Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Magnus Gäfgen gegen Deutschland, Zulässigkeitsentscheidung vom 10.4.2007, Bsw. 22978/05.
Art. 3 EMRK, Art. 6 EMRK - Androhung der Zufügung von Schmerzen zwecks Ermittlung des Aufenthaltsorts eines Entführungsopfers. Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der Behauptung einer Verletzung von Art. 6 EMRK durch die Verweigerung anwaltlichen Beistandes (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK (einstimmig). Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der Behauptung einer Verletzung von Art. 6 EMRK durch die Verwertung eines erzwungenen Geständnisses (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe in der Justizanstalt
Schwalmstadt.
Am 27.9.2002 lockte er J., den elfjährigen Sohn eines prominenten Bankiers in Frankfurt am Main, in seine Wohnung, wo er ihn erdrosselte. Der Bf. deponierte sodann einen Brief mit einer Lösegeldforderung bei dessen Eltern. Den Leichnam versenkte er in einem Teich in der Nähe von Birstein bei Frankfurt. Bei der Abholung des Lösegelds am 30.9.2002 wurde der Bf. von der Polizei beobachtet und noch am selben Tag verhaftet. Man brachte ihn in das Polizeipräsidium, wo er über den Verdacht informiert wurde, J. entführt zu haben. Nachdem sich der Bf. mit seinem Anwalt besprochen hatte, erklärte er, dass der Knabe von zwei Männern entführt und in einer Hütte an einem See versteckt worden sei. Er vereinbarte mit Kriminalinspektor M., das Gespräch am nächsten Tag wiederaufzunehmen. Am frühen Morgen des 1.10.2002, als M. noch nicht zum Dienst erschienen war, drohte Kriminalinspektor E., der im Auftrag des Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei handelte, dem Bf. beträchtliche Schmerzen an, sollte er nicht den Aufenthaltsort von J. verraten. Aus Angst vor der Zufügung von Schmerzen und ohne Beisein seines Anwalts gab der Bf. schließlich den Aufenthaltsort von J. bekannt. Er führte die Polizei zu der Leiche und legte ein Geständnis ab. Noch am selben Tag fertigte der Vizepräsident der Frankfurter Polizei einen Aktenvermerk an, wonach er gehofft habe, mit seiner Handlungsweise das Leben des Kindes retten zu können. In der Folge wurde gegen den Bf. ein Strafverfahren vor dem Landgericht Frankfurt am Main eingeleitet. Zu Beginn der Hauptverhandlung stellte er einen Antrag auf Einstellung des Strafverfahrens, da seine Vernehmung in Verletzung des § 136a StPO (unzulässige Vernehmungsmethoden) bzw. des Art. 3 EMRK erfolgt sei.
Das Gericht wies den Antrag ab: Zwar sei die polizeiliche Androhung von Schmerzen als Verstoß gegen § 136a StPO, Art. 1 Abs. 1 iVm. Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 3 EMRK zu werten. Von einem Verfahrenshindernis könne jedoch nicht die Rede sein, da gemäß § 136a Abs. 3 StPO Aussagen, die unter Verletzung des Vernehmungsverbots zu Stande gekommen seien, nicht verwertet werden dürften. Die Verteidigungsrechte seien daher nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt gewesen, dass das Strafverfahren nicht mehr fortgesetzt werden könne.
In einem separaten Beschluss vom 9.4.2003 stellte das Landgericht Frankfurt am Main in Stattgebung eines entsprechenden Antrags des Bf. fest, dass dessen frühere Aussagen wegen des Einsatzes einer verbotenen Vernehmungsmethode iSd. § 136a Abs. 3 Satz 2 einem Beweisverwertungsverbot unterlägen. Hingegen wies es einen Antrag des Bf. auf Nichtzulassung all jener Beweismittel, die aufgrund seiner erzwungenen Aussage erlangt worden wären, mit der Begründung ab, dass deren Verwendung mit Rücksicht auf die Schwere des Tatvorwurfs verhältnismäßig sei.
Am 28.7.2003 verurteilte das Landgericht Frankfurt am Main den Bf. wegen Mordes in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Es stellte fest, dass der Bf. in der Hauptverhandlung ungeachtet der Erteilung einer qualifizierten Belehrung über sein Recht zu schweigen bzw. die Unzulässigkeit der Verwertung seiner früheren Aussagen ein neuerliches Geständnis abgelegt habe, worauf sich seine Verurteilung nun im Wesentlichen stütze.
Die vom Bf. gegen das Urteil eingelegte Revision wurde vom BGH verworfen. Er wandte sich darauf mit einer Verfassungsbeschwerde an das BVerfG und brachte vor, die anlässlich seiner Vernehmung erfolgten Grundrechtseingriffe hätten für das Strafverfahren sowohl ein Verfahrenshindernis als auch eine „Fernwirkung" des Beweisverwertungsverbots ergeben.
