Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Buck gegen Deutschland, Urteil vom 28.4.2005, Bsw. 41604/98.
Art. 8 EMRK - Hausdurchsuchung zur Aufklärung eines Verkehrsdelikts. Verletzung von Art. 8 EMRK (4:3 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar. € 2.000, für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Im August 1996 verhängte die Verwaltungsbehörde Dettingen eine Geldbuße in der Höhe von DEM 120, (€ 61,36) über den Sohn des Bf. Ihm wurde vorgeworfen, am 21.5.1996 am Steuer eines dem Unternehmen des Bf. gehörenden Fahrzeugs eine Geschwindigkeitsübertretung begangen zu haben. Aufgrund eines Einspruchs gegen diesen Bußgeldbescheid wurde am 12.3.1997 das Verfahren vor dem Amtsgericht Bad Urach eröffnet. Der Sohn des Bf. brachte vor, er habe das Fahrzeug zum Zeitpunkt der Radarmessung nicht gelenkt. Jeder der ca. 15 Angestellten des Unternehmens käme als Täter in Frage. Der als Zeuge vorgeladene Bf. machte von seinem Recht Gebrauch, sich als Angehöriger des Beschuldigten der Aussage zu entschlagen. Nachdem sich der Bf. am 13.3.1997 weigerte, Auskunft über seine Angestellten zu erteilen, erließ das Amtsgericht Bad Urach noch am selben Tag einen Durchsuchungsbefehl für die Geschäftsräume und die Wohnung des Bf. Die Durchsuchung sollte Aufschluss über eine mögliche Tatbegehung durch einen der Angestellten des Unternehmens des Bf. bringen.
Am Nachmittag desselben Tages wurden die Räumlichkeiten des Bf. von vier Polizisten durchsucht. Personalakten und andere Unterlagen wurden beschlagnahmt, aus denen sich die Namen von mindestens sechs Personen ergaben, die am 21.5.1996 in dem Unternehmen beschäftigt waren.
Die vom Bf. gegen die Durchsuchung erhobene Beschwerde wurde vom Landgericht Tübingen zurückgewiesen, da sie wegen der bereits erfolgten Durchführung der Durchsuchung prozessual überholt sei. Am 30.6.1997 erhob der Bf. Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) widersprach der Ansicht des Landgerichts, die Beschwerde gegen die Durchsuchung sei prozessual überholt und somit unzulässig, weil diese bereits stattgefunden hätte. Das BVerfG nahm die Beschwerde dennoch nicht zur Entscheidung an, da es die Anordnung der Durchsuchung als offensichtlich rechtmäßig ansah.
Der Sohn des Bf. wurde am 19.3.1997 vom Amtsgericht Bad Urach wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zur Zahlung einer Geldbuße von DEM 120, (€ 61,36) verurteilt. Das Gericht stützte sich auf einen Vergleich des von dem Radargerät angefertigten Fotos und einem von der Gemeinde Dettingen übermittelten Passfoto des Beschuldigten. Dieser habe eindeutig ergeben, dass der Sohn des Bf. das Fahrzeug gelenkt habe. Das dagegen erhobene Rechtsmittel blieb erfolglos.
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung der Wohnung) und Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:
Der Bf. bringt vor, die Durchsuchung seiner Geschäftsräumlichkeiten und seiner Privatwohnung habe sein Recht auf Achtung der Wohnung verletzt. Sie sei insbesondere unverhältnismäßig gewesen, da sie in Zusammenhang mit der Verfolgung einer von einer anderen Person begangenen Ordnungswidrigkeit erfolgt sei.
1. Zum Vorliegen eines Eingriffs:
Die Parteien sind sich über das Vorliegen eines Eingriffs einig. Der GH hat bereits wiederholt festgestellt, dass der Begriff der Wohnung
(home) in Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht nur Privatwohnungen umfasst, sondern auch Geschäftsräumlichkeiten. Das Recht auf Achtung der Wohnung schützt daher auch die Büros eines von einer Privatperson betriebenen Unternehmens sowie die Geschäftsräumlichkeiten einer juristischen Person.
Der Durchsuchungsbefehl des Amtsgerichts Bad Urach bezog sich auf die Privatwohnung des Bf. und auf die Geschäftsräumlichkeiten des Unternehmens, dessen Eigentümer und Geschäftsführer er ist. Hinsichtlich beider Räumlichkeiten liegt ein Eingriff in sein Recht auf Achtung der Wohnung vor.
2. Zur Rechtfertigung des Eingriffs:
Es ist daher zu prüfen, ob der Eingriff nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt war, ob er also gesetzlich vorgesehen war, ein legitimes Ziel verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, um dieses Ziel zu erreichen.
a) War der Eingriff gesetzlich vorgesehen?
Der Richter des Amtsgerichts Bad Urach war nach § 103 Abs. 1 StPO iVm. § 46 Abs. 1 Ordnungswidrigkeitengesetz, § 24 Straßenverkehrsgesetz und §§ 3 und 49 Straßenverkehrs-Ordnung ermächtigt, die Durchsuchung der Räume des Bf. anzuordnen. Der Eingriff war somit gesetzlich vorgesehen.
b) Verfolgte der Eingriff ein legitimes Ziel?
