Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Mooren gegen Deutschland, Urteil vom 9.7.2009, Bsw. 11364/03.
Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 4 EMRK - Anhaltung aufgrund rechtsfehlerhaften Haftbefehls.
Zurückweisung der Verfahrenseinrede der Regierung (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (9:8 Stimmen).
Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK hinsichtlich des Fehlens einer raschen Haftkontrolle (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK hinsichtlich der Verweigerung der Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 3.000,– für immateriellen Schaden, € 5.650,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. wurde am 25.7.2002 festgenommen. Noch am selben Tag erließ das Amtsgericht Mönchengladbach einen Haftbefehl wegen des Verdachts zwischen 1996 und Juni 2002 begangener Steuerhinterziehung und verhängte die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Verdunkelungsgefahr über ihn.
Am 7.8.2002 stellte der Bf. einen Antrag auf Haftprüfung, während sein Anwalt Einsicht in die Ermittlungsakten begehrte. Die zuständige Staatsanwaltschaft verweigerte jedoch eine Akteneinsicht wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks. Das Angebot, sich mündlich vom Staatsanwalt über die vorliegenden Fakten und Beweise unterrichten zu lassen, schlug der Rechtsvertreter des Bf. aus. Mit Beschluss vom 16.8.2002 wurde die Untersuchungshaft wegen des unveränderten Bestehens von Verdunkelungsgefahr aufrechterhalten. Eine dagegen erhobene Haftbeschwerde wurde vom Landgericht Mönchengladbach am 9.9.2002 abgewiesen. Die vom Verteidiger beantragte Akteneinsicht lehnte es mit dem Hinweis auf den Stand der Ermittlungen ab.
Aufgrund einer weiteren Beschwerde des Bf. behob das OLG Düsseldorf am 14.10.2002 die Entscheidungen der Unterinstanzen vom 16.8.2002 bzw. 9.9.2002 und verwies die Sache zur neuerlichen Entscheidung an das Amtsgericht zurück. Begründend führte es aus, der Haftbefehl vom 25.7.2002 habe nicht den Voraussetzungen des § 114 Abs. 2 Z. 4 StPO entsprochen, wonach die Tatsachen und Beweise, auf denen sich der Verdacht und die Verhängung der Untersuchungshaft gründe, ausreichend detailliert wiedergegeben werden müssten, um dem Bf. eine wirksame Verteidigung zu ermöglichen. Das Amtsgericht habe jedoch lediglich pauschal auf die Ergebnisse einer bei ihm durchgeführten Hausdurchsuchung verwiesen. Dieser Mangel sei auch in den nachfolgenden Entscheidungen betreffend die Fortsetzung der Untersuchungshaft nicht geheilt worden. Da seinem Verteidiger die Akteneinsicht verweigert wurde, würden diese Mängel eine Verletzung des Rechts des Angeklagten auf rechtliches Gehör nach sich ziehen. Das OLG erachtete den Haftbefehl für rechtsfehlerhaft, jedoch nicht für unwirksam. Da es somit keinen Grund zu einer Aufhebung fand, verblieb der Bf. in Untersuchungshaft.
Am 29.10.2002 erließ das Amtsgericht Mönchengladbach einen neuen Haftbefehl, in dem die vom Bf. abzuführenden Steuern detailliert aufgelistet wurden. Dem Verteidiger des Bf. wurde eine von der Finanzstrafbehörde erstellte vierseitige Aufstellung des Einkommens seines Mandanten und der abzuführenden Steuern ausgehändigt. Akteneinsicht wurde ihm hingegen nicht gewährt.
Am 7.11.2002 wurde der Bf. nach Hinterlegung einer Kaution aus der Haft entlassen. Elf Tage später wurde seinem Verteidiger Akteneinsicht gewährt.
Am 22.11.2002 lehnte das BVerfG die Behandlung einer vom Bf. gegen die einschlägigen Entscheidungen des Amtsgerichts Mönchengladbach bzw. des OLG Düsseldorf eingebrachte Beschwerde ab, in der er unter anderem eine Verletzung seines Rechts auf persönliche Freiheit geltend gemacht hatte.