Mit Beschluss vom 14.12.2004 nahm das BVerfG die Verfassungsbeschwerde wegen fehlender Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung an. Es führte aus, dass das Landgericht Frankfurt am Main ohnehin die Missachtung von Art. 1 Abs. 1 iVm. Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG im strafgerichtlichen Vorverfahren festgestellt habe. Grundrechtsverletzungen, zu denen es außerhalb der Hauptverhandlung komme, führten jedoch nicht zwingend dazu, dass auch das auf der Hauptverhandlung beruhende Strafurteil gegen Verfassungsrecht verstoße. Der Bf. habe es verabsäumt darzulegen, warum der vorliegende Verfahrensverstoß verfassungsrechtlich nicht nur ein Verwertungsverbot, sondern zwingend ein Verfahrenshindernis nach sich hätte ziehen müssen. Was die von ihm angenommene „Fernwirkung" angehe, fehle es bereits an der Erhebung einer entsprechenden Rüge vor dem BGH.
Am 20.12.2004 wurden Kriminalinspektor E. bzw. sein Vorgesetzter D. vom Landgericht Frankfurt am Main wegen Ausübung von Zwang im Amt bzw. Verleitung dazu zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Im Dezember 2005 brachte der Bf. beim Landgericht Frankfurt am Main einen Antrag auf Gewährung von Verfahrenshilfe für die Einbringung einer Amtshaftungsklage gegen das Land Hessen ein, da er seit der polizeilichen Androhung der Zufügung von Schmerzen traumatisiert und in psychiatrischer Behandlung sei. Am 28.8.2006 wies dieses den Antrag ab, da der Bf. bereits ausreichend Genugtuung durch den Beschluss vom 9.4.2003 und das Urteil vom 20.12.2004 erhalten habe.
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der Folter) und von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).
Zur Zulässigkeit der Beschwerde:
Der Bf. bringt vor, seine Vernehmung stelle eine Verletzung von Art. 3 EMRK dar, die vom Staat nicht behoben worden sei. Was die gerügte Verletzung von Art. 6 EMRK angeht, sei er zunächst in seinem Recht, sich nicht selbst zu belasten, verletzt worden. Die Folter habe einzig dazu gedient, ihn zu dem Eingeständnis, J. entführt zu haben, zu bringen. Die Verwendung der durch das Geständnis erlangten Beweise im Strafverfahren gegen ihn habe ihn seines Rechts auf effektive Verteidigung beraubt. Das Verfahren hätte daher eingestellt werden müssen. Schließlich sei ihm während seiner Befragung mit voller Absicht der Zugang zu einem Anwalt verweigert worden, damit er ein Geständnis ablege und die entscheidenden Beweismittel bekannt gebe.
1. Zum Einwand der Regierung:
Die Regierung wendet ein, der Bf. habe in Hinblick auf Art. 6 EMRK nicht den innerstaatlichen Instanzenzug ausgeschöpft. Erstens habe bereits das BVerfG festgestellt, dass der Bf. es verabsäumte näher darzulegen, warum die Verletzung seiner Grund- und Menschenrechte anlässlich seiner Vernehmung eine Fortsetzung des Strafverfahrens verbieten würde. Was die Weigerung der Gerichte anlange, die durch sein erzwungenes Geständnis erlangten Beweise nicht zu verwerten, fehle es laut dem BVerfG an der Erhebung einer entsprechenden Rüge vor dem BGH. Drittens habe der Bf. sich während des gesamten innerstaatlichen Verfahrens nie beklagt, dass bei seiner Befragung kein Anwalt zugegen war.
2. Zur Erschöpfung des Instanzenzugs:
Die Frage, ob im vorliegenden Fall dem Erfordernis der Erschöpfung des Instanzenzugs Genüge getan wurde, ist bezüglich der ersten beiden Einwände eng mit der behaupteten Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK wegen der Zulassung bestimmter Beweise verknüpft. Der GH wird diese Einwände bei der meritorischen Prüfung der Beschwerde behandeln.
Zum dritten Einwand der Regierung ist zu sagen, dass der Bf. eingeräumt hat, diese Frage nicht vor die nationalen Gerichte gebracht zu haben, weil es ihm zum Zeitpunkt des innerstaatlichen Verfahrens nicht möglich gewesen sei, die absichtliche Verweigerung des Zugangs zu seinem Anwalt zu belegen.
Der GH weist darauf hin, dass laut § 137 Abs. 1 StPO der Beschuldigte sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers bedienen kann. Er ist nicht davon überzeugt, dass es dem Bf. nicht möglich gewesen wäre, den angeblich verweigerten Zugang zu seinem Anwalt bereits während des anhängigen Strafverfahrens zu rügen. Er hat es daher verabsäumt darzulegen, dass ihm eine derartige Rüge nicht zur Verfügung gestanden ist.
