Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Verlagsgruppe News GmbH gegen Österreich, Urteil vom 14.12.2006, Bsw. 76918/01.
Art. 10 EMRK, § 33 Abs. 2 MedienG - Einziehung wegen eines ehrenrührigen Zitats.
Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.956,64 für materiellen Schaden, € 5.411,69 für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. ist Medieninhaberin und Verlegerin des Wochenmagazins „News".
Im Juni 2000 genehmigte der Wiener Kulturstadtrat Peter Marboe im Rahmen der Wiener Festwochen ein Kunstprojekt Christoph Schlingensiefs. Dabei traten in einem Container Schauspieler als Asylwerber auf, über deren Abschiebung das Publikum abstimmen durfte. Die umstrittene Aktion war vor allem von Politikern der FPÖ heftig kritisiert worden.
Am 30.6.2000 veröffentlichte die Tageszeitung „Kurier" einen offenen Brief des Künstlers André Heller, in dem dieser Peter Marboe dazu gratulierte, die Aktion genehmigt zu haben. Der offene Brief enthielt unter anderem folgende Passage: „Man kann von den Haiders, Böhmdorfers, Westenthalers, Riess-Passers, Mölzers und wie diese seelenhygienisch heruntergekommenen Politemporkömmlinge und ihre sonstigen Bierzeltanimateure heißen mögen, nicht die geringste Einsicht in ihre eigene Peinlichkeit, Niedertracht und häufige Absurdität verlangen."
Daraufhin erhoben die genannten Politiker, mit Ausnahme Andreas Mölzers, gegen André Heller Privatanklage wegen übler Nachrede. Die Anklagen wurden später zurückgezogen.
Die Bf. berichtete in ihrer Ausgabe vom 7.9.2000 über diese Klage gegen André Heller. In dem Artikel wurde die erwähnte Passage aus dem offenen Brief Hellers unter Anführungszeichen wörtlich wiedergegeben. Außerdem wurden Auszüge aus der Privatanklage zitiert und darauf hingewiesen, dass die Ankläger von jener Kanzlei vertreten wurden, der bis vor kurzem der damalige Justizminister Böhmdorfer angehört hatte. Der Artikel war mit einem Foto illustriert, das Peter Westenthaler zwischen Dieter Böhmdorfer und Jörg Haider zeigte. Peter Westenthaler beantragte die Einziehung dieser Ausgabe von „News". Das LG St. Pölten gab dem Antrag am 9.10.2000 nach § 33 Abs. 2 MedienG statt. Begründend stellte das LG fest, der zitierte Textabschnitt stelle ein Werturteil dar, das den Antragsteller iSv. § 115 StGB beleidige. Die Tatsache, dass der Artikel diese Äußerung nur wiedergegeben und in neutraler Weise über diese Kritik berichtet habe, spiele in einem Verfahren nach § 33 MedienG keine Rolle. Das LG äußerte jedoch Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit Art. 10 EMRK.
Das OLG Wien bestätigte am 4.4.2001 im Ergebnis die Entscheidung des LG St. Pölten. Das OLG stellte fest, der Inhalt und die Gestaltung des Artikels insgesamt betrachtet zeige, dass die Bf. nicht bloß in neutraler Weise berichten wollte. So würde dem Kläger etwa durch den hervorgehobenen Untertitel „Niederträchtig" unterstellt, tatsächlich niederträchtig zu sein. Der Artikel habe sich daher nicht auf eine neutrale Wiedergabe des Zitats beschränkt.
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:
Die Bf. bringt vor, die Einziehung der Ausgabe ihrer Zeitschrift vom 7.9.2000 verletze sie in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung. Es ist unbestritten, dass ein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. vorliegt. Dieser war in § 33 MedienG gesetzlich vorgesehen und verfolgte das legitime Ziel des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer.
Seiner ständigen Rechtsprechung folgend wird der GH prüfen, ob die von den innerstaatlichen Gerichten vorgebrachten Gründe für den Eingriff maßgeblich und ausreichend waren und ob dieser verhältnismäßig zum verfolgten Ziel war.
Im vorliegenden Fall beinhaltete der umstrittene Artikel Auszüge aus einem offenen Brief André Hellers, in dem Peter Westenthaler und andere Politiker der FPÖ als „seelenhygienisch heruntergekommene Politemporkömmlinge" bezeichnet wurden, von denen man „nicht die geringste Einsicht in ihre eigene Peinlichkeit, Niedertracht und häufige Absurdität verlangen" könne.