Am 9.3.2005 wurde der Bf. wegen Steuerhinterziehung in acht Fällen zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt.
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) und von Art. 5 Abs. 4 EMRK (Recht auf gerichtliche Haftkontrolle).
Zur Einrede der Regierung:
Laut der Regierung habe es der Bf. verabsäumt, den innerstaatlichen Instanzenzug zu erschöpfen, da er bei den Zivilgerichten keine auf Art. 5 Abs. 5 EMRK gestützte Klage auf Entschädigung wegen Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Abs. 4 EMRK eingebracht habe.
Die Regierung hat diesen Einwand in ihren Ausführungen zur Zulässigkeit der Beschwerde nicht geltend gemacht. Der GH sieht keine außergewöhnlichen Umstände, welche die Regierung von ihrer Verpflichtung entbunden hätten, ihren Einwand bereits vor der V. Kammer zu erheben. In Bezug auf diesen ist somit Verschweigung eingetreten (einstimmig).
Zur Zurückverweisung des Verfahrens:
Der Bf. bringt vor, das OLG habe es verabsäumt, den ersten Haftbefehl vom 25.7.2002 aufzuheben, obwohl es diesen als rechtsfehlerhaft erachtete, und seine Entlassung zu veranlassen. Die Zurückverweisung an das Amtsgericht habe die Behandlung seiner Haftbeschwerde unnötig verzögert.
1. Zur Rechtmäßigkeit der Anhaltung:
Die V. Kammer vertrat die Ansicht, die über den Bf. verhängte Untersuchungshaft falle unter Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK, da sie dazu diente, den Bf. vor das zuständige Gericht zu bringen. Die Große Kammer schließt sich dem an.
Es ist zu prüfen, ob die Anhaltung rechtmäßig war und ob sie auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise erfolgte.
Im vorliegenden Fall sah das OLG die wesentlichen Voraussetzungen für eine fortgesetzte Anhaltung als erfüllt an und vertrat ferner die Ansicht, der Haftbefehl habe den formalen Anforderungen des § 114 Abs. 2 Z. 4 StPO nicht genügt, was zu seiner Einstufung als rechtsfehlerhaft, mangels Erheblichkeit des Mangels jedoch nicht zu seiner Unwirksamkeit führe. Der GH erinnert daran, dass das Amtsgericht zur Ausstellung des Haftbefehls befugt war und den Bf. zuvor angehört hat. Ferner kamen die Gerichte während des gesamten Haftprüfungsverfahrens überein, die Voraussetzungen für eine Anhaltung – dringender Tatverdacht und Verdunkelungsgefahr – seien unverändert gegeben. Zwar wäre es wünschenswert gewesen, wenn sich der Haftbefehl auf detailliertere Fakten gestützt hätte. Das Amtsgericht verabsäumte es jedoch nicht, die gegen den Bf. erhobenen Anschuldigungen zu konkretisieren, indem es etwa die Namen der Firmen auflistete, die ihm Provisionen gezahlt hatten, die er den Finanzbehörden nicht gemeldet hatte. Darüber hinaus war offensichtlich, dass der Verdacht auf in seinem Haus beschlagnahmten Geschäftsunterlagen beruhte. Unter diesen Umständen kann sich der Bf. – ungeachtet der Tatsache, dass sein Anwalt keinen Zugang zu den Akten hatte – nicht darüber beschweren, er sei über die Verdachtsgründe nicht informiert worden oder habe um diese nicht gewusst.
Der GH hält somit fest, dass der Haftbefehl vom 25.7.2002 nicht an einem schwerwiegenden und offensichtlichen Mangel litt, der im Sinne seiner Rechtsprechung automatisch seine Unwirksamkeit zur Folge gehabt hätte.
Im Folgenden ist zu fragen, ob das anzuwendende innerstaatliche Recht dem Prinzip der Rechtssicherheit genügte.