Der Begründung des Durchsuchungsbefehls des Amtsgerichts Bad Urach zufolge diente diese dazu, die Identität der Angestellten des Unternehmens des Bf. und damit der für die Geschwindigkeitsübertretung verantwortlichen Person festzustellen. Der Eingriff diente somit dem legitimen Ziel der Verhütung von Straftaten und dem Schutz der Rechte anderer, namentlich dem Recht anderer Verkehrsteilnehmer auf Schutz ihres Lebens und ihrer körperlichen Unversehrtheit.
c) War der Eingriff notwendig in einer demokratischen Gesellschaft? Der GH hat wiederholt festgestellt, dass die Vertragsstaaten zu Maßnahmen wie Durchsuchungen von Räumlichkeiten und Beschlagnahmen greifen können, um Beweismittel für bestimmte Delikte zu erlangen. Was die Verhältnismäßigkeit solcher Maßnahmen betrifft, muss der GH zuerst prüfen, ob ausreichende Sicherungen gegen Missbräuche gegeben sind. Durchsuchungen können in Deutschland nur von einem Richter unter den Voraussetzungen der StPO angeordnet werden. Nach der Rechtsprechung des BVerfG kann die Anordnung einer Durchsuchung auch noch angefochten werden, wenn diese bereits durchgeführt wurde. Im vorliegenden Fall wurde die Beschwerde des Bf. als prozessual überholt zurückgewiesen, weil die Durchsuchung bereits stattgefunden hatte. Auch wenn das Verfahren im vorliegenden Fall gewisse Mängel aufweist, können die von der deutschen Gesetzgebung und Rechtsprechung vorgesehenen Sicherungen gegen Missbräuche bei Durchsuchungen und Beschlagnahmen doch im Allgemeinen als ausreichend angesehen werden.
Was die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs betrifft, stellt der GH fest, dass es sich bei dem Delikt, zu dessen Aufklärung die Durchsuchung angeordnet wurde, nur um die Übertretung einer Verkehrsvorschrift handelte, die eine bloße Ordnungswidrigkeit darstellt.
Überdies war in dem Verfahren, in Zuge dessen die Durchsuchung angeordnet wurde, nicht der Bf. Beschuldigter, sondern dessen Sohn und somit eine dritte Person.
Die Durchsuchung wurde angeordnet, um die Rechtfertigung des Sohnes des Bf. zu überprüfen, auch andere Personen, nämlich Angestellte des Unternehmens seines Vaters, hätten das Fahrzeug zum besagten Zeitpunkt lenken können. Der Bf. hatte vor der Durchsuchung Gelegenheit, die vom Gericht gewünschten Informationen freiwillig zu übermitteln und damit die Durchsuchung zu vermeiden. Der GH stellt jedoch auch fest, dass das Amtsgericht Bad Urach die Gemeindeverwaltung von Dettingen um Übermittlung eines Passfotos des Bf. gebeten hatte. Es scheint, dass das Gericht sein Urteil nur auf einen Vergleich des Radarfotos mit dem Passfoto des Sohnes des Bf. stützte, während klare Hinweise auf eine Verwendung der bei der Durchsuchung erlangten Dokumente bei der Beweiswürdigung fehlen. Die Durchsuchung der Räumlichkeiten des Bf. war daher offensichtlich nicht der einzige Weg um festzustellen, wer für die Geschwindigkeitsübertretung verantwortlich war.
In der Begründung des Durchsuchungsbefehls finden sich keine Hinweise, warum geschäftliche Unterlagen in der Privatwohnung des Bf. zu vermuten gewesen wären. Die Anordnung war daher nicht auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt.
Was schließlich mögliche Auswirkungen auf den guten Ruf des Bf. betrifft, stellt der GH fest, dass die Durchsuchung der Wohnung und der Geschäftsräumlichkeiten des Bf. geeignet war, den guten Ruf des Bf. und den seines Unternehmens zu beeinträchtigen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Bf. selbst keiner Straftat verdächtigt wurde.
Der GH betont, dass Staaten zur Verhütung von Straftaten Maßnahmen wie Durchsuchungen und Beschlagnahmen ergreifen können, um Beweismittel zur Aufklärung von Straftaten zu erlangen, deren Täter auf andere Weise nicht festgestellt werden können. Angesichts der Schwere des damit verbundenen Eingriffs in das Recht auf Achtung der Wohnung einer davon betroffenen Person, muss eindeutig feststehen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingehalten wurde. Mit Rücksicht auf die besonderen Umstände des vorliegenden Falles, insbesondere die Tatsache, dass die Durchsuchung im Zusammenhang mit einer bloßen Ordnungswidrigkeit stand, die überdies von einer dritten Person begangen worden war, und sich auch auf die Privatwohnung des Bf. erstreckte, kann der GH den Eingriff nicht als verhältnismäßig zum verfolgten Ziel ansehen. Er begründet daher eine Verletzung von Art. 8 EMRK (4:3 Stimmen; Sondervotum der Richter Hedigan, Bîrsan und der Richterin Jäger).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:
Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 6
Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende
gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar. € 2.000, für
Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Chappell/GB v. 30.3.1989, A/152-A
Niemietz/D v. 16.12.1992, A/251-B, NL 1993/1, 17; EuGRZ 1993, 65; ÖJZ
1993, 389.
Funke/F v. 25.2.1993, A/256-A, ÖJZ 1993, 532.
Crémieux/F v. 25.2.1993, A/256-B, ÖJZ 1993, 534.
Société Colas Est u.a./F v. 16.4.2002, NL 2002, 88.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.4.2005, Bsw. 41604/98, entstammt der Zeitschrift Newsletter Menschenrechte" (NL 2005, 83) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/05_2/Buck.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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