung des Bf. auf Basis des BayStrUBG nicht vorgesehen bzw. für das Strafgericht Passau nach der damaligen Rechtslage nicht möglich war, kann nicht einfach gesagt werden, sie habe sich aus der strafrechtlichen Verurteilung ergeben, weil die von der Strafvollstreckungskammer getroffene Anordnung der Präventivhaft sich auf die Verurteilung bezog und noch während der Verbüßung der Freiheitsstrafe erfolgte. Es bestand somit kein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Bf. und seiner nachträglich angeordneten Unterbringung im Gefängnis zu Präventionszwecken. Die Anhaltung war daher nicht unter Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK gerechtfertigt.
Im Folgenden ist zu prüfen, ob die Anhaltung des Bf. aus einem anderen der in Art. 5 Abs. 1 EMRK aufgelisteten Haftgründe gerechtfertigt war. So bringt etwa die Regierung vor, die Unterbringung wäre unter Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK notwendig gewesen, um den Bf. an der Begehung einer Straftat zu hindern.
Die Unterbringung auf unbestimmte Zeit, die von den Strafvollzugsgerichten damit gerechtfertigt wurde, es bestehe ein Risiko, dass der Bf. weitere Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung anderer begehen werde, war jedoch nicht von dieser Bestimmung gedeckt, richtete sich doch die Anhaltung des Bf. zu Präventivzwecken nicht darauf, ihn gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK unverzüglich einem Richter vorzuführen und ihn innerhalb angemessener Frist (wegen eines potentiellen Strafdelikts) abzuurteilen. Es handelte sich daher auch nicht um Untersuchungshaft iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK.
Darüber hinaus war die Begehung potentieller Straftaten im Falle einer Freilassung nicht ausreichend konkret und spezifisch, um den Anforderungen der einschlägigen Rechtsprechung des GH zu genügen, insbesondere was Ort und Zeit der Tatbegehung bzw. die Situation der Opfer angeht. Die Anhaltung des Bf. konnte somit nicht unter Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK gerechtfertigt werden.
War die Anhaltung von Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK (rechtmäßiger Freiheitsentzug bei psychisch kranken Personen) gedeckt? Laut dem Fallrecht des GH ist Voraussetzung dafür, dass anhand einer objektiven medizinischen Expertise gerichtlicherseits festgestellt wurde, dass ein Bf. einwandfrei als geisteskrank einzustufen ist. Die Strafvollstreckungskammer stützte ihre Entscheidung auf zwei Experten, welche beim Bf. eine angeborene – fortschreitende – Persönlichkeitsstörung konstatierten und bestätigten, er würde eine ernste Gefahr für die sexuelle Selbstbestimmung anderer darstellen.
Der GH zieht das Ergebnis dieser Expertisen nicht in Zweifel. Er weist allerdings darauf hin, dass das deutscheRechtssystem einen Unterschied zwischen der Anhaltung gefährlicher Straftäter in einem Gefängnis zu Präventionszwecken und einer Unterbringung psychisch Kranker in einem psychiatrischen Krankenhaus macht. Im vorliegenden Fall hatte sich jedoch das Gesundheitsamt geweigert, die Unterbringung des Bf. in einer psychiatrischen Klinik gemäß dem Bayerischen Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker und deren Betreuung beim Landgericht Bayreuth zu beantragen.
Im Übrigen ist der GH nicht überzeugt, dass beim Bf. eine Geistesstörung iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK vorlag. Er bezweifelt außerdem, dass eine solche nach deutschem Recht »von der zuständigen Behörde festgestellt« werden konnte, da die Strafvollzugsgerichte unter dem BayStrUBG nicht zu entscheiden hatten, ob der Bf. als geisteskranke Person unterzubringen sei, sondern darüber, ob er eine besondere Gefahr für die Gesellschaft, ungeachtet seines Geisteszustands, darstelle. Folglich waren auch die Sachverständigen nur zur Prüfung der Frage berechtigt, ob der Bf. eine ernste Gefahr für die sexuelle Selbstbestimmung anderer verkörpere.
Abgesehen davon wäre die Anhaltung des Bf. als geisteskranke Person nur »rechtmäßig« iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK gewesen, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung erfolgt wäre.