Dem Einwand der Regierung ist daher stattzugeben und dieser Beschwerdepunkt wegen Versäumnisses der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:
Der Bf. bringt vor, ihm seien von der Polizei erhebliche Schmerzen zu einem Zeitpunkt angedroht worden, zu dem sie bereits vom Tod des Entführungsopfers gewusst hätte. Man habe in Wahrheit versucht, ein Geständnis von ihm herauszupressen, um den Gang der strafrechtlichen Untersuchung zu erleichtern. Er sei auch nach wie vor als Opfer einer Verletzung von Art. 3 EMRK anzusehen, da die nationalen Gerichte lediglich einen Verstoß gegen diese Konventionsbestimmung festgestellt hätten, ohne ihm angemessene Wiedergutmachung zu verschaffen. Die ohnehin bedingte strafrechtliche Verurteilung der verantwortlichen Kriminalbeamten könne daran nichts ändern. Ferner sei seine Amtshaftungsklage gegen das Land Hessen zurückgewiesen und ihm zu keiner Zeit Schadenersatz für die gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung gewährt worden.
Die Regierung bedauert die Verletzung von Art. 3 EMRK während der Vernehmung des Bf. Dies sei zu einem Zeitpunkt geschehen, wo man angenommen habe, J. wäre noch am Leben und in großer Gefahr. Im vorliegenden Fall habe der Bf. jedoch seinen Opferstatus verloren, da die deutschen Gerichte formell einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK eingeräumt hätten. Dieser habe auch rechtliche Konsequenzen gezeitigt, da das Landgericht Frankfurt am Main in seinem Beschluss vom 9.4.2003 die Verwertung nicht nur des Geständnisses des Bf., sondern auch aller nachfolgenden bis zur Hauptverhandlung erfolgten Äußerungen für unzulässig erklärt habe. Ungeachtet dessen habe der Bf. in der Hauptverhandlung neuerlich ein Geständnis abgelegt. Der GH hält eine meritorische Prüfung dieses Beschwerdepunkts für unerlässlich, der folglich für zulässig erklärt wird (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:
Der Bf. behauptet, die Zulassung der aus seinem erzwungenen Geständnis gewonnenen Beweismittel in der Hauptverhandlung, wie etwa die Autopsieergebnisse und die aufgefundenen Wagenspuren am Tatort, habe das Strafverfahren von Anfang an unfair gemacht und ihn der Möglichkeit beraubt, sich effektiv zu verteidigen. Es sei ausschließlich die Tatsache der Verwertung dieser Beweismittel gegen ihn gewesen, was ihn zur Ablegung eines Geständnisses in der Hauptverhandlung bewogen hätte. Er sei in jedem Fall bereits aufgrund einer von der Staatsanwaltschaft betriebenen Medienkampagne vorverurteilt gewesen. Sein erzwungenes Geständnis und die daraus resultierenden Beweise, die für seine Verurteilung ausschlaggebend gewesen seien, seien Folge der Anwendung von Folter entgegen § 136a StPO und Art. 3 EMRK.
Die Regierung bringt vor, das erzwungene Geständnis des Bf. sei nicht als Beweis zugelassen worden. Sein erneutes Geständnis in der Hauptverhandlung sei die entscheidende, wenn nicht sogar ausschließliche Grundlage für seine Verurteilung gewesen. Zwar sei einzuräumen, dass das Landgericht Frankfurt am Main auch durch das erste Geständnis gewonnene Beweise verwertet habe, jedoch hätten diese lediglich der Bestätigung seines Geständnisses in der Hauptverhandlung gedient. Außerdem würden weder das Völkerrecht noch die Konvention die Verwendung von in Verletzung des Art. 3 EMRK erlangten Beweisen verbieten. Dem Bf. sei es auch möglich gewesen, die Verwertung der in Frage stehenden Beweise vor Gericht anzufechten, was er auch getan habe. Darüber hinaus habe ein gewichtiges öffentliches Interesse bestanden, das Leben des Kindes zu retten und den Bf. wegen Mordes zu verurteilen, was die Verwendung von in Missachtung des Art. 3 EMRK gewonnenem Beweismaterial rechtfertige.
Der GH gelangt zu dem Ergebnis, dass dieser Teil der Beschwerde schwierige Sach- und Rechtsfragen aufwirft, die eine meritorische Erledigung erfordern. Da auch kein anderer Unzulässigkeitsgrund vorliegt, erklärt der GH diesen Beschwerdepunkt für zulässig (einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 10.4.2007, Bsw. 22978/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 72) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut
(pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/07_2/Gaefgen.pdf
Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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