Laut dem Bf. finde die Unterscheidung der Gerichte zwischen rechtsfehlerhaften und unwirksamen Haftbefehlen keine Grundlage in den Bestimmungen der StPO. Ferner widerspreche die Weigerung des OLG, eine Entscheidung in der Sache zu treffen, dem klaren Wortlaut von § 309 Abs. 2 StPO, demzufolge das Beschwerdegericht, falls es die Beschwerde für begründet erachtet, zugleich die in der Sache erforderliche Entscheidung erlässt.
Was die Frage angeht, ob der Bf. hätte voraussehen müssen, dass die Gerichte den Haftbefehl lediglich als rechtsfehlerhaft ansehen würden, sodass dieser bis zu seiner Aufhebung eine rechtsgültige Grundlage für die Anhaltung darstellen würde, ist festzustellen, dass die vom deutschen Recht getroffene Unterscheidung zwischen rechtsfehlerhaften und unwirksamen Haftbefehlen in der deutschen Rechtsprechung anerkannt ist. Haftbefehle, welche nicht ausreichend detailliert die Gründe für einen dringenden Tatverdacht bzw. für die Verhängung der Untersuchungshaft darlegen, sind von den Gerichten wiederholt als rechtsfehlerhaft, nicht jedoch als unwirksam angesehen worden. Der Bf. hätte daher, allenfalls mit Unterstützung seines Anwalts, die Entscheidung des OLG vorhersehen müssen.
Zur Entscheidung des OLG, den Fall sodann an das Amtsgericht zurückzuverweisen, stimmt der GH mit dem Bf. überein, dass diese Vorgangsweise dem Wortlaut von § 309 Abs. 2 StPO widersprach. Die Rechtsmittelgerichte haben jedoch in ihrer Rechtsprechung Ausnahmen von dieser Regel zugelassen. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen die Tatsachen, auf die sich der Tatverdacht gründete, im Haftbefehl detaillierter hätten ausgeführt werden sollen und in denen die Staatsanwaltschaft einen Zugang zu den Akten verweigerte, entschieden sie ausnahmsweise, dass es legitim sei und den besten Interessen der Justiz diene, die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen, anstatt selbst eine Entscheidung in der Sache zu treffen.
Der GH ist der Ansicht, dass das Prinzip der Rechtssicherheit gefährdet ist, wenn nationale Gerichte in ihrer Rechtsprechung Ausnahmen zulassen, die dem Wortlaut der anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen zuwiderlaufen. Im vorliegenden Fall bezog sich das OLG allerdings explizit auf frühere Entscheidungen anderer Rechtsmittelgerichte, die vergleichbare Fälle betroffen hatten. Unter diesen Umständen ist der GH der Ansicht, dass die Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht und die fortgesetzte Anhaltung für den Bf. ausreichend vorhersehbar waren. Die anzuwendenden Bestimmungen des nationalen Rechts entsprachen somit in ihrer Auslegung durch die Gerichte dem Prinzip der Rechtssicherheit.
Schließlich ist zu prüfen, ob die Anhaltung des Bf. ungeachtet ihrer Vereinbarkeit mit nationalem Recht willkürlich war. Der GH hat bereits festgestellt, dass die Gerichte die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen im Einklang mit ihrer ständigen Rechtsprechung angewendet haben. Auch wenn im Haftbefehl die der Anhaltung zugrunde liegenden Fakten näher hätten beschrieben werden sollen, wurde darin – unter Bezugnahme auf die relevanten Rechtsgrundlagen – das Delikt, dessen Begehung der Bf. verdächtigt wurde, einschließlich der Zeit und des Orts der Tatbegehung sowie der Haftgründe angeführt. Ferner stand zweifelsfrei fest, dass der gegen den Bf. gerichtete Verdacht auf Dokumenten basierte, die in seinem Haus beschlagnahmt worden waren, sodass er über die vom Gericht erhobenen Beweise nicht völlig im Unklaren blieb. Das Amtsgericht lieferte somit Gründe, die über eine bloß skizzenhafte Begründung der Anhaltung hinausgingen.