Diese Äußerung kann sicher als polemisch betrachtet werden. Es ist jedoch im vorliegenden Fall von besonderer Bedeutung, dass der Artikel diese beanstandbaren Äußerungen nicht selbst machte, sondern zu ihrer weiteren Verbreitung beitrug, indem er sie zitierte. Zu diesem Zeitpunkt waren die umstrittenen Äußerungen bereits weit verbreitet, da eine andere Zeitung den offenen Brief André Hellers einige Monate zuvor veröffentlicht hatte. Die Bf. zitierte diesen Brief in einem Bericht über das gerade anhängige Verfahren gegen André Heller, das aufgrund der Beteiligung einiger Politiker der FPÖ auf der einen und einem bekannten Künstler auf der anderen Seite sicher Gegenstand des öffentlichen Interesses war. Der GH erinnert ferner daran, dass sich die Pflicht der Medien, Informationen und Ideen über alle Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu verbreiten, auch auf Berichte über gerichtliche Verfahren erstreckt. Dies gilt umso mehr, wenn sich wie im vorliegenden Fall die betroffenen Personen, wie etwa bekannte Politiker, selbst der öffentlichen Kontrolle ausgesetzt haben. Der GH stimmt dem Argument der Bf. und des Gerichts erster Instanz zu, dass eine umfassende Berichterstattung über das Verfahren wegen übler Nachrede ohne die Möglichkeit, die Leser über den eigentlichen Gegenstand dieses Verfahrens zu informieren, wesentlich eingeschränkt gewesen wäre. Unter diesen Umständen war die Wiedergabe der umstrittenen Auszüge des Briefs André Hellers für sich alleine kein gültiger Grund für die Einziehung. Angesichts der Tatsache, dass die Veröffentlichung zu einer Diskussion über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse beitrug und sich auf bekannte Politiker bezog, hätten besonders gewichtige Gründe vorgebracht werden müssen, um eine Bestrafung der Bf. für die Mithilfe an ihrer Verbreitung zu rechtfertigen. Das Gericht zweiter Instanz war der Ansicht, dass der Bericht die gebotene Neutralität vermissen ließ. Während der erste Teil des Artikels, der auch das Zitat André Hellers enthielt, noch als objektive Berichterstattung qualifiziert werden könne, würde der folgende Absatz andeuten, dass Peter Westenthaler tatsächlich „niederträchtig" sei.
Der GH kann darin keine besonders gewichtigen Gründe erkennen. Es ist sicher richtig, dass der Artikel einen eher kritischen Ansatz gegenüber dem Verfahren wegen übler Nachrede vertrat. Dies kann jedoch für sich alleine nicht die Schlussfolgerung rechtfertigen, der Artikel habe sich den Inhalt der zitierten Äußerungen zu Eigen gemacht. In diesem Zusammenhang erinnert der GH ferner daran, dass eine allgemeine Verpflichtung von Journalisten, sich systematisch und förmlich vom Inhalt eines Zitats zu distanzieren, das andere beleidigen oder provozieren oder ihren guten Ruf schädigen könnte, unvereinbar mit der Aufgabe der Presse ist, Informationen über laufende Ereignisse, Meinungen und Ideen zu verbreiten. Im vorliegenden Fall blieb der Artikel innerhalb der Grenzen akzeptabler Kommentierung eines gerichtlichen Verfahrens.
Was die Argumente des OLG Wien bezüglich des auf das Zitat folgenden Absatzes des Artikels betrifft, stellt der GH fest, dass dieser Auszüge aus der Privatanklage zitierte, die sich auf die umstrittene Äußerung bezogen. Dieser Absatz war mit dem Wort „Niederträchtig" überschrieben. Diese Form der Wiedergabe enthielt keine Andeutung, die über die Wiedergabe der Äußerung André Hellers und der Privatanklage hinausging.
In jedem Fall war die zitierte Passage eindeutig vom Rest des Artikels unterscheidbar, da sie unter Anführungszeichen gesetzt und in kursiver Schrift gedruckt war und mit den Worten „Zitat Ende" abgeschlossen wurde. Der Bericht enthielt keinen weiteren Kommentar über den Charakter von Herrn Westenthaler. Unter diesen Umständen kann der GH das Argument nicht anerkennen, der Artikel habe sich die Kritik André Hellers zu Eigen gemacht.
Da der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig war, liegt eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten der Richter Jebens und Herndl).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
€ 1.956,64 für materiellen Schaden, € 5.411,69 für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Sunday Times/GB (Nr. 2) v. 26.11.1991, A/217, NL 1992/1, 16. News Verlags GmbH Co KG/A v. 11.1.2000, NL 2000, 24; ÖJZ 2000, 394. Scharsach und News Verlagsgesellschaft/A v. 13.11.2003, NL 2003, 307; ÖJZ 2004, 512.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.12.2006, Bsw. 76918/01, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2006, 311) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/06_6/News.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
Rückverweise
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