Im vorliegenden Fall war der Bf. allerdings bis Juli 2004 in einem Gefängnis untergebracht. Für seine Unterbringung wären demnach laut § 6 BayStrUBG die einschlägigen Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes betreffend den Vollzug der Sicherungsverwahrung anzuwenden gewesen. Wie der GH bereits im Fall M./D festgestellt hat, besteht in der Praxis kein wesentlicher Unterschied zwischem dem Vollzug einer (langjährigen) Gefängnisstrafe und der Durchführung der Sicherungsverwahrung. Es ist nach deutschem Recht nun einmal so, dass psychiatrische Kliniken als für die Unterbringung von geisteskranken Personen geeignete Anstalten angesehen werden. Folglich bestand keine ausreichende Beziehung zwischen der Anhaltung des Bf. als geisteskrankem Patienten und seiner Unterbringung im Gefängnis inklusive der dortigen Haftbedingungen.
Die Anhaltung des Bf. war daher weder nach Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK noch nach einem der übrigen in Art. 5 Abs. 1 EMRK genannten Haftgründe gerechtfertigt. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK
Der Bf. behauptet, die fortgesetzte Anhaltung zu Präventivzwecken habe angesichts der Umstände, unter denen sie angeordnet wurde, und im Hinblick auf ihre Geltung auf unbestimmte Zeit eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung iSv. Art. 3 EMRK dargestellt.
1. Zur Zulässigkeit
Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
2. In der Sache
Der Bf. war zum Zeitpunkt der Verhängung der Sicherungsverwahrung 67 Jahre alt. Er hat nicht behauptet, im Gefängnis nicht die notwendige medizinische Betreuung erhalten zu haben. Der GH hatte bereits Gelegenheit zur Feststellung, dass ein fortgeschrittenes Alter in keinem der Europaratsstaaten ein Hindernisgrund für eine Anhaltung ist. Das fortgeschrittene, aber noch nicht besonders hohe Alter des Bf. und sein Gesundheitszustand, der für eine Haft nicht als kritisch zu bewerten war, erreichten nicht das Mindestmaß an Schwere, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen.
Die Umstände, unter denen der Bf. nach vollständiger Verbüßung seiner Freiheitsstrafe weiter im Gefängnis angehalten wurde, mussten bei ihm zweifellos Gefühle der Demütigung und Unsicherheit auslösen, die das zwangsläufig mit jeder Freiheitsentziehung verbundene unvermeidliche Leid überstiegen. Angesichts der Tatsache, dass das BayStrUBG erst kurz vor der Anordnung seiner fortgesetzten Freiheitsentziehung in Kraft getreten war, konnte den Behörden jedoch nicht vorgeworfen werden, vorsätzlich darauf abgezielt zu haben, ihn zu erniedrigen, indem sie eine Sicherungsverwahrung drei Tage vor seiner vorgesehenen Freilassung anordneten.
Ferner waren die nationalen Gerichte nach § 5 BayStrUBG verpflichtet, mindestens alle zwei Jahre nachzuprüfen, ob die Unterbringung der betroffenen Person im Gefängnis noch notwendig war und – falls die Voraussetzungen dafür nicht vorlagen – die Unterbringung zur Bewährung auszusetzen. Das Landgericht Bayreuth entschied am 23.12.2003, die Unterbringung des Bf. auszusetzen, widerrief diese Anordnung jedoch, nachdem er wieder rückfällig geworden war. Dies zeigt, dass für ihn, ungeachtet der unbefristeten Dauer seiner Anhaltung, die Möglichkeit einer Freilassung bestand.
Der GH kommt somit zu dem Ergebnis, dass die Umstände der Anordnung der fortgesetzten Anhaltung des Bf. zu Präventivzwecken und deren Dauer nicht das Mindestmaß an Schwere erreichten, um eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe darzustellen. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).
III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Der Bf. stellte keinen Antrag auf gerechte Entschädigung innerhalb der dafür vorgesehenen Frist.
Vom GH zitierte Judikatur:
M./D v. 17.12.2009, NL 2009, 371; EuGRZ 2010, 25.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.1.2011, Bsw. 6587/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 15) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/11_1/Haidn.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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