Der GH hat bereits in früheren Fällen anerkannt, dass die Geschwindigkeit, mit denen die Gerichte einen zeitlich abgelaufenen oder rechtsfehlerhaften Haftbefehl ersetzen, ein weiterer relevanter Faktor bei der Beurteilung der Frage ist, ob die Anhaltung einer Person als willkürlich angesehen werden muss.
Im vorliegenden Fall verblieb der Bf. im Anschluss an die Entscheidung des OLG vom 14.10.2002 bis zur Ausstellung eines neuen Haftbefehls am 29.10.2002 auf Basis des ursprünglichen – vom OLG als rechtsfehlerhaft eingeschätzten – Haftbefehls unverändert in Haft. Für einen Zeitraum von 15 Tagen waren ihm daher die Tatsachen, auf die sich der dringende Tatverdacht und die Untersuchungshaft gründeten, nur teilweise bekannt.
Ungeachtet dessen stellt die Zurückverweisung einer Sache an die untere Instanz eine anerkannte Vorgangsweise zwecks Tatsachenerhebung und Beweiswürdigung dar, die als solche nicht als willkürlich angesehen werden kann. Unter Umständen wie den vorliegenden dürften die Vorteile einer Zurückverweisung an die erste Instanz das durch die Verzögerung verursachte Ungemach ausgeglichen und sogar dazu beigetragen haben, unnötige Verzögerungen hintanzuhalten. So kann eine Zurückverweisung der Sache dazu dienen, Mängel der ursprünglichen Entscheidung zu beseitigen – mit dem Vorteil, dass die Unterinstanz in voller Kenntnis des Akts, der persönlichen Situation des Verdächtigen und des aktuellen Stands der Ermittlungen ist. Im gegenständlichen Fall hat sich das OLG nicht bloß darauf beschränkt, die Entscheidung des Amtsgerichts aufzuheben, sondern diesem auch Anweisungen gegeben, wie es Rechtsfehler in Zukunft vermeiden könne. Auf lange Sicht diente diese Vorgangsweise dem besseren Funktionieren der Justiz. Ferner war es notwendig, einen Gerichtstermin unter Beisein des Bf. (vertreten durch seinen Verteidiger) und eines Vertreters der Staatsanwaltschaft bzw. des Finanzamts anzusetzen, um dem Bf. die Möglichkeit zu geben, zumindest mündlich über die Beweislage informiert zu werden und sich dazu zu äußern. Dies erforderte praktische Vorkehrungen.
Unter diesen Umständen konnte die Zurückverweisung der Sache tatsächlich helfen, Verzögerungen hintanzuhalten, weil – von einem verfahrenstechnischen Standpunkt aus gesehen – der Fall schneller abgewickelt werden konnte, wenn das Amtsgericht die Frage zu beurteilen hatte, ob ein neuer Haftbefehl erlassen werden solle, anstatt die Beurteilung dieser Frage dem OLG zu überlassen. Darüber hinaus war die neue Entscheidung des Amtsgerichts zeitlichen Zwängen unterworfen, da sie innerhalb kurzer Frist erlassen werden und nach der Zurückverweisung ein neuer Gerichtstermin für die Parteien anberaumt werden musste. Die Anhaltung des Bf. wurde daher auch nicht durch die zwischen der Entscheidung des OLG und der Ausstellung eines neuerlichen Haftbefehls verstrichene Zeit willkürlich. Die Haft war somit rechtmäßig und erfolgte auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise. Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (9:8 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richterinnen und Richter Rozakis, Tulkens, Casadevall, Gyulumyan, Hajiyev, Spielmann, Berro-Lefèvre und Bianku).
2. Zum Fehlen einer raschen Haftkontrolle:
Die Große Kammer schließt sich der Ansicht der V. Kammer an, wonach das OLG keine rasche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft fällte. Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).
Zur Verweigerung der Akteneinsicht:
Der Bf. bringt vor, seinem Verteidiger sei die Akteneinsicht verwehrt worden, was eine wirksame Verteidigung unmöglich gemacht habe.
1. Zur Einrede der Regierung:
Die Regierung wendet ein, der Bf. habe keinen separaten Antrag auf gerichtliche Überprüfung der Entscheidung der Staatsanwaltschaft gestellt, seinem Verteidiger die Akteneinsicht gemäß § 147 Abs. 5 StPO zu verweigern.
Der Bf. beantragte eine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Haftbefehls unter anderem mit der Begründung, seinem Verteidiger sei der Zugang zu den Akten verwehrt worden. Im Zuge des daraufhin eingeleiteten Verfahrens kam das Landgericht Mönchengladbach, dem die alleinige Zuständigkeit zur Entscheidung über separate Anträge nach § 147 Abs. 5 StPO zukam, ausdrücklich auf den Antrag des Verteidigers auf Zugang zu den Akten zu sprechen und entschied, er möge mündlich über den Akteninhalt informiert werden. Das BVerfG, das zur Überprüfung der Entscheidung des Landgerichts befugt gewesen wäre, lehnte eine Behandlung der Beschwerde des Bf. hinsichtlich des Haftbefehls ab, in der auch die Verweigerung der Akteneinsicht angesprochen wurde.
Unter diesen Umständen kann der GH die Frage offen lassen, ob ein separater Antrag unter § 147 Abs. 5 StPO generell als wirksamer Rechtsbehelf angesehen werden kann, der in Fällen Abhilfe verschafft, in denen ein Untersuchungshäftling in erster Linie die Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung bestreitet. Angesichts der Tatsache, dass sich das Landgericht mit dem Antrag auf Zugang zu den Akten ausdrücklich befasste, ihn abwies und diese Entscheidung vom BVerfG nicht umgestoßen wurde, wäre jeder weitere – separat eingebrachte – Antrag unter § 147 Abs. 5 StPO zum Scheitern verurteilt gewesen. Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen (einstimmig).
2. In der Sache selbst:
Die V. Kammer kam zu dem Ergebnis, dass der Bf. keine angemessene Gelegenheit hatte, die Feststellungen anzufechten, auf die sich die Staatsanwaltschaft und die Gerichte im Zuge der Anordnung der Haft gestützt hatten. Seinem Verteidiger sei kein Zugang zu jenen Teilen des Gerichtsakts gewährt worden, auf welche sich der Tatverdacht gegen seinen Mandanten gründete. Es sei nicht ausreichend gewesen, dem Rechtsvertreter des Bf. lediglich eine vierseitige Aufstellung über das Ausmaß der hinterzogenen Steuern auszuhändigen und ihm vorzuschlagen, er könne mündlich über den Akteninhalt informiert werden. Der Umstand, dass das OLG nachfolgend eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Bf. wegen Verweigerung des Zugangs zu den Akten anerkannte und seinem Rechtsvertreter schließlich Akteneinsicht gewährt wurde, vermöge die in einem früheren Verfahrensstadium aufgetretenen Mängel nicht in effektiver Weise zu beheben. Das Verfahren zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft habe daher den Anforderungen von Art. 5 Abs. 4 EMRK nicht entsprochen.
Die Große Kammer schließt sich den Schlussfolgerungen der V. Kammer an. Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
€ 3.000,– für immateriellen Schaden, € 5.650,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Nikolova/BG v. 25.3.1999 (GK), NL 1999, 62; EuGRZ 1999, 320; ÖJZ 1999, 812.
Baranowski/PL v. 28.3.2000.
Minjat/CH v. 28.10.2003.
Anm.: Die V. Kammer hatte in ihrem Urteil vom 13.12.2007 (NL 2007, 324) keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Haft (5:2 Stimmen), eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK aufgrund des Fehlens einer raschen richterlichen Haftkontrolle (einstimmig) und eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK wegen Verletzung der Waffengleichheit im Haftprüfungsverfahren festgestellt (einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 9.7.2009, Bsw. 11364/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 205) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/09_4/Mooren